2. Homer und die Griechen

[90] Allen jugendlichen Völkern gewährt die Mythenpoesie die Möglichkeit, im Dauernden, Konstanten, in dem verklärten Bilde der Nation selbst zu leben, ganz besonders aber verdankten die Griechen dieses Leben ihrem Homer. Darum hat auch bei keiner Nation jemals ein Dichter für Alt und Jung eine solche Stellung eingenommen. Schön sagt Plutarch77: »Homer allein hat über die Veränderlichkeit des Geschmackes der Menschen den Sieg davongetragen; er ist immer neu und in wonnevoller Jugendherrlichkeit.«

Welche Wucht das Epos schon am Ende des VII. Jahrhunderts über die Griechen hatte, erhellt am besten aus der Geschichte des Tyrannen Kleisthenes von Sikyon, welcher während seines Krieges mit Argos, abgesehen davon, daß er die Leiche eines argivischen Heros aus Sikyon wegzubringen suchte, den Rhapsoden das Auftreten in Sikyon der homerischen Gedichte wegen verbot, darum weil die Argiver und Argos hauptsächlich darin besungen waren78. Also hätte beim Konflikt eines Einzelstaates mit dem landläufigen, überall stückweise um die Wette gesungenen Nationalepos, das dessen zufällige Feinde verklärte, keine Widerlegung geholfen, sondern weil das Volk den Homer mit völligem Glauben muß aufgenommen haben, tat dies nur ein Verbot79.

Um die nämliche Zeit aber verlangte in Athen Solon von Staatswegen von den Rhapsoden den vollständigen Vortrag Homers, und die Peisistratiden folgten ihm darin nach.

Ganz unermeßlich aber wurde seine Macht, als er einmal zugestandenermaßen das Hauptbildungsmittel der Nation von Jugend an wurde. Die Griechen sind vielleicht die einzige gebildete Nation, welche schon den Kindern ein völlig objektives, sittlich sehr freies und – zum Unterschiede z.B. von den Büchern Mose und dem Schah Name – theologisch und politisch tendenzloses Weltbild beibrachte, wogegen sich dann Pythagoras, Xenophanes und (in seinen ersten beiden Büchern vom Staat) Plato viel zu spät erhoben, und so hat Homer ihnen bei weitem nicht nur die Götter gemacht, sondern wesentlich das menschlich Freie in ihnen wach gehalten oder erweckt. Zwar wurde noch außer ihm auserwählte Poesie im Jugendunterrichte verwandt, aber Ilias und Odyssee waren doch weitaus die Hauptsache. Homer wird schon in die Gründung der[90] spartanischen Staatseinrichtungen verflochten80. In Athen wird der Unterricht beim Grammatiker und beim Kitharöden, mit dem der Anfang gemacht wurde, die Knaben gleich zu ihm geführt haben81, und bei Strabo82 heißt es überhaupt von den hellenischen Städten, daß sie die Kinder zuallererst durch die Poesie erziehen lassen, nicht um eitler Unterhaltung willen, sondern um sie zur Tugend zu bilden. Daß der kriegerische Stoff dabei besonders auch das Kriegspathos erwecken sollte83, versteht sich von selbst.

Und nun ist Homer für die Griechen die Urkunde der göttlichen und menschlichen Dinge im weitesten Umfange, ihr Religionskodex, ihr Kriegslehrer, ihre alte Geschichte, an welche noch spät alle Geschichte überhaupt anknüpft, wie auch alle Geographie an ihn zu appellieren pflegt; er ist für sie weit mehr, als vorgeschriebener, patentierter Tempelgesang je hätte sein können. Bis zu den spätesten Literaten der Kaiserzeit, ja bis tief in die byzantinische Zeit herabreicht eine beständige kritische, ästhetische, antiquarische, linguistische Beschäftigung mit ihm. Man studiert seine Art, die Dinge zu benennen84, und sucht die dunklen Stellen, woran es nicht fehlt, zu erklären, wobei man freilich, wenn man keinen Bescheid weiß, wie Strabo85 bei einem solchen Anlasse sagt, bisweilen die Phantasie frei walten läßt. Es gab Leute, welche in kritischen Fragen durchaus nur ihm folgten86, und der nämliche Strabo findet es bei Anlaß einer Angabe des Schiffskataloges nötig87, zu betonen, daß man den Tatbestand berichten und die damit zu vergleichenden Worte des Dichters nur soweit in Betracht ziehen solle, als es passend sei; früher sei dessen Herrschaft über die Erziehung so groß gewesen, daß jeder seine Behauptung zu festigen meinte, wenn dabei nichts den so stark geglaubten homerischen[91] Ansprüchen über den Gegenstand widersprach. Bei den Philosophen und Antiquaren war Homer ein permanenter Anlaß zu allen möglichen Dialogen, Abhandlungen, Reflexionen, wie aus Dutzenden von Schrifttiteln hervorgeht88.

Freilich gab es Spötter wie Diogenes, der die Grammatiker bewunderte, welche die Leiden des Odysseus erforschten, ihre eigenen aber nicht kannten; aber die einseitige Beschäftigung mit dem Mythus blieb Tatsache. Es behauptete sich eine spezifische Gleichgültigkeit gegen die nichtmythische und nichthomerische Welt, und in dieser Beziehung wurde der Sänger ein wahrer Landschaden. Man liebte das Vergangene nun einmal nur als ein Typisches und hielt wenig vom Exakten. Wären die einzelnen Poleis nicht dabei interessiert gewesen, ihre Gründung, Mischung und Verfassungsgeschichte zu kennen, so hätten wir vor den Perserkriegen kaum auch nur die notdürftigste griechische Geschichte.

Auch die spätern Dichter konnten sich unter Umständen beklagen. Es gab in der spätern griechischen Zeit Leute, welche sich, um der Poesie überhaupt nichts mehr schuldig zu sein, in niedriger Weise darauf beriefen, daß man an Homer genug habe89. Das alles ist aber eben nur ein Beleg für seine enorme Wirkung, die aus unzähligen Zügen spricht, bis auf das ewige Zitieren seiner Verse, auch beim Gelage, und die philologischen Scherze, die man sich dabei erlaubte90, und bis auf die Prachtmanuskripte, welche in den Händen der Großen waren91.

Über Zoilos, die »Homergeißel«, waren die Griechen wütend, ohne Näheres von ihm zu wissen. Seine Zeit schwankt zwischen dem VI. und III. Jahrhundert v. Chr.; doch hat er wahrscheinlich unter Ptolemäos Philadelphos (285-247) geschrieben. Vielleicht war er ein Literator wie andere. Weil er aber gegen Homer schrieb, denunzierten ihn andere Literatoren dem großen, noch dazu alexandrinischen Publikum, und nun malte man ihn zu einem Scheusal des Neides aus und dichtete ihm einen[92] schmachvollen Tod an, so daß es sich nur fragte, ob er gekreuzigt, gesteinigt oder lebendig verbrannt worden sei92. Auf ihn häuften sich dann Anekdoten und Apophthegmen, und er wurde eine Metastase des Archilochos, Hipponax usw.

Man glaubte später, Homer sei sogar von den Barbaren des Ostens in ihre Sprachen übersetzt und gesungen worden, und zwar hätten nicht nur die arsakidischen Partherkönige, bei denen dies am Ende nicht ganz undenkbar wäre, sich ihn singen lassen, sondern auch bei den Indern komme dies vor93. Hier begegnete wahrscheinlich eine Verwechslung mit dem indischen Epos, welches gleichfalls durch Rhapsoden vorgetragen wurde.

Besonders die Lagiden in Alexandria und die Attaliden von Pergamon wetteiferten im Studium und der Verherrlichung Homers, und Ptolemäos Philopator ließ ihm einen Tempel errichten, in dem seine Statue von denen der sieben Städte umgeben war, die darauf Anspruch machten, seine Heimat94 zu sein.


Bei Anlaß Homers wäre nun auch ein Wort über die Parodie und Travestie zu sagen. Diese entstehen bei einem lebhaften Volk von selbst als Reaktion gegen das Feierliche in Kunst, Poesie und selbst Kultus. Der griechische Kultus schützte sich im allgemeinen davor, indem er soviel als möglich von Heiterkeit und Genuß in seinen eigenen Bereich mitaufnahm; aber seine ernsthaften Momente waren denn doch vor der Parodie nicht sicher, und Alkibiades äffte die Eleusinien nach95. In der Poesie aber war das frühste, unvermeidliche Opfer Homer, weil sich die Parodie, um möglichst viele Mitlacher zu haben, an das Bekannteste anschließen muß.

Die komische Wirkung entspringt unfehlbar aus dem Kontrast zwischen der feierlichen alten Form und dem kleinen, neuen, momentanen Inhalt, welches derselbe auch sei, ob nun neuere Figuren travestiert, unter der Maske homerischer Gestalten und in homerischer Weise handeln, wie dies in der Batrachomyomachie der Fall ist, oder ob Homers Redeweise überhaupt auf ganz beliebige Gegenstände übertragen wird96. Satirisch, d.h. einzelbezüglich braucht sie nicht zu sein; sie kann auch schon nur um des allgemeinen heitern Kontrastes selbst willen entstehen,[93] wie gerade die Batrachomyomachie, welche vielleicht von Pigres97, dem Bruder der ältern Artemisia (zur Zeit des Xerxes) gedichtet ist.

Die spätern literarischen Angaben, daß dieser oder jener der Urheber der Parodie sei, haben nur sehr bedingte Geltung. Möglicherweise hat man Homer schon ins Gesicht parodiert; jedenfalls herrscht später im ganzen griechischen Reden und Schreiben überhaupt ein unaufhörliches Anspielen auf ihn, oft bloß mit einem Wort, das jeder verstand und ergänzte, bald genau, bald mit komischer Veränderung. Wer z.B. ein Manuskript verbrannte, sagte:


»Komme herbei, o Hephäst! Denn Thetis hat deiner vonnöten!«


So Plato, als er seine Tragödien und Metrokles, als er die Vorlesungen des Theophrast verbrannte98; und der platonische Sokrates läßt es sich im Protagoras nicht entgehen, bei der Morgenaudienz im Hause des Kallias die Nekyia flüchtig zu parodieren. Die Tragiker wurden im Leben ungleich viel weniger zitiert als Homer.

Daneben aber entwickelte sich die Parodie als Kunstgattung. Ein berühmter Parodist99 war schon Hipponax, von dem später zu sprechen sein wird. Dann kam im V. Jahrhundert mit besondern parodistischen Dichtungen der Komiker Hermippos. Besonders hohen Ruhm aber genoß zur Zeit des Peloponnesischen Krieges der Thasier Hegemon100, der vermutlich neue Namen und Ereignisse in die homerischen Verse einschob, so daß sie oberflächlich wie eine Rhapsodie anzuhören waren. Mit seiner Gigantomachie bezauberte er, wie es heißt, die Athener so, daß sie an jenem Tage am meisten lachten, obwohl die Nachricht vom sizilischen Unglück angelangt war. Daß daneben die Komödie des Epicharmos, Kratinos, Aristophanes die Parodie stellenweise aufs heiterste verwandte, ist allbekannt.

Um die Zeit Philipps von Makedonien blühte neben Euboios von Paros, der die Athener schmähte, Matron, welcher der »Parodist« hieß. Dieser wandte in seinem »Gastmahl beim Rhetor Xenokles«101 nur die Sprache Homers, nämlich dessen Redeweisen, Ephitheta und auch ganze Verse auf einen ganz modernen Gegenstand an; es war eine der zierlichsten[94] und harmlosesten Verwendungen. Im III. Jahrhundert parodierte dann der Kyniker Krates102 neben Homer auch die Elegien Solons.

Aus Homers Nekyia endlich stammt insbesondere alle komische Behandlung des Hades; schon die Frösche des Aristophanes wären ohne sie nicht denkbar103.[95]


Quelle:
Jakob Burckhardt: Gesammelte Werke. Darmstadt 1957, Band 7, S. XC90-XCVI96.
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