Khalifen

[596] Khalifen und Khalifat. Nach Mohammed's Tode ging die Herrschaft über die Gläubigen an Männer über, die zugleich politische Herrscher und hohe Priester des neuen Glaubens waren, und als Nachfolger und Statthalter des Propheten den Namen Khalifen führten. Die Bekenner des Islam breiteten ihren Glauben nicht etwa wie die ersten Christen in friedlicher Weise aus, sondern mit Feuer und Schwert; sie drangen ihre Religion andern Völkern auf, waren in den Kriegen, in welche sie verwickelt wurden, siegreich, machten, Alles vor sich niederwerfend, Eroberung auf Eroberung, und gründeten binnen kurzer Zeit ein Reich, welches von den Pyrenäen bis zu den Grenzen Indiens reichte, das Khalifat. Gleich nach des Propheten Tode entstand unter seinen Anhängern Streit über die Nachfolge; Ajescha, eine von Mohammed's Witwen brachte es durch ihren Einfluß dahin, daß Ali, des Propheten Eidam, von derselben ausgeschlossen und Mohammed's Schwiegervater Abubekr, 633 n. Chr. Khalif wurde. Seine Feldherren durchzogen alles Land vom Tigris und Euphrat bis zum mittelländischen Meere. Nach Abubekr's Tode wurde Ali zum zweiten Male übergangen und Omar, unter dem die Araber Ägypten und Palästina bezwangen, zum Fürsten der Gläubigen, Emir al Mumenin, erkoren, 634. Unter seinem Nachfolger Othman, 643–654, mußte auch Persien sich vor der Tapferkeit der fanatischen Mohammedaner beugen, welche zugleich in Afrika bis an die Säulen des Hercules vordrangen, Flotten bemannten und Cypern und Rhodus verheerten. Endlich gelangte Ali, nachdem Othman 654 ermordet worden war, zum Khalifate, und eine mohammedanische Sekte, die Schiiten, welche besonders in Persien zahlreich ist, erkennt ihn, mit Übergehung Abubekr's, Omar's und Othman's, für den ersten rechtmäßigen Nachfolger des Propheten an, beweist ihm auch ganz dieselbe Ehrfurcht wie diesem selbst. Doch hatte er von Anfang an mit einer Menge von Gegnern zu kämpfen, und der mächtigste unter denselben, Moawijah, der sich in Syrien, Ägypten und einem Theile Arabiens gegen ihn behauptete, ward, nach Ali's Ermordung, 660, zum Fürsten der Gläubigen erhoben, und wählte Damascus zu seiner Hauptstadt. Mit ihm beginnen die Herrscher der berühmten ommajadischen Dynastie, unter denen die Araber Kleinasien durchzogen, 669 Konstantinopel belagerten, Turkestan heimsuchten und Khorasan bezwangen. Ihre Waffen würden noch weit furchtbarer gewesen sein, wenn sie nicht uneinig unter sich selbst geworden wären, und ihre Kräfte zersplittert hätten. Erst Abdalmelek, der 684–705 regierte, vereinigte wieder alle Stämme zu gemeinsamen Bestrebungen, und unter seinem Sohne Walid I. wurde Chowaresmien, Turkhestan, Galatien und Spanien erobert. Soliman, Walid's Bruder und Nachfolger, belagerte Konstantinopel, das sich mit Hülfe des griech. Feuers vertheidigte, vergeblich. Während die Araber einerseits auf der Südseite des Kaukasus Georgien besetzten, drangen andererseits ihre Heere von Spanien aus über die Pyrenäen in Frankreich ein und bedroheten das ganze Abendland. Aber hier stießen sie nicht auf entnervte Griechen, oder ein durch innere Zwiste zerrüttetes Volk, wie die Westgothen in Spanien, sondern auf die tapfern Franken, welche unter Karl Martell durch die Schlachten bei Tours 732 und bei Narbonne 736 ihrem weitern Vordringen ein Ziel setzten. Damals hatte aber das Reich der Khalifen seine größte Ausdehnung erreicht, als mit Merwan II., der 752 starb, die Dynastie der Ommajaden zu Ende ging und die Herrschaft an die Abassiden kam. Aber gleich nach diesem Ereignisse ging Spanien für das Khalifat verloren, weil Abdorrahman, ein Ommajade, sich von demselben unabhängig machte, und Spanien, von seiner Residenz Cordova aus, selbständig regierte. Indessen erhob sich das Khalifat unter den Abassiden zu seinem höchsten Glanz und Ruhm; unter Abu Giafar, genannt Al Mansor, d.h. der Siegreiche, wurde ein großer Theil Kleinasiens und Armenien erobert; er erbauete 764 eine neue Hauptstadt, Bagdad am Tigris. Unter ihm und seinem Nachfolger Harun al Reschid, d.h. dem Gerechten, einem Zeitgenossen Karl des Großen, denn er regierte von 786–809, erhoben sich [596] Künste und Wissenschaften unter den Arabern zu einer hohen Blüte; es wurden Städte gegründet, prächtige Palaste und großartige Wasserleitungen gebauet, Gärten angelegt; die vielen Fabriken in den gewerbsamen Städten lieferten Waaren, wie sie das christliche Abendland nicht zu erzeugen vermochte; die Bevölkerung stieg allenthalben und erhielt in zahlreichen Schulen zweckmäßigen Unterricht. Damals standen die Araber auf der höchsten Civilisationsstufe, welche sie überhaupt jemals erreicht haben. Dadurch, daß Harun sein Reich unter seine drei Söhne theilte, verlor das Khalifat an Einheit und Kraft; zwar herrschte Al Mamun von 813–833 allein, aber er war nicht stark genug, die einzelnen Länder, welche politisch vom Khalifat unabhängig zu werden strebten, im Gehorsam zu erhalten; auch war das Reich zu groß und aus zu vielen verschiedenartigen Bestandtheilen zusammengesetzt, als daß dessen Einheit auf die Dauer hätte aufrecht erhalten werden können. Schon um das Jahr 800 hatten die Agladiden in Tunis, und bald darauf die Edrisiden in Fez selbständige Reiche gegründet; Khorassan ward unter den Thaheriden unabhängig, zu derselben Zeit, als die einzelnen Religionssekten, welche sich im Schoose des Islam gebildet hatten, einander mit wüthendem Hasse verfolgten. Doch wurden damals Sicilien und Sardinien von den Arabern erobert und bis gegen die Mitte des 11. Jahrh. behauptet. Die Macht des Khalifen war also bereits geschwächt, und wurde es noch mehr, als unter Harun's drittem Sohne, Motassem Billah, die türkischen Söldner, welche die Leibwache des Khalifen bildeten, nach dessen Tode sich die Wahl des Nachfolgers anmaßten, etwa wie vormals die Prätorianer röm. Imperatoren wählten. Und da außerdem diese Türken bald untereinander in Fehden geriethen, so entstanden Unordnungen aller Art. Diesen zerrütteten Zustand benutzten einzelne Provinzen, um sich vom Verbande mit dem Khalifate abzulösen. Im I. 873 folgte in Khorassan auf die Dynastie der Thaheriden die der Soffariden; 877 wurden unter Achmed, Tulun's Sohn, einem Türken und Stifter der Tuluniden, welche bis 905 herrschten, Ägypten und Syrien selbständig; unter Moktadar Billah, 909–931, sank das Ansehen wie die Macht der Khalifen immer tiefer; Abu Mohammed Obeidallah stürzte in Tunis die Agladiden und ward Gründer der Fatimiden; in Persien wurden ums Jahr 925 die Buiden mächtig, in einem Theile Arabiens die ketzerischen Karmathen, in Mesopotamien die Hamadamiten und in Ägypten erhoben die Akschiditen ihr Haupt. Endlich erhob sich der Befehlshaber der Heere des Khalifen zum Emir al Omrah, d.h. zum Befehlshaber der Befehlshaber; er besaß daher alle wirkliche Gewalt, während der Khalif, der eigentliche Nachfolger des Propheten, zum bloßen Hohenpriester herabsank. Als solchen erkannten ihn auch die Beherrscher der unabhängig gewordenen Provinzen an, keineswegs aber als weltlichen Oberherrn. Im I. 969 unterwarf ein Fatimide, Moezleddin-Allah, Ägypten und erbaute Kairo; Machmud, Fürst von Gazna, stiftete 998 in Khorassan die Dynastie der Gazneviden, welche aber schon 1030 vom türkischen Sultan Togrul Beg gestürzt wurde. Dieser, ein gewaltiger Krieger, unterwarf dann Chowaresmien, das pers. Irak und Georgien, zog 1055 siegreich in Bagdad ein und erklärte sich zum Fürsten der Gläubigen. Also saß nun auf dem Throne der arabischen Nachfolger des Propheten ein Türke. Aber unter Togrul Beg's Neffen, Alp Arslan, gelang es mehren türk. Feldherren. Atabeks genannt, sich als selbständige Beherrscher kleiner Staaten, namentlich in Syrien, gegen den Khalifen zu behaupten, und sie sind es, mit denen die Kreuzfahrer gleich auf ihrem ersten Zuge zusammenstießen. In der zweiten Hälfte des 12. Jahrh. stürzte ein Seldschucke, Saladin, die Fatimiden, machte sich zum Sultan von Ägypten und stiftete die Dynastie der Ajubiden, die erst 1250 den Mamelucken erlag. Zu Ende desselben Jahrhunderts behaupteten seldschuckische Fürsten ihr Reich Ikonium, und dieser türk. Stamm ist es, dem das jetzige osmanische Reich (s.d.) sein Entstehen verdankt. Die mächtigen chowaresmischen Sultane, welche auch Irak erobert hatten, wurden 1230 von Dschingis-Khan's Sohne, Oktai, bezwungen, und 1258 fiel Bagdad unter dem 56. Khalifen Motazem in die Gewalt der Mongolen. Der Neffe desselben floh nach Ägypten, ward von den Mamelucken unterstützt und vererbte die Khalifenwürde auf seine Nachkommen. Den letzten desselben brachten die Türken, als diese 1517 Ägypten eroberten, nach Konstantinopel, schickten ihn jedoch später wieder in seine Heimat, wo er 1538 starb. Seit dieser Zeit machen die osmanischen Kaiser Ansprüche auf die Khalifenwürde, also auf die geistliche Oberherrschaft über sämmtliche Mohammedaner; doch wird dieselbe keineswegs von allen anerkannt, namentlich nicht von den schiitischen Persern.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 2. Leipzig 1838., S. 596-597.
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