Einleitung.

Willst du genau erfahren, was sich ziemt,

So frage nur bei edlen Frauen an.

Goethe.


1. Was ist Sitte? Sitte ist der durch Takt und Ueberlieferung gebildete Begriff gesellschaftlicher Formen, der von einer bestimmten menschlichen Gemeinschaft – sei es ein Staat, ein Land, eine Provinz oder ein gewisser Kreis – als Norm für den Umgang untereinander angenommen worden ist. Sobald der Mensch begann, gesellig zusammenzuleben, sobald er anfing, in Hütten oder Pfahlbauten zu wohnen und ein Familienleben zu führen, das ihn zum Herrn seiner vier Wände, zum Besitzer einer oder mehrerer Frauen machte und ihm das Gefühl von Pflicht, Verantwortung, aber noch stärker das seiner Rechte erweckte, entstand die Sitte aus der Rücksichtnahme auf den Besitz des Nächsten, aus Gebräuchen bei frohen und traurigen Familienfesten, aus frommen und abergläubischen Verrichtungen beim Beginn oder Ende eines Kriegszuges; auch der primitive, nur nach mündlicher Ueberlieferung ausgeführte Gottesdienst, »so wie die Väter es thaten«, ist eine Sitte. Bei den einfachsten Naturvölkern, die gleichsam in den Tag hineinzuleben scheinen, nicht mehr arbeiten, als unbedingt zur Erhaltung des Lebens nötig ist, deren Moral und sittliche Anschauung uns unverständlich, oft fast pervers vorkommen, findet man den Anfang eines Sittenkodex: Bedingungen bei gewissen Gebräuchen, Ehrenbezeugungen, Opfer oder Strafen als Folge bestimmter Handlungen und Ereignisse, die streng innegehalten und deren Verletzungen meistens schärfer geahndet werden, als es im Verhältnis zur Schwere der That nötig scheint.

[1] 2. Notwendigkeit der Sittengesetze. Eine menschliche Gesellschaft ohne Sittengesetze ist undenkbar; je kultivierter ein Staat wird, desto schärfer bilden sich die Begriffe über das, was Sitte ist, aus und überall gründet sich das Recht und seine geschriebenen oder noch mündlich überlieferten Gesetze auf die alten, dem Volk zu Fleisch und Blut gewordenen Anschauungen der Sitte. Die ersten Dichter, die einem Volke entstehen, besingen die überlieferten Gebräuche, die man im Kriegs- und Familienleben befolgte, und verherrlichen den, der seiner Väter Sitten inne hält, wie sie den verdammen, der den eignen Weg geht, fernab von Herkommen und Gesetz. Die Skaldenlieder der älteren Edda schildern die Kriegszüge samt den herkömmlichen Arten des Kampfes und der Waffen. In der »Ilias« und »Odyssee« sehen wir, wie der Dichter – und mit ihm sein Volk – voll Verachtung auf den rohen Naturzustand der Länder und Stämme hinabblickt, die weder bestimmte Rechtssatzungen haben, noch ratschaffende Märkte, auf denen der freie Mann spricht, nachdem er sich den Stab des Heroldes erbeten hat; aber er darf nicht mit vermessenen Worten reden, noch den Fürsten in unziemlicher Weise schelten. Welch einen strengen Geist zeigt das Leben und die Sitte der Römer von Anfang an! Frau und Kinder gehörten dem Mann, seine Härte gegen sie konnte nur durch natürliche Liebe, nicht durch Gesetze gemildert werden. Alle Rechtsordnungen waren mitleidslos, wenn auch ohne Grausamkeit. Und das Volk, das wie kein anderes seinem Gesetz gehorchte und nach der vorgeschriebenen Sitte lebte, konnte einst herrschen, wie kein anderes. Vom Ismael sagte der Engel zur Hagar: »er wird ein wilder Mensch sein; seine Hand wider jedermann und jedermanns Hand wider ihn; und wird gegen allen seinen Brüdern wohnen.« Und Esau, der das Vorrecht der Erstgeburt verachtete und um ein Linsengericht verkaufte, büßte damit den rechten Segen seines Vaters ein. Gautama faßt den Kern der buddhistischen Lehre in die Worte zusammen:

»Von jedem üblen Thun ablassen,

»Die Tugend erlangen,

»Das eigene Herz zu reinigen,

»Das ist die Religion der Buddhas.«

Brahma lehrte seinen Sohn Menu, daß Gesetze ohne Sitten fruchtlos sind, das heißt, Gesetze dürfen nicht nur dem Wortlaut nach erfüllt und gehandhabt werden, sie müssen sich auf die Moral gründen und ein Ausfluß der Ansichten und Ueberzeugungen des einzelnen sein. Im Koran stehen fast mehr Gesetze für das bürgerliche Familienleben, als für die Religion, es heißt an einer Stelle: »Jedes Volk hat zwar eine bestimmte Richtung, wohin es sein Gesicht wendet, wendet ihr euch aber zu dem Bessern.« Man kann darunter verstehen, daß jedes Volk seine besondere Art der Lebensweise und -Form hat und daß es wünschenswert ist, sich die beste, am höchsten entwickelte anzueignen.

[2] 3. Verschiedenartigkeit der Sittengesetze. Wie verschieden bei den Völkern der Erde das ist, was man unter »Sitte« versteht, kann hier nicht betrachtet werden. Die Südsee-Insulaner, die dem Fremdling als Gastgeschenk die Liebe der eigenen Frau anbieten, befolgen damit die herrschende Sitte ebenso genau, wie der höfliche Spanier die seine, wenn er dem Gaste alles, aber auch alles im Hause zur Verfügung stellt, und wie der Javaner, der, wenn sein Sultan ihn ruft, sich das Antlitz gelb, die Zähne schwarz färbt. Man braucht nicht einmal so weit zu suchen, um Unterschiede der herrschenden Sitte festzustellen; in Europa folgt fast jedes Land, in diesem wieder die einzelne Provinz oder geographisch getrennt liegende Teile an deren Vorschriften; z.B. grüßt die englische Dame den Herrn zuerst und erteilt ihm damit die Erlaubnis, vor ihr den Hut zu ziehen, während die Deutsche den Gruß des Herrn abwartet und sich dankend verneigt. So kann man größere und kleinere Unterschiede in der Sitte überall verfolgen und im eignen Lande, ja, in verschiedenen Kreisen trifft man zuweilen auf befremdende Abweichungen: in Schlesien wünscht man vor dem Essen »Gesegnete Mahlzeit«, in Norddeutschland hinterher; in Kreisen, die von besonders stark ausgeprägtem Korpsgeist beherrscht werden, wie z.B. in Offizierskreisen haben sich gewisse Formen und Gebrauche bei der Ansprache, bei Besuchen, dem Umgang mit Damen u.s.w. herausgebildet, die anderen, auch zur Gesellschaft gehörenden Kreisen fast fremd sind, oder deren strenge Innehaltung als übertriebene Höflichkeit empfunden wird. Sehr mit Unrecht. Zu höflich kann man nie sein, es kommt nur darauf an, Benehmen und Manieren nicht durch Geckentum lächerlich zu machen: »c'est le ton qui fait la musique«.

[3] 4. Internationaler Umgangston. Unter den Gebildeten aller Völker und Nationen hat sich allmählich ein Umgangston entwickelt, der als international betrachtet werden kann und dem Fremden in der Gesellschaft Anerkennung verschafft, wie der geheimnisvolle Gruß des Freimaurers. Aus seinem sichern, gewandten Benehmen, seinen taktvollen und maßhaltenden Reden, seinen Manieren im Salon und bei Tisch schließt der Gebildete auf die Erziehung des andern, auf die Kreise, in denen er sich sonst bewegt, und die Art des Umgangs, die er zu Hause pflegen wird. Man kann und wird niemals verlangen, daß der Fremde oder Ausländer die kleinen in einem Lande gebräuchlichen Sitten kennen und erfüllen kann; aber die allgemeine gute Erziehung, die ihn vor jedem argen Verstoß gegen den unter Gebildeten eingebürgerten Ton beschützen wird, genügt vollständig als Freibrief.

[4] 5. Die Frau als Hüterin der Sitte. Am schnellsten und sichersten urteilt eine Frau darüber, wes Geistes Kind der Fremde ist. Die Pflege der Sitte und die gründliche Kenntnis der speziellen Eigentümlichkeiten werden und wurden überall in der Welt von den Frauen betrieben. Selbst bei den orientalischen Völkern, bei denen die Frau in enger Abgeschlossenheit lebt und wie eine Sklavin gekauft und verkauft wird, ist die Frau die Hüterin der Sitte. Auch im Altertum tritt sie in die Oeffentlichkeit als Priesterin, und ehe durch das Vaterrecht das Privateigentum entstand, war durch das »Mutterrecht« das Erbe der Frau nur Besitz der Kinder, nicht des Mannes; nach kinderloser Ehe fiel ihr Eigentum an ihren Stamm zurück. Von allen Völkern war bei den Germanen die Frau am geehrtesten und die im Untergang begriffenen Römer bewunderten ihre Keuschheit und Würde und die hohe Stellung, die ihr am Herde des Mannes eingeräumt war. In Rom und Griechenland haben dagegen nur einzelne Frauen Einfluß und Beachtung gewonnen. Die Wahrsagerinnen im Tempel der Pythia beeinflußten Jahrhunderte lang die griechische Welt und aus den Büchern der Sibyllinnen ließ der römische Senat noch unter Julianus Apostata, also 400 Jahre nach Christus, seine Weisheit schöpfen. An Namen wie Aspasia, Kleopatra, Hippia und anderer verknüpfen sich für die Stellung der Frau nicht sehr schmeichelhafte Erinnerungen, trotz der Berühmtheit, die diese Namen in der Geschichte erreicht haben. Von welcher Glorie umgeben sind dagegen für uns die Gestalten der Thusnelda und später der christlichen Märtyrerinnen, Frauen, die für ihr Vaterland und für ihren Glauben starben und litten!

[5] 6. Stellung der Frau im Mittelalter. Fast Jahrhunderte lang ist dann in den Geschichtstafeln wenig Persönliches über die Frau verzeichnet. Das starre Christentum bannte sie ins Haus, die Frauen hatten »in Kirche und Schule« zu schweigen. Aber sie wurden zu unumschränkten Gebieterinnen in den Burgen der Ritter und in den Häusern der immer mehr aufblühenden Städte. In vornehmen Familien entzog man ihnen allerdings bald die Erziehung der Kinder und vertraute diese den Klöstern an. Die Kreuzzüge gestalteten alle staatlichen und bürgerlichen Verhältnisse um; gesund, frisch und köstlich realistisch hebt sich aus dieser Zeit die naive Episode der Weibertreue zu Weinsberg heraus. Schon um jene Zeit hatte die Ritterschaft ihre Anschauungen der rauhen Faust- und Raubrechte mehr und mehr abgestreift. Das abenteuerliche Leben der Kreuzzüge, das den Blick erweiterte und den Sinn höheren Bestrebungen, idealem Wollen öffnete, erschuf eine Ritterlichkeit, die sehr rasch romantische Formen annahm und neue Gesichtspunkte eröffnete. Minnesänger, Troubadours, Trouvères, Minstrels und fahrende Sänger verherrlichten die Liebe. Zum Ritter gehörte die ritterlich geliebte Dame, gleichviel ob sie sein Gemahl, eine fremde Schöne oder auch nur eine Illusion war, die er aus der Ferne anbetete und mit deren Farben er in den Krieg ging. Festspiele und Turniere wurden zu Ehren schöner Frauen veranstaltet; die Liebe und besonders die heimliche, die hoffnungslose und unglückliche Liebe war der Gegenstand der Kämpfe und Lieder. Die geliebte Angebetete wurde höher gestellt, als der irdischen Begierde gestattet war, sie zu erreichen. In diesem romantischen Zeitalter mag es die Frau sehr gut gehabt haben. Aber diese Zeit veredelte sie nicht nur äußerlich. Die wegen aller Tugenden Besungene mehrte und lehrte die Sitte und die Vergötterung und angedichtete Verfeinerung weckte die zarten Triebe hoher weiblicher Feinfühligkeit, die, wenn sie auch nicht immer ausgelöst werden, doch latent in jedem Weibe schlummern. Die Zeit der Aesthetik ging nun Hand in Hand mit der Ethik. Die Vornehmheit der Gesittung bedingte unwillkürlich die Vornehmheit der Gesinnung. Aber schließlich zersplitterte sich auch die Ritterlichkeit der Männer in leere Formen und ging in lächerlichen Uebertreibungen unter. Die »Frauenminne« mußte, wenigstens in dieser Verherrlichung, hinter neuen Interessen zurücktreten. Die nächsten Jahrhunderte waren reich an wichtigen Erfindungen und Entdeckungen – von berühmten Frauen bewahren sie uns nur die Erinnerung an die Jungfrau von Orleans, an Katharina Bora und Philippine Welser, auch an Elisabeth von England und Maria Stuart, doch von letzteren kann mit Recht gesagt werden, was von den griechischen Helden gesagt wird: wo wären sie ohne Homer? Ihren Sängern Preis und Ehre!

[6] 7. Hervortreten der Frau in neuerer Zeit. Auch während der Schrecknisse des dreißigjährigen Krieges fand die Frau wenig Beachtung und noch weniger Gelegenheit, aus den engen vier Wänden herauszutreten und Anteil an Handel und Wandel zu nehmen. Und wo sie das schützende Dach des Hauses oder Klosters verließ, war es sicher nur zu ihrem Schaden. Noch einmal blühte für die Frau eine kurze Zeit der Anbetung, wenn diese auch durchaus nicht mehr die platonischen Formen der Troubadour-Zeiten bewahrte: aber unter Ludwig XIV. und XV. galten Frauenschönheit und -geist über alles und der Frau wurde noch einmal die führende Rolle zuerteilt. Die umwälzende französische Revolution riß die Frau zum erstenmal in politische Wirren hinein, und die Frauen, die ihre Rechte vor der Kommune mit den Worten begründeten: »Hat die Frau das Recht, das Schafott zu besteigen, so muß sie auch das Recht haben, die Tribüne zu besteigen«, sind die Begründerinnen der sogenannten »Frauenbewegung« geworden. Das letzte Jahrhundert hat die Stellung der Frau verändert. Sie kann nicht mehr nur die Hüterin des Hauses, die Erzieherin der Kinder, die Bewahrerin der Sitte sein; ihre Arbeitskraft wird gefordert, sie nimmt Anteil an Handel und Industrie und ihrem Eifer und ihrer Pflichttreue wie ihrem Anpassungsvermögen gelingt es, eine Schranke des Vorurteils nach der andern einzureißen. Die Frau wird und muß neben dem Manne arbeiten. Die Notwendigkeit zwingt sie, sich nach Arbeitsfeldern umzusehen, die außerhalb ihrer »eigentlichen Sphäre« liegen, als welche ja noch immer Haus und Wirtschaft angesehen werden. Historisch nicht ganz mit Recht. Denn bei vielen Völkern, auch bei den alten Germanen, nahm die Frau teil am Ackerbau, und grobe Arbeiten wie Bierbrauen, Brot backen u.s.w. gehörten zu ihrem Revier.

[7] 8. Neue Stellung der Frau. Mag man über die neue Stellung der Frau denken, wie man will: sie ist keinem falschen Ehrgeiz, keiner Eitelkeit und Rechthaberei entsprungen, sondern der Notwendigkeit. Und alle ängstlichen Befürchtungen, die Frau würde alle Reize der Weiblichkeit einbüßen, sind grundlos. Wieviel Frauen sind nicht auch sonst verkümmert in unglücklicher Ehe oder in thatenlosem Hindämmern! Die Frau aber, die die Kraft in sich fühlt, neben dem Mann zu arbeiten, soll es wagen; sie wird weder die Männer verdrängen, noch das Wesen der Frau vernichten. Das ewig Weibliche ihrer Natur schützt sie vor sich selbst. Denn durch die Seele der Frau geht die große Bewegung aller Menschenherzen in schöpferischer Liebe weiter. Sie bleibt die Mutter der Welt, die die Schöpfung trägt. Und so lange die Mutter noch Einfluß auf das Kind, die Frau auf den Mann und Geliebten hat, lenkt die Frau die menschliche Gesellschaft und ihrem Wort, ihrem Beispiel und ihrer Sitte unterwirft sich der Kreis, dem sie angehört. Sie ist die schwingende Saite – sie giebt den Ton an.

Quelle:
Baudissin, Wolf Graf und Eva Gräfin: Spemanns goldenes Buch der Sitte. Berlin, Stuttgart [1901], S. 1-8.
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