1

[279] Am 1. September 1864 erschien die erste Nummer der »Neuen Freien Presse«. Max Friedlaender und Michael Etienne, die Begründer des neuen Blattes, waren die Seele von August Zangs »Presse« gewesen. In seiner knickerigen Kurzsichtigkeit hatte Zang diese Seele entweichen lassen, und wir andern Seelchen flogen ihr fröhlich nach. Der etwas langatmige Titel des neuen Blattes rührt daher, daß Zang, sobald er von Friedlaenders Plan Wind bekam, sofort bei der Regierung zwei von ihm projektierte neue Zeitungen anmeldete, betitelt: »Neue Presse« und »Freie Presse«. Diese beiden Titel, welche Friedlaender vorgeschwebt, waren nun durch Zang – der natürlich an ihre Realisierung gar nicht dachte – vorweggenommen, und es blieb nur der stärker instrumentierte: »Neue Freie Presse«. Ich atmete erleichtert auf, ganz glücklich darüber, mit zwei wissenschaftlich gebildeten, geistreichen und wohlwollenden Chefs arbeiten zu dürfen. In Wahrheit: ein neues freies Leben! Etienne und Friedlaender – sie waren einander so unähnlich wie möglich, aber ihre Charaktere und Fähigkeiten ergänzten sich ganz unvergleichlich, und wo sie zusammenwirkten, da »gab es einen guten Klang«. Friedlaender, ein Ostpreuße, Doktor der Rechte: durchdringender, klarer Verstand, ruhig, maßvoll, schweigsam – neben ihm der gewaltige und gewaltsame Etienne, in welchem sich österreichisches und französisches Blut zu lebhaftestem Temperament mischten: phantasievoll, aufbrausend und gutmütig. Wenn ich Friedlaender ein Anliegen vortrug, pflegte er statt aller Zwischenfragen oder Einwendungen ein einziges Wort zu erwidern: »Abgemacht«. Brachte man aber Etienne irgendetwas ihm nicht ganz Passendes[279] vor, so konnte er auflodern und mit dem Donner seiner Stimme das ganze Redaktionslokal erfüllen. Man brauchte ihn aber nur ein Weilchen ausdonnern zu lassen und hatte wieder den gutmütigsten, gefälligsten Menschen vor sich. Gegensätze in ihrem Äußeren und ihrem Temperament, unterschieden sich die beiden auch in ihrem Stil. Aus Friedlaenders Aufsätzen blickte das helle, scharfe Auge des geschulten Juristen; Etienne hatte in seiner phantasievollen Beredtsamkeit stets etwas vom Künstler, vom Poeten. Vollkommen einig standen aber beide in ihrer politischen Überzeugung, ihrer freiheitlichen und deutschen Gesinnung, endlich in dem rastlosen Eifer, ihr Blatt mit echten Mitteln zur größtmöglichen Bedeutung zu erheben. Diesem Eifer sind beide im rüstigsten Mannesalter erlegen. Es gibt kaum eine grausamere, aufreibendere Tätigkeit als die eines leitenden politischen Journalisten in unseren Tagen. Was wußte die gute alte Zeit davon, mit ihren dreimal in der Woche erscheinenden Blättchen! Wie ruhig segelten diese bei steter Windstille auf glattem Spiegel dahin, ohne Leitartikel, ohne Telegramme, mit ihrer leichten Fracht von Theaterkritiken, Hof- und Stadtnachrichten, Anekdoten und »Allerlei«! Heute ist der Leiter eines politischen Journals ein gehetztes Wild, ein Sklave, der keine Stunde lang sich selbst und seiner Familie angehört, ein Mann, dem immer der Kopf brennt und der doch immer hellen Geistes à la minute produktiv und jeder Überraschung gewärtig sein muß. Selbst ein vielbeschäftigter Arzt, dessen aufreibende Tätigkeit jener vielleicht am nächsten kommt, unterliegt nicht so furchtbar raschem Verbrennungsprozeß des Gehirns und der Nerven. Je länger die Zeitungen geworden sind, desto kürzer das Leben ihrer Schöpfer. Mit dem Hinscheiden von Friedlaender und Etienne, welche das Blatt so schnell zur höchsten Blüte gebracht, befürchteten manche ein Sinken der »Neuen Freien Presse«. Das Gegenteil trat ein. Die Abonnentenzahl und der Einfluß der Zeitung stiegen von Jahr zu Jahr. Aus dem Kreise der Mitarbeiter gelangten Dr. Bacher und Moriz Benedikt an die Spitze des Blattes, zwei Männer von ebenso großem Talent und Wissen wie außerordentlicher Arbeitskraft. Es geziemt mir, dankbar der wohlwollenden Rücksicht zu gedenken, welche sie mir stets angedeihen ließen und bis zur Stunde bewahren. Ich bin einer von den drei einzigen Mitarbeitern der »Neuen Freien Presse«, die seit dem ersten Tage bis heute darin tätig sind. Der Tod hat in diesen dreißig Jahren vielehinweggerafft: Etienne und Friedlaender, Johannes Nordmann, Moritz Hartmann, die Humoristen Karl Bauernschmied und Daniel Spitzer.

Einige Lockungen zum Übertritt in andere Blätter sind nicht ausgeblieben. Nach dem Tode von Dr. Ambros sollte ich zur »Wiener Zeitung« übergehen, später wiederum zu andern neu aufgetauchten Journalen, welche goldene Berge versprachen, aber bald selber im Graben lagen. Ich fühlte nicht die mindeste Versuchung. Wie Renan, als Mitarbeiter des »Journal des Débats«, unter ähnlichen Umständen ausrief: »Pour aucune raison au monde on ne quitte pas le Journal des Débats,« so antworte ich: »Von der Neuen Freien Presse scheidet man um keinen Preis!«

Quelle:
Hanslick, Eduard: Aus meinem Leben. Kassel, Basel 1987, S. 279-282.
Lizenz: