XVIII.

Berlin.

[234] Nach Berlin zu kommen gab es für mich, solange ich im Amt blieb, eigentlich nur eine einzige Möglichkeit: die Aufnahme ins Kammergericht. Mit ihr war aber kaum zu rechnen. Es galt für einen auswärtigen Richter als sehr schwierig, eine Beförderung dahin zu erreichen, und es war jedenfalls unabsehbar lange her, seit einmal einem Ostpreussen eine solche Gunst erwiesen sein mochte. Alle meine guten Freunde und Gönner meinten aber, ich gehöre dorthin.

Zu ihnen zählte an oberster Stelle auch der Kanzler v. Gossler. Es machte ihm Vergnügen, die Wochenrepertoire der Berliner Theater durchzusehen und meinen Namen da zu finden. Er hielt mich aber auch für einen tüchtigen Juristen, dem wohl zugetraut werden könne, dass er einem höheren Posten keine Unehre bereiten würde. So konnte ich beim Stadtgericht ruhig abwarten, bis einmal die Reihe an mich käme, und that das um so lieber, als es mir selbst sehr zweifelhaft war, ob mir eine Veränderung meiner Lage wünschenswert sein dürfe.

Eines Tages im Oktober 1873 kam er ganz aufgeregt zu mir, um mir mitzuteilen, dass jetzt einige Vakanzen beim Kammergericht wären, und mich aufzufordern, schleunigst nach Berlin zu fahren und mich dem Minister und dem[235] Kammergerichtspräsidenten v. Strampff vorzustellen. Ich war sehr überrascht und wendete ein, meine Anciennität als Richter berechtige mich ja noch lange nicht zu solcher Meldung. Er sprach aber sehr gütig die Meinung aus, eine Bevorzugung scheine ihm in diesem Falle ganz an der Stelle zu sein, und gab mir zu verstehen, dass es ihm schwer werden müsste, zu meinen Gunsten einzutreten, wenn ich selbst für mich nichts thun wolle. Nun konnte ich unmöglich ablehnen. Ich bat ihn, mir wenigstens eine schriftliche Empfehlung mitzugeben; er hielt dies jedoch nicht für erforderlich und sagte, ich möchte nur seinem alten Freunde, Herrn v. Strampff, einen Gruss von ihm bestellen, dann werde sich das weitere finden.

Sehr ungläubig fuhr ich in der nächsten Nacht wirklich nach Berlin. Sie war empfindlich kalt. Nur um Erkundigung einzuziehen, wann ich wohl den Herrn Präsidenten am besten sprechen könnte, ging ich, wie ich aus dem Eisenbahnwagen gestiegen war, schon morgens vor neun Uhr nach dem Kammergericht und suchte den Boten im Vorzimmer auf. Ich fand ihn da im Gespräch mit einem kleinen Herrn, den ich für einen Bureaubeamten oder Kanzlisten hielt, und stellte an ihn meine Frage. Ich begriff nicht, weshalb er offenbar sehr verlegen mit der Antwort zögerte, und wiederholte meine Erkundigung lauter. Darauf wendete der kleine Herr sich mir mit verdriesslichem Gesicht zu und sagte: Was wollen Sie denn von dem Präsidenten? Der bin ich selbst. Nun war an mir die Reihe verlegen zu werden. Ich sah auf meinen Überzieher und meine Gummischuhe hinab, die mir so gar kein visitenmässiges Aussehen gaben, stellte mich vor, entschuldigte mich wegen der unbeabsichtigten Störung und bat, mir nur die Stunde zu nennen, in der ich ihm genehm kommen würde. Das liesse sich ja auch sogleich abmachen, antwortete er mürrisch. Was ich denn wünsche? Es war mir ärgerlich, dass er mich nicht einmal in sein Zimmer nötigte und in Gegenwart des Boten verhörte; aber[236] es blieb mir nun doch nichts übrig, als den Grund meines Besuches anzuzeigen und den Gruss des Herrn Kanzlers zu bestellen. Es sei für mich gar keine Aussicht, entgegnete er; ich sei überhaupt noch nicht an der Reihe, und man habe (was ebenso unzweifelhaft richtig war) ganz in der Nähe beim Berliner Stadtgericht Räte, die als vorzügliche Juristen bekannt seien und schon lange auf die Beförderung an's Kammergericht warteten. Warum ich denn durchaus nach Berlin wolle? Bei anderen Obergerichten würde mir's leichter werden. Da musste ich denn mit der Sprache heraus. Es sei Excellenz vielleicht nicht unbekannt geblieben, bemerkte ich etwas zaghaft, dass ich auch als Schriftsteller thätig gewesen; es müsse mir daher von Bedeutung sein, im Zentrum der literarischen Bewegung ... Meine Lustspiele – jetzt im königlichen Schauspielhause ›Ein Schritt vom Wege‹ ... »Ach!« unterbrach er mich, »zum Lustspielschreiben haben wir hier keine Zeit.« Wir! und keine Zeit! Ich glaubte ausreichend informiert zu sein und empfahl mich. Aus vollem Halse lachend trat ich bei Richard Wüerst ein, der damals dicht hinter dem Kammergericht in der Hollmannstrasse wohnte, und erzählte, was mir begegnet war. Ein zufällig anwesender Journalist hörte zu und brachte die Anekdote brühwarm in eine Berliner Zeitung. Damit verbesserten sich meine Aussichten schwerlich. Es gab, wie ich erfuhr, unter den Berliner Kollegen nicht wenige, die für die unfreiwillige Komik der präsidentlichen Äusserung kein Verständnis hatten und sich nur darüber freuten, dass einer aus der Provinz so schneidig abgefertigt sei.

Ich war nun wenigstens sicher, nicht noch einmal nach Berlin geschickt zu werden. Meiner literarischen Thätigkeit mochte es am erspriesslichsten sein, wenn ich da im Amte blieb, wo es mir die ruhigste Arbeit sicherte, und ich dachte am wenigsten daran, Königsberg mit irgend einer anderen Provinzialstadt zu vertauschen, nur um zum Appellationsgerichtsrat befördert zu werden. Wie der Kanzler dann[237] doch vier Jahre darauf die Gelegenheit benutzte, mich an das Ostpreussische Tribunal, spätere Oberlandesgericht, zu ziehen, ist schon erwähnt. Ich arbeitete mich auch dort so ein, dass meine amtlichen Geschäfte mich nicht hinderten, schriftstellerischen Neigungen nachzugehen, und das kollegialische Verhältnis war so angenehm, meine ganze Stellung in der Bürgerschaft so erfreulich, dass ich mich allen Ernstes mit dem Gedanken vertraut machte, hier nun schon bis an mein Lebensende zu bleiben. Im Mittelpunkt der literarischen Bewegung, der immer mehr Berlin wurde, stand ich da freilich nicht, und es mochte zu befürchten sein, dass ich, so auf mich selbst gestellt und in zu einseitiger Richtung fortschaffend, zuletzt alle Fühlung mit den Berufsgenossen von der Feder und mit dem grossstädtischen Theaterpublikum verlor.

Endlich bin ich dann doch – 1. Januar 1888 – nach Berlin und an's Kammergericht versetzt worden und – habe da sogar auch zum Lustspielschreiben Zeit gehabt. Präsident dieses Gerichts war nun Herr v. Oehlschläger (jetzt Reichsgerichtspräsident), ein lieber Studiengenosse von mir; der Senatspräsident Frech, unter dem ich ein paar Jahre gearbeitet hatte, bot mir aufs Freundschaftlichste seine Vermittelung an. So that ich, nicht ohne schwere Bedenken, in schon vorgeschrittenen Jahren eine höchst befriedigende Lebensstellung gegen die unsicheren Vorteile des grossstädtischen Aufenthalts in ganz fremden amtlichen und ausseramtlichen Verhältnissen zu vertauschen, die erforderlichen Schritte. Der Kanzler v. Holleben, selbst lange Zeit beim Kammergericht thätig gewesen, hatte mir nicht vorenthalten, dass die besonderen Umstände dort bei dem fortwährenden Anwachsen der Stadt eine grosse Arbeitslast bedingten, die Sitzungen lang und sehr anstrengend seien. »Bilder werden Sie da schwerlich malen können,« sagte er scherzend. Er täuschte sich doch. Ich setzte auch hier, als ich im dritten Senat erst festen Boden gefasst hatte (was[238] freilich nicht ganz leicht war, da ich mir das märkische Ehe- und Erbrecht aneignen musste), diese dilettantische Kunstübung mit ungeschwächter Neigung fort und fand die hiesigen Herren Kollegen ebenso bereit, sich der allmählich nach Hunderten zählenden Blättchen anzunehmen. Mein literarischer Vorfahr im Kammergericht, Theodor Amadeus Hoffmann, zeichnete in den Sitzungen bekanntlich gern Karikaturen; meine Liebhaberei, die Landschaft, war harmloser.

Das Scheiden von Königsberg, wo ich die letzten 25 Jahre ohne Unterbrechung zugebracht hatte, wurde mir recht schwer gemacht. Im Kränzchen las ich meine Novelle »Galeotto in Deutschland«, eben erst fertig geworden, und Freund Bohn hielt mir tief bewegt bei Tisch die Abschiedsrede. Er war damals schon sehr krank und starb nach wenigen Monaten, für mich eine um so wehmütigere Erinnerung. Der Kanzler lud uns zu Mittag und zu Abend ein und hatte Freunde (Felix Dahn und Konsistorialrat Hase mit den Frauen) und liebe Kollegen zugezogen. Dann entliess mich das Oberlandesgericht feierlich. Das Theater gab als Abschiedsvorstellung »Ein Schritt vom Wege« (der Titel hätte mir leicht ominös erscheinen können), und die Überreichung eines radgrossen Lorbeerkranzes veranlasste mich dabei zu Dankesworten an das Publikum, das mir so lange treu gewesen. Der Sängerverein widmete mir mit einer warmen Ansprache seines Ordners, Justizrat Alscher, einen Pokal mit Inschrift, der Künstlerverein ernannte mich zu seinem Ehrenmitgliede und erfreute mich durch ein Album mit den Photographieen seiner Mitglieder. Endlich war mir eine grosse Abschiedsfeier in der deutschen Ressource veranstaltet, bei der lebende Bilder, auf meine Werke bezüglich, gestellt und durch Verse, von Redakteur E. Krause gedichtet, eingeleitet wurden. Felix Dahn trug ein schönes Gedicht vor, der Sängerverein sang einige Lieder, an Toasten, die Kanzler v. Holleben mit dem auf den Kaiser eröffnete und Oberbürgermeister Selke mit der an mich gerichteten Rede fortsetzte, fehlte es nicht[239] Freund Berthold, mit dessen trefflicher Frau uns auch innigste Freundschaft verband, hatte sich bei den Arrangements keine Mühe verdriessen lassen. So konnte ich die Überzeugung mitnehmen, dass man mich in dem alten Königsberg lieb gehabt hatte und ungern scheiden sah.

In Berlin sollte ich gleichsam von Anfang anfangen müssen. Der Kanzler hatte in der Hauptsache nur zu sehr Recht gehabt: das Amt forderte hier eine noch schärfere Anspannung der Kräfte, die Sitzungen, doch nur wöchentlich zweimal, dauerten regelmässig länger, die Sachen waren oft schwieriger, häufige Vertretungen nahmen sonst freie Tage fort, und die weiten Entfernungen kürzten die Arbeitszeit, sodass nun manche Woche verging, in der die Akten nicht vom Schreibtisch verschwinden wollten. Aber das Jahr hatte ja noch immer zweiundfünfzig, und die gelinden blieben auch nicht aus. Um in den Kreisen literarischer Berufsgenossen Anschluss zu gewinnen, liess ich mich sogleich in den Verein »Berliner Presse« einführen und wurde dessen Mitglied. Noch in demselben Jahre erfolgte meine Wahl zum ersten Vorsitzenden. Ich verdankte sie wesentlich dem Umstande, dass ich – Kammergerichtsrat war. Nicht dass man meinem Amt und Titel an sich irgendwelche Bedeutung beilegte, aber man mochte es für nützlich halten, an die Spitze eines Vereins von Schriftstellern und Journalisten, die allen Parteirichtungen angehörten und in ihren gesellschaftlichen Beziehungen weit auseinander gingen, einen Schriftsteller zu setzen, der durch sein amtliches Verhältnis als ein Unikum betrachtet werden konnte, ausserhalb des Parteigetriebes stand, juristische Kenntnisse und Fertigkeiten mitbrachte und zugleich im Verein selbst als neutrale Person zu wirken vermochte. Ich bin dann in dieses Amt noch sechsmal gewählt worden (mit den durch das Statut vorgeschriebenen Unterbrechungen), und darf daher wohl annehmen, dass meine ernstlichen Bemühungen, den Kollegen von der Feder bei der Förderung ihres trefflichen Werkes,[240] der reichsstädtischen Presse einen festen Zusammenhalt zu geben und mit vereinten Kräften die Sorgen der Witwen, Waisen und Bedrängten zu erleichtern, nicht fruchtlos erschienen und sehr freundlich anerkannt sind. Mir persönlich hat die Beschäftigung mit diesen Vereinsangelegenheiten, so viel Zeit sie auch mitunter in Anspruch nahmen, stets viel Freude bereitet. Viel mehr der praktische Jurist, als der Schriftsteller, kam bei diesem Wirken in Frage, obgleich es nicht gleichgiltig, vielmehr die Vorbedingung war, dass ihm zugleich diese Eigenschaft nicht fehlte.

Ich darf wohl hier gleich anschliessen, dass im März 1891 mein sechszigster Geburtstag auf's Freundlichste gefeiert wurde. Bei der Tafel erwies Karl Frenzel mir die Ehre der festlichen Ansprache, und der Kammergerichtspräsident Drenkmann legte in einer warmherzigen Rede für seinen Rat Zeugnis dahin ab, dass der Schriftsteller dem Juristen nicht geschadet hätte. Auch er ist mir stets ein nachsichtiger und einsichtiger Vorgesetzter gewesen, dessen wahrhaft freundschaftliche Gesinnung, wie auch die seiner temperament- und geistvollen Gattin, ich zu schätzen wusste.

Die Frau meines Kollegen Schmieden war die als Schriftstellerin beliebte Elsa Junker. Mit ihnen, sowie mit einigen Kollegen aus demselben Senat bildete sich ein angenehmer Familienumgang aus. Auch die Schriftsteller Friedrich Spielhagen, Julius Wolff, Adolf L'Arronge, Hermann Sudermann, Hanns und Fedor von Zobeltitz öffneten uns ihr Haus. Wir haben bei und mit ihnen und ihren Frauen viel ungewöhnlich frohe Stunden verlebt.

Mein Theaterdebut war nicht glücklich. Ich hatte aus Königsberg ein dreiaktiges Lustspiel »Die talentvolle Tochter« mitgebracht, das dort schon mit gutem Erfolg gegeben war. Ludwig Barnay nahm es für sein Berliner Theater an und glaubte, da es leichter Natur war, damit am geschicktesten zu operieren, wenn er es am Sylvesterabend einführte. Diese Spekulation schlug aber fehl. Einem grossen Teil dieses[241] Publikums war das Stück lange nicht schwankartig genug, sodass seine Erwartungen getäuscht wurden, und die sonst so vorzüglichen Schauspieler kamen seinem Bedürfnis, möglichst toll lachen zu können, keineswegs entgegen, indem sie ihre Rollen mit zuviel subtiler Charakteristik beschwerten, statt die komischen Situationen wirksam an's Licht zu stellen. Man schien damals aber auch in Berlin überhaupt entschlossen zu sein, das Lustspiel der bisherigen Art nicht mehr gelten zu lassen, und so war einem anderen Teil des Publikums die beste Gelegenheit geboten, seinem Unwillen darüber Ausdruck zu geben. Mir war es eine ganz neue Erfahrung, ein volles Haus vor mir zu sehen, das durchaus gehindert werden sollte, sich zu amüsieren. Barnay vertröstete von Akt zu Akt, aber die Stimmung wurde immer flauer und zuletzt ulkig. Man verlachte die Darsteller, zischte das Klatschen nieder und pfiff auf hohlen Schlüsseln. Kurz: das Stück fiel durch, und es half ihm auch nichts, dass es bei ein paar Wiederholungen vor nicht vollen Häusern lebhaften Beifall fand. Die Presse hatte es bereits unbarmherzig abgeschlachtet und so auch für andere Theater unmöglich gemacht. Hier freilich hätte nur der stärkste Erfolg zu einer milderen Behandlung des Autors nötigen können, der als Vertreter der älteren Richtung schon prinzipiell mit schärfsten Waffen befehdet werden musste. Wer jetzt das Stück liest, wird nur aus jener Kampfzeit heraus begreifen können, warum es fallen musste.

Ich hatte aber damals schon das kleine Lustspiel »Post festum« geschrieben, das sich auf's beste bewähren sollte. Es war für das Königliche Schauspielhaus angenommen worden. Im nächsten Jahre reichte ich demselben noch einen zweiten Einakter: »Der Mann der Freundin« ein, und beide Novitäten kamen dann dort zusammen mit dem älteren »Ihr Taufschein« (Frl. Poppe Hermine, Frl. Conrad Ottilie, Krause Pasewalk) am 9. Oktober 1889 zur ersten Aufführung. Sie gefielen, wennschon nicht in gleichem Masse. In »Der Mann der Freundin« war eine Hauptrolle, die der schwärmerischen[242] hypernervösen Julie, nicht passend besetzt. Als ich vor der ersten Probe mit den beiden kleinen Fräulein Conrad und Kramm sprach und die Meinung äusserte, letztere würde wohl die Julie spielen, antwortete Fräulein Conrad lachend: »Ach nein! die Dame, die sie spielt, ist so gross, wie wir beide zusammen.« Sie überragte denn auch wirklich die mitwirkenden Herren Kessler und Ludwig körperlich bedeutend, während sie sich sonst dieser schwierigen Partie durchaus nicht gewachsen fühlte. Trotzdem wurde das Stück recht freundlich aufgenommen. Durchschlagenden Erfolg aber hatte »Post festum« mit Vollmer als Professor Stern und Frau Kahle-Kessler als Generalin. Dieses Stück, über das sich nun auch die Kritik freundlicher aussprach, ist dann längere Zeit auf dem Reportoir geblieben und über alle Bühnen gegangen. Nicht so gut wurde es dem andern, das ich selbst doch wegen des feineren Lustspieltons und des psychologisch tieferen Gehalts vorziehe. Direktor Otto Devrient gab es bald auf, und von den andern Theatern blieb es dann auch unbeachtet. Welcher Wirkung aber »Der Mann der Freundin« bei guter Repräsention fähig ist, habe ich nur kürzlich in Wildbad zu erfahren Gelegenheit gehabt, wo es im Königlichen Kurtheater mit einer vorzüglichen Vertreterin für die Rolle der Julie aufgeführt wurde. Habent sua fata libelli – auch die Theaterstücke.

Es folgte im Dezember 1893 im Berliner Theater das Schauspiel »Aus eignem Recht«, das durch besondere Umstände grosses Aufsehen erregte, weshalb ich auf seine Entstehungsgeschichte und Aufführung näher eingehen möchte.

Von allen meinen Theaterstücken ist dies am langsamsten ausgereift und am häufigsten einer Umarbeitung unterzogen. Seine Anfänge gehen bereits auf das Jahr 1856 zurück. Damals zuerst beschäftigte mich der Konflikt des Grossen Kurfürsten mit den preussischen Ständen, welche ihm die Huldigung verweigerten, und der mannhafte Schöppenmeister Rohde, der lieber in's Gefängnis ging, als dass er seinen[243] politischen Grundsätzen untreu wurde, schien mir der Held eines Dramas sein zu können. Ich schrieb es wesentlich zu seiner Verherrlichung. Er war mir der Vertreter des Rechts, das immer Recht bleiben muss, auch wenn ein grosser Fürst und vorschauender Staatsmann es nicht gelten lassen kann, ohne sein Lebenswerk zu gefährden. Rohde war zugleich in Gegensatz gestellt zu Kalkstein (Vater und Sohn in einer Person zusammengezogen), der den mehr aus selbstsüchtigen Gründen opponierenden Adel repräsentierte. Ich hatte ein Liebesverhältnis zwischen dem jüngeren Rohde und einer Tochter Kalksteins eingefügt, für das doch nicht genug Raum war, und zwischen ihm und seinem Freunde Franz, der den Schöppenmeister gefangen nahm, ein Duell entscheiden lassen. Erst im Sommer 1865 zog ich das Manuskript wieder vor und arbeitete das Stück – mehr um es für mich selbst zum Abschluss zu bringen, als in Hoffnung auf praktische Verwertung – vollständig um, ohne doch die Grundlinien zu verwischen. Zu Anfang des nächsten Jahres wurde es fertig, und ich verhandelte nun eifrig mit dem Regisseur Seydel darüber, der aber noch viel auszusetzen fand, namentlich von einem entgegengesetzten politischen Standpunkt aus viel mehr Licht über den Kurfürsten verbreitet wünschte, dessen Recht doch das höhere sei, auch für die Handlung mehr Einfachheit und Klarheit forderte. Ich überzeugte mich von der Richtigkeit vieler seiner Bedenken, wenn ich auch in einigen Punkten starr blieb, und beendete im Herbst eine neue Umschrift. Im Sommer 1867 schickte ich darauf das Stück, jetzt unter dem Titel »Der grosse Kurfürst und der Schöppenmeister«, an den mir befreundeten Schauspieler v. Hirsch in Berlin, der es am Victoria-Theater anzubringen versuchen wollte. Es hiess dann, es sei dem Polizeipräsidium zur Zensur eingereicht. Auf eine im Februar 1868 erfolgte Anfrage bei demselben erhielt ich die Antwort, der König habe das Manuskript zu lesen gewünscht, und es liege nun auf seinem Schreibtische. Im September meldeten Berliner Zeitungen,[244] die Aufführung sei huldvollst genehmigt worden. Nun bemühte sich der Wiener Agent, der mein Preislustspiel »Der Narr des Glücks« vertrieb, auch um dieses Stück und liess es, nachdem ich es nochmals durchgesehen hatte, drucken. Auf seine Veranlassung zog ich es vom Victoriatheater zurück, dessen Personal sich als ganz unzulänglich erwies; es gelang aber nicht, ein anderes Berliner Theater dafür zu gewinnen. Im Hamburger Thaliatheater erfolgte aber am 1. Januar 1869 eine Aufführung, nach den Berichten von Maurice und Feodor Wehl mit »sehr ehrenvollem« Erfolg, was natürlich nicht viel zu bedeuten hatte. Hamburg war schwerlich der Ort, an dem diese preussische Historie dem Publikum besonders nahe gehen konnte, und das Lustspieltheater nicht die Bühne, auf die ein Schauspiel dieser Art gehörte. Bald darauf folgte Danzig nach, wo die Aufnahme gut gewesen zu sein scheint, und im Januar 1870 endlich auch Königsberg. Für diese Aufführung hatte ich im Text, namentlich der letzten Akte, wieder erhebliche Veränderungen vorgenommen, um die Fabel zu vereinfachen und der Figur des Kurfürsten noch mehr Gewicht zu geben. Aber obgleich der äussere Erfolg mich hätte befriedigen können, hatte ich selbst das unbehagliche Gefühl, meine Intentionen dramatisch nur sehr unvollkommen zur Anschauung gebracht und namentlich noch nicht den rechten Abschluss gefunden zu haben. Ich verzweifelte daran, mir genügen zu können, da der historische Stoff allzu sehr einer dem Theaterbedürfnis entgegenkommenden Bearbeitung zu widerstreben schien, und bemühte mich um dieses Stück nicht weiter.

Erst als dann fünfzehn Jahre später mein Roman »Der grosse Kurfürst in Preussen« geschrieben war, für welchen ich ein viel vollständigeres Material benutzte und die Fabel interessanter ausgestaltete, kam ich 1892 wieder auf das Drama zurück. Zwar der Ausgang war nun einmal vorgeschrieben: Rohde musste die Bitte um Gnade verweigern und in sein Gefängnis zurückgehen; nicht weil dies der[245] historische Verlauf war, sondern weil sein historischer Charakter es bedingte und durch ihn gewissermassen erst das, was ein neues Drama machte, gegeben wurde. Aber nur sein Charakter als Politiker und Mensch durfte Sympathie erwecken, nicht seine Sache. Hier musste der Kurfürst, nicht nur durch die Mittel der Gewalt, sondern auch von einem höheren Standpunkt aus moralisch Sieger bleiben. Namentlich in der letzten Szene, in welcher die politischen Gegner einander gegenüberstehen, war es ausser Zweifel zu lassen, dass der Zuschauer, soviel Mitleid er mit Rohde empfinden mochte, dem Herrscher zu folgen hätte, der in Wahrheit das versöhnende Wort spricht. Aber auch der Kurfürst seinerseits musste in einem wichtigen Punkt nachgeben, und gerade durch Rohdes Widerstand bewegt: er hatte anzuerkennen, dass er eine neue Rechtsgrundlage brauche, und in diesem Sinne die mit den Ständen vereinbarten Reversalien zu unterschreiben, auch wenn sie seine Macht einschränkten. Dadurch ist dann, nachdem Polen sich gebeugt hat, dem Schöppenmeister zuletzt auch die Berufung auf das formelle Recht entzogen, und er endet in dem Bewusstsein, dass er nichts mehr retten kann, als die persönliche Achtung, die unter allen Umständen dem gezollt wird, der sich selbst treu bleibt. So gestaltete sich diese neueste Umarbeit, bei der ich mich doch auch nur vorläufig beruhigte, zu einem wesentlich anderen Stücke. Auch im einzelnen. Aus dem Franz Hille war der Konrad Born meines Romans geworden, Kalkstein blieb ganz fort, ebenso der jüngere Rohde, neue Figuren, so namentlich der Oberst Hille mit einer wichtigen Rolle, waren eingefügt. Nur einige Szenen in ihrem hauptsächlichen Verlauf und Teile des früheren Dialogs waren erhalten.

Ich reichte das Schauspiel, jetzt unter dem Titel »Der grosse Kurfürst in Preussen« der General-Intendanz ein. Ich wusste, dass das Königliche Schauspielhaus die generelle Erlaubnis erhalten hatte, Hohenzollernfürsten bis einschliesslich[246] Friedrich den Grossen ohne nachzusuchende Genehmigung auf die Bühne zu bringen. Bald darauf sprach ich den Intendanzrat Professor Taubert. Er sagte mir, dass Bedenken entstanden seien, ob der Kaiser eine Annahme dieses Stückes billigen werde, da der Kurfürst sich doch wohl in seinem Gewissen belastet fühle und deshalb nachgebe. Jedenfalls würde erst Vortrag gehalten und ein umständliches Exposé eingereicht, dann aber abgewartet werden müssen, ob der Kaiser etwa eine Vorlesung befehle. Ich machte darauf aufmerksam, dass der Patriotismus doch viel stärker und wirksamer angeregt werde, wenn die Hohenzollern als die grossen Regenten, die sie gewesen, ohne offenkundige Geschichtsfälschung und byzantinische Adoration dargestellt würden. Er meinte aber, man sei durch einen anderen Dichter sehr verwöhnt worden. Ich hielt die Sache da verloren und erhielt denn auch wirklich, ohne dass beim Kaiser angefragt war, ablehnenden Bescheid. Man wolle, hiess es darin, die Hohenzollern auf der Hofbühne nur in heldenhafter Unfehlbarkeit sehen.

Nun wanderte das Manuskript zu Barnay, dem ich es gleich eingereicht hätte, wenn ich nicht der Meinung gewesen wäre, dass ich das Königliche Schauspielhaus nicht umgehen dürfe. Er liess mich durch seinen Dramaturgen, Professor Dr. Gerstmann, zu einer Konferenz bitten. Dabei erklärte er mir, dass er das Stück annehme. Nach einmaligem Lesen habe er den Eindruck, dass die beiden Hauptspieler, der Kurfürst und Rohde, noch nicht ganz so scharf gegen einander getrieben seien, als es die dramatische Wirkung wünschenswert mache. Für den Kurfürsten könne vielleicht die Notwendigkeit einzuschreiten noch klarer herausgestellt werden, und Rohde müsste, ohne Gefährdung seines politischen Charakters, menschlich noch eine Stufe heruntersteigen. Das Liebespaar könne dichterisch vertieft, interessanter gemacht werden; die Volksszenen vertrügen noch mehr Humor; einige Sätze wären zu mildern, um Anstoss zu vermeiden. Da[247] hörte ich nun in jedem Wort den sachkundigen Bühnenleiter, auf dessen scharfen Blick ich mich verlassen konnte. Er erfreute mich schliesslich nicht wenig durch die Mitteilung, dass er selbst den Kurfürsten spielen wolle, der Rohde für Krausneck bestimmt sei. Er versprach, das Manuskript nach Gastein mitzunehmen, wohin ich ebenfalls ins Bad reisen wollte. Jedoch erst im Winter 1893 kam es zu einer neuen eingehenderen Beratung, welche eine wiederholte Durcharbeit zur Folge hatte. Wir einigten uns nun auch über den Titel »Aus eignem Recht«, der auf den Inhalt des Stückes, den Erwerb der Souveränität der Hohenzollern, deutete. Als ich das Manuskript zurückerhielt, waren nur noch ein paar Bleifedernotizen am Rande in Erwägung zu ziehen. Barnay schrieb mir, dass er nun ganz einverstanden sei, und ersuchte mich, Reinschriften anfertigen zu lassen, die der Zensurbehörde eingereicht werden könnten.

Im April wurde Barnay benachrichtigt, dass die Allerhöchste Genehmigung erteilt sei, zugleich mit der hocherfreulichen Bemerkung, dass der Kaiser sich für das Stück interessiere und der Generalprobe oder der ersten Aufführung selbst beiwohnen wolle. Da die Saison schon zu weit vorgeschritten war, wurde die Premiére bis zum Herbst verschoben. Noch vor den Ferien sollte aber probiert werden, damit der Text für den Druck endgiltig festgestellt werden könnte.

Das Schauspiel als erste Novität herauszubringen, wie beabsichtigt war, gelang aber nicht. Dann erkrankte Barnay, der sich als Direktor und Schauspieler übermässige Anstrengungen zumutete, leider im Oktober und erklärte, auf die Rolle des Kurfürsten Verzicht leisten zu müssen, wenn die Erstaufführung nicht ins neue Jahr hinein verschoben werden sollte. Er schlug dafür den Schauspieler Suske vor, der sich vorzüglich eigene. Nun kamen im November die Proben in Gang. Barnay selbst übernahm, nachdem Jelenko schon tüchtig vorgearbeitet hatte, die Oberregie und brachte[248] überraschendes Leben in das Zusammenspiel. Ich bin oft erstaunt gewesen über sein Geschick, jeden Spieler an die rechte Stelle zu bringen und dem Vorgang seine natürlichste und zugleich theatralisch wirksamste Entwickelung zu geben.

Am 4. Dezember liess sich der Kaiser durch Telegramm zu einer Generalprobe am 6. anmelden. Wir hielten nun am 5. Dezember erst für uns eine Generalprobe im Kostüm ab, die bis vier Uhr nachmittags dauerte. Die Kostüme wurden von Professor August v. Heyden revidiert. Suske hatte für den Kurfürsten eine täuschend ähnliche Maske gemacht und sprach in wuchtigem Ton ohne übertriebenes Pathos; Krausneck war ganz auf der Höhe und gestaltete seinen Rohde zu einer tiefergreifenden Figur. Auf die anwesenden Zuschauer, denen das Stück neu war, machte es trotz der vielen Unterbrechungen den günstigsten Eindruck.

Der 6. Dezember wurde mir ein unvergesslicher Tag. Der Kaiser, in seiner blauen Husarenuniform erschien ganz pünktlich, begleitet von dem Geheimen Kabinettsrat v. Lukanus und den beiden Adjutanten Oberstleutnant v. Hülsen und Major v. Moltke, durch den Eingang rechts. Das Foyer war sehr hübsch mit bunten Vorhängen und Teppichen ausgestattet, das Theater ganz hell. Zuschauer hatten auf ausdrücklichen Wunsch nicht zugelassen werden dürfen; nur Barnays Frau und Tochter und meine Angehörigen sassen in einer entfernten Loge des ersten Ranges. Von den Klängen der Musik begrüsst, trat der Kaiser ein und nahm sogleich in einer der vorderen Reihen des Parketts Platz, links von ihm, aber mit einem leeren Sitz dazwischen, Herr v. Lukanus, weiter zurück die Offiziere. Er unterhielt sich mit Barnay, solange die Musik spielte, sichtlich sehr gut gelaunt. Dann begann sofort die Aufführung. Nachdem der Zwischenaktsvorhang gefallen war, wurde ich vorgestellt. Der Kaiser reichte mir die Hand und sprach seine Freude darüber aus, dass es ihm möglich gewesen sei, der Generalprobe beizuwohnen. Ich antwortete mit einigen Worten des[249] Dankes, er fiel aber gleich mit einem Lobe der sehr lebhaften Einleitungsszene ein, die ihm gut gefallen habe und ihn auf das weitere begierig mache. Er bemerkte dann, es existiere ja auch ein Roman, der im zweiten Teil denselben Gegenstand behandle. Er nannte den Titel und fragte, ob ich auch dessen Verfasser sei. Er habe ihn sehr interessiert; es sei viel Neues darin gewesen. Als das Klingelzeichen gegeben wurde, wollte ich mich zurückziehen; der Kaiser sagte aber in munterem Ton: »Setzen Sie sich doch hier zu uns, man will doch den Dichter in der Nähe haben.« Ich folgte dieser Aufforderung, indem ich den Platz in der folgenden Sitzreihe hinter ihm einnahm.

Nach dem ersten Akt sprach der Kaiser sich sehr lobend über Krausneck aus. Er erinnerte sich, ihn in den »Goldfischen« als Ostpreussen gesehen und viel belacht zu haben. Die Unterhaltung setzte sich eine Weile über das Dialektsprechen auf der Bühne fort. Dann wendete er sich wieder zu mir zurück und kam nochmals auf den Roman. Er habe ihn mit der Kaiserin zusammen gelesen – die Kaiserin habe vorgelesen, während er zeichnete – sie lese sehr gern vor. Herrn v. Lukanus rühmte er die Schilderung des Waldlebens. Er führte Einzelheiten an, die mir beweisen mussten, dass er den Inhalt noch gut im Gedächtnis hatte. Als ich während des Sprechens aufstehen wollte, winkte er mir sitzen zu bleiben; die Unterhaltung wurde in leichtester Gesprächsform geführt.

Im zweiten Akt fesselte den Kaiser sichtlich die Figur des Kurfürsten. Er wendete sich wiederholt zurück und sagte: »Eine vorzügliche Maske!« Nachdem der Vorhang gefallen war, sprach er sich über Suske's und Krausnecks Spiel lobend aus. Nun stehe noch die Partie zwischen dem Kurfürsten und dem Schöppenmeister gleich, bemerkte er. Was mich besonders erfreute: er nannte es einen Vorzug der Dichtung, dass Rohde als ein ebenbürtiger Gegner gezeichnet sei; das verstärke die Spannung. Es wurde dann von Bildern[250] des Kurfürsten gesprochen. Er erzählte von einem, das sich, wenn er nicht irre, in Dessau befinde und den Kurfürsten noch in sehr jugendlichem Alter darstelle. Ich erlaubte mir zu erwähnen, dass ich mir vergebliche Mühe gegeben habe, zu ermitteln, was das für ein Orden sei, mit dessen Stern auf der Brust der hohe Herr so oft dargestellt erscheine, und beschrieb ihn. Der Kaiser klärte uns darüber auf, es wäre der Hosenbandorden, den der Kurfürst besonders gern getragen habe, mitunter auch mit der Kette. Er gab das Nähere darüber an, sodass Barnay danach das Kostüm vervollständigen konnte.

Im dritten Akt machte die lebhafte Szene vor dem Rathause auf den Kaiser starken Eindruck. Das kräftige Auftreten des Kurfürsten in der zweiten Szene befriedigte ihn; er zollte der Dichtung grosses Lob in den gütigsten Ausdrücken. Nur zwei Verse Born's am Schluss wünschte er gestrichen, da es nicht gut angänglich sei, dass er laut im Hintergrunde spreche, während der Kurfürst vorn auf seinen Abgang warten müsse. Ich hatte ganz dieselbe Empfindung gehabt, und auch Barnay, der herangerufen wurde, stimmte zu.

Nach der grossen Szene des vierten Akts, welche mit der Gefangennahme Rohde's endet, lud Barnay zu einem Frühstück ein, das er in dem Seitengange des Parketts hatte aufstellen lassen. Der Kaiser erhob sich sogleich und folgte ihm dahin. Ich trat zurück, wurde aber bald von Barnay herbeigeholt, zu dem er gesagt hatte: »Soll denn der Dichter nichts zu essen bekommen?« Er selbst forderte mich auf zuzugreifen, erhob sein Champagnerglas und hielt es mir mit einigen freundlichen Worten zum Anstossen hin.

Nach Schluss des vierten Aktes sah Herr v. Lukanus bedenklich auf seine Uhr. »Es ist wohl schon spät?« fragte der Kaiser. »Halb zwei«, lautete die Antwort. Es waren Vorträge im Schloss angesagt, die Wagen standen längst draussen bereit. Doch konnte auch noch der letzte Akt im[251] Beisein Seiner Majestät gespielt werden. In der Schlussszene glaubte ich zu bemerken, dass der Kaiser sich eine Thräne aus dem Auge wischte. Er gratulierte mir dann zu dem Werke, das sicher grossen Erfolg haben werde und verabschiedete sich, von Barnay begleitet. Mit welcher Aufmerksamkeit der Kaiser beobachtet hatte, ergab sich aus einem Schreiben, das dem Direktor noch am Abend zuging. Er hatte bei der Rückfahrt nach Potsdam Auftrag gegeben, ihn zu benachrichtigen, dass das Kostüm, welches Born am Schluss als Jägermeister trage, unhistorisch sei, zugleich mit Weisungen, wie es in Wirklichkeit ausgesehen habe. Selbstverständlich war am anderen Tage der Fehler abgestellt.

Am 7. Dezember fand nun die Première statt. Zu unserer freudigsten Überraschung liessen sich dazu die beiden Majestäten ansagen und erschienen so pünktlich sieben Uhr, dass ein Teil des Publikums sie schon vorfand und anfangs die Vorstellung störte. Die Kaiserin setzte sich auf den Eckplatz der Loge, der Kaiser stand während der ganzen Aufführung hinter ihr; er klatschte wiederholt und auch die hohe Frau gab Zeichen des Beifalls. Nach dem zweiten Akt wurde ich in die kaiserliche Loge befohlen. Barnay führte mich hinauf. Die hohen Herrschaften waren in dem engen aber reizend dekorierten Vorgemach beim Thee. Die Kaiserin sass links auf dem Sopha hinter einem kleinen Tisch. Sie erhob sich, als ich mich verneigte, und sprach sich erfreut darüber aus, der Erstaufführung meines Stückes beizuwohnen, dem sie besten Erfolg wünschte. Gleich darauf trat der Kaiser, der bei den Herren des Gefolges gestanden hatte, hinzu und sagte zur Kaiserin: »Das ist nun unser Richter und Dichter.« Er drückte mir kräftig die Hand und steckte mir ein rotes Kästchen mit den Worten zu: »Da habe ich Ihnen auch etwas zum Andenken mitgebracht.« Ich hatte nicht entfernt auf ein Geschenk gerechnet und wusste in der Verblüfftheit nichts Gescheidtes zu sagen. »Majestät haben[252] mich schon so glücklich gemacht durch Ihre Anwesenheit in der Generalprobe und heut ...« Er reichte mir nochmals die Hand, ohne die Fortsetzung abzuwarten, und entliess mich gnädigst.

In dem Kästchen fand ich den roten Adlerorden dritter Klasse mit Schleife und Krone. Er wurde mir sogleich angesteckt, wahrscheinlich etwas zu lose. Denn als ich nach einem Hervorruf hinter die Kulissen zurücktrat, vermisste ich ihn. Er musste bei der Verbeugung zur Erde gefallen sein, ohne dass ich es merkte. Er wurde aber vergeblich auf der Bühne gesucht. Endlich fand man ihn, glücklicherweise ganz unversehrt, im Kellerraum unter den Lampen, zwischen denen er durchgeglitten sein musste. Nachdem ich mich einmal dem Publikum gezeigt hatte, wurde ich freundlichst nach jedem Fallen des Vorhangs gerufen. Suske als Kurfürst spielte ebenso wie Krausneck den Rohde vorzüglich; auch Stockhausen als Konrad Born, Fräulein Sauer als Barbara und besonders Formes als Schuster Klews ernteten viel Beifall.

Die Kaiserin hat später noch einer, der Kaiser noch zwei Wiederholungen des Stückes beigewohnt, auch einmal die drei ältesten Prinzen teilnehmen lassen, die sehr aufmerksam und durch die Handlung lebhaft erregt zuschauten, aber sich vornehmlich bei den heiteren und stürmischen Volksszenen zu amüsieren schienen. Es war ein Schauspiel im Schauspiel, sie zu beobachten, und mancher im Publikum mag das auf der Bühne darüber vergessen haben. Eine grosse französische Zeitung erbat sich von mir das Buch und brachte in Übersetzung alle diejenigen Stellen, von denen sie meinte, dass sie dem Kaiser besonders genehm gewesen seien.

Das Stück wurde 55 Mal aufgeführt; für das damalige Berliner Theater, welches auf wechselndes Reportoir hielt, eine sehr grosse Zahl. Die Kritik hatte sich, allerdings durch den politischen Standpunkt so oder so beeinflusst, im Ganzen anerkennend ausgesprochen. Wer die Historie auf[253] der Bühne überhaupt nicht gelten lassen wollte, fand leicht die Angriffsstelle. Es konnte mich im Übrigen nicht wundern, dass inbetreff der Lösung des Konflikts mancherlei Bedenken laut wurden, die keinen ernstlicher als mich selbst beschäftigt hatten. Der ungerechteste Tadel war sicher der, dass ich nach Hofgunst getrachtet hätte. Da hatte der Kaiser selbst mich durch ein Lob geehrt, auf welches ich stolz sein konnte: dass ich Licht und Schatten gleich verteilt habe.

Schon wenige Tage nach der Première besuchte mich Taubert und legte mir's nahe, das Stück nochmals der General-Intendanz anzubieten, das ja inzwischen auch mancherlei Änderungen erfahren habe und jetzt gewiss gern angenommen werden würde. Es geschah, da Barnay die Direktion des Berliner Theaters nur noch bis zum Herbst behalten wollte, und der schriftliche Vertrag kam dann auch anfangs des Jahres 1894 zustande. Als ich nun aber im nächsten Winter anfragte, wann die Aufführung stattfinden werde, hiess es, auf Wunsch des Kaisers sei Krausneck engagiert worden, und man wolle deshalb das Stück zurückstellen, bis er die Rolle des Schöppenmeisters auch auf der Hofbühne spielen könne. Darüber mussten freilich drei Jahre vergehen, da Krausneck solange noch anderweitig gebunden war. Im September 1897 trat er aber wirklich in den dortigen Personalverband. Ich hatte erwarten dürfen, dass man sich nun beeilen würde, den Vertrag zu erfüllen. Das war eine Täuschung. Mitte Januar 1898 freilich benachrichtigte mich auf wiederholte Anfragen der Herr Generalintendant, dass er das Stück noch in der laufenden Saison aufzuführen beabsichtige. Es kam jedoch nicht dazu, und – – ich warte noch immer auf die Einlösung des gegebenen Worts.

Indessen hatte ich da noch eine andere recht sonderbare Erfahrung machen müssen. Ich beendete im März 1894 ein anderes Schauspiel auf historisch-preussischem Boden und nannte es »Im Dienst der Pflicht«. Die Hauptfigur darin ist Friedrich Wilhelm I., aber nicht der Soldatenkönig und[254] auch nicht der Haustyrann, sondern der Nationalökonom, dem Preussen seine solide Finanzwirtschaft und seine tüchtige Beamtenschaft verdankt. Die Fabel selbst ist frei erfunden. Zwischen einer märkischen Domäne und der benachbarten Gutsherrschaft ist seit Jahren wegen eines See's Streit beim Kammergericht. Eine Urkunde aus dem 15. Jahrhundert, die beweisend sein könnte, ist verloren gegangen, und nun besteht der König ebenso starrköpfig wie der Freiherr auf dem vermeinten Recht. Endlich ist beim Kammergericht ein Inhibitorium gegen das Gut ausgebracht, sich bis zur Entscheidung des Prozesses aller Besitzhandlungen, namentlich der Fischerei, zu enthalten. Nun kommt der König zur Revision der Domäne und bleibt dort über Nacht. In dieser Nacht geht etwas auf dem See vor, was ihn in den gerechtesten Zorn versetzen muss. Der Inspektor und Neffe des Amtmanns wird nämlich in seinem Boot, auf dem er ein Fahrzeug von drüben verfolgte, mit einer Schusswunde in der Brust bewusstlos aufgefunden. Der König fordert strengste Untersuchung auf der Stelle und zitiert den Freiherrn vor sich, der seiner Meinung nach ihm zum Tort das gerichtliche Verbot übertreten hat. Es kommt zu einer heftigen Aussprache zwischen beiden, der Freiherr lässt sich zu unehrerbietigen Worten hinreissen und der König will ihm im Jähzorn mit dem Stock zu Leibe, lässt ihn auch auf der Stelle ins Amtsgefängnis abführen. Nun ermittelt sich aber nach und nach auch für ihn der dem Zuschauer bekannte wahre Zusammenhang: Der Sohn des Freiherrn, der mit des Amtmanns Tochter ein heimliches Liebesverhältnis hat, ist mit seinem Boot über den See gekommen und von dem Inspektor verfolgt worden. Bei dem Bemühen, ihn gefangen zu nehmen, ist des Inspektors Gewehr losgegangen und hat die Verletzung herbeigeführt. Nun sieht der König ein, dass er thatsächlich im Unrecht war, und versöhnt den Gegner. Es trifft sich glücklich, dass er bei der Revision der Kirche ein altes Bibelbuch aufgefunden hat, in welches[255] die vermisste Urkunde eingetragen war. Sie spricht in der Hauptsache gegen die Domäne, was ihn natürlich nicht hindert, sie selbst dem Freiherrn vorzulegen und diesem sein Recht zu geben. Der König ist, seinem historischen Charakter treu, aber dem Zuschauer durchaus symphatisch geschildert.

Dieses Schauspiel nun reichte ich im Sommer 1894 dem Königlichen Schauspielhause ein. Es wurde im September, vorbehaltlich Allerhöchster Genehmigung, angenommen. Sie erfolgte im Herbst, vielleicht nicht ohne einige im Reskript geäusserte Bedenken, welche jedoch nicht derart gewesen sein können, dass die Generalintendanz zum Rücktritt veranlasst wurde. Sie schloss vielmehr mit mir den schriftlichen Vertrag ab. Dieses Stück ist dann aber nie aufgeführt. Von Jahr zu Jahr wurde ich durch die Versicherung hingehalten, dass augenblickliche Hindernisse vorlägen, die mir doch nicht glaubhaft erscheinen konnten. Endlich erhielt ich eine Andeutung des wahren Grundes, der mich überzeugen musste, dass ich da nichts weiter zu hoffen habe. Er entzieht sich der Mitteilung. Zu dem Stück selbst hat er eine rein zufällige Beziehung.

Diese für den Autor höchst kränkende und auch seine materiellen Interessen arg schädigende Zurücksetzung von Stücken, deren eins der Kaiser in ungewöhnlicher Weise ausgezeichnet, das andere aufzuführen genehmigt hat, giebt gewiss mancherlei zu denken. Wenn der Grundsatz festgehalten werden sollte, dass das Königliche Schauspielhaus verpflichtet sei, »Mitglieder des Hohenzollernhauses nur in reinem und fleckenlosem Glanze den Hörern vorzuführen«, so hätte wohl der, überdies für Berlin ausschliessliche, Erwerb von Stücken unterlassen werden müssen, die das patriotische Interesse der Zuschauer ohne diese Tendenz wärmer zu erregen hofften. Ich hätte es begreifen können, wenn ich nachträglich ersucht worden wäre, sie zurückzuziehen. Für das beliebte Verfahren, einfach den Vertrag unerfüllt zu lassen, wird man schwer ein Verständnis finden.[256]

Ich verhandelte nun mit dem Berliner Theater. Damals hatte Direktor Prasch auch das neugebaute Theater des Westens übernommen, das in Charlottenburg liegt und daher durch das Vertragsrecht des Königlichen Schauspielhauses nicht behindert wurde; für dieses erwarb er »Im Dienst der Pflicht«. Das Stück wurde dort auch, nachdem es im Frühjahr 1897 in Erfurt, Königsberg, Magdeburg, Hannover (Königliches Schauspielhaus), Stettin pp. mit gutem Erfolg gegeben war, am 12. September (mit Helmuth-Bräm in der Rolle des Königs) aufgeführt und trotz teilweise recht mangelhafter Darstellung so beifällig aufgenommen, dass sich mir die besten Aussichten zu öffnen schienen. Doch kam es nur zu acht Wiederholungen (auf so viele hatten es freilich die meisten Novitäten dieses Theaters nicht bringen können!).

Eines mindestens ebenso glücklichen äusseren Erfolges bei der Erstaufführung im Berliner Theater (Direktion O. Blumenthal), durfte sich mein historisches Trauerspiel »Marienburg« am 31. Januar 1895 erfreuen, in dem das Sommerstorf-Gessnersche Ehepaar trefflich mitwirkte. Die Zugkraft des historisch entlegenen Stoffes erwies sich freilich nicht einmal so dauerhaft.

Eine Komödie »Die glückliche Insel« (1897), Puppenspiel genannt, mit einer launigen Satire auf utopistische Staatsbildungen, durchaus bühnenmässig in seinem Bau, aber den Theatern schwerlich genehm, möchte ich hier nur erwähnt haben. Ein historisches Schauspiel »Die Gräfin von Schwerin« (1898) versuchte sich anfangs März 1899 im Berliner Bellealliance-Theater (Direktion Droescher) insofern mit Glück, als es die warme Zustimmung des bei der Première anwesenden Publikums fand. Das Ensemble war bei den beschränkten Mitteln dieser Bühne tadellos, Fräulein Grüning spielte die Gräfin, Herr L'Allemand den Grafen v. Schwerin ganz vorzüglich. Welche Beachtung dieses Drama auswärts finden wird, steht noch dahin. Recht bezeichnend für deutsche Verhältnisse möchte es sein, dass das Schweriner Hoftheater[257] es »wegen des engen verwandtschaftlichen Verhältnisses des grossherzoglichen Hauses zur dänischen Königsfamilie« ablehnte. Man bedenke, dass das Stück zu Anfang des 13. Jahrhunderts spielt und das ganze Geschlecht des Königs Waldemar, den ein deutscher Graf gefangen nimmt, bereits Mitte des 14. Jahrhunderts ausgestorben ist!

Wenn ich nun auf meine vierzigjährige Thätigkeit als dramatischer Autor zurückblicke, so kann ich nicht behaupten, dass ihre Ergebnisse für mich stets oder auch nur vorwiegend befriedigend gewesen sind. Oft habe ich umsonst gearbeitet – nicht nur in meiner frühesten, sondern auch in meiner spätesten Zeit, und selbst mittenein, als ich den Bühnen als Lustspieldichter persona gratissima schien. Manche Stücke sind nur von wenigen Theatern angenommen worden, ein paarmal gegeben, dann verschwunden, bestenfalls in der Reclamschen Ausgabe einem grösseren Leserkreise zugänglich gemacht, der sich über sie nicht äussert. Ich beklage mich darüber nicht; den wenigsten dramatischen Autoren bleiben solche Erfahrungen erspart. Ich durfte mich trösten:


Guter Ernte immer magst du froh noch sein,

Bringst du auch nur eine Ähre von drei Halmen ein.


Von etwa dreissig Stücken hat sich wirklich ungefähr ein Drittel behauptet. Ich habe Erfolge gehabt, die mich nur mässig erfreuten, und Misserfolge, die mich nicht kränken konnten; auch das Empfindlichste, die Nichtbeachtung von Erzeugnissen, bei denen das ganze Herz war, habe ich mir nicht allzu nahe gehen lassen. Denn das hoffe ich mir bezeugen zu können, dass ich immer zunächst nur für mich gearbeitet, nie danach, was der Masse gefallen möchte, ausgeschaut, nie auf einen Erfolg, am wenigsten auf einen Gelderfolg, spekuliert habe. Ich schrieb allemal nur auf, was mir im gegebenen Moment zu formen Bedürfnis war, und ich bin oft genug am längsten und eifrigsten mit Arbeiten beschäftigt gewesen, von denen ich mir schon im Entstehen sagte, dass ihr Weg nicht eben sein werde. Den Theatern[258] ist der Fabrikant am liebsten, der ihnen schafft, wonach sie Begehr haben. Ich habe immer nur angeboten, was ich mir selbst mehr oder minder zu Dank geschaffen hatte. Da sind wir nun wiederholt zufällig in unsern Neigungen zusammengetroffen, und dann habe ich mitunter auch »ein gutes Geschäft« gemacht; öfter aber haben wir uns nicht verständigen können, und dann zog ich natürlich den kürzeren. Übrigens weiss ich sehr wohl, dass der literarische Wert einer dramatischen Arbeit vom Erfolge oder Misserfolge der Bühnenaufführung nicht abhängig ist, wie ihn andererseits auch die anerkennenswerteste Intention des Dichters noch nicht schafft. Er kann da sein, und die Theater mit ihrem Publikum, wie es einmal ist und immer sein wird, mögen ganz Recht haben ihn zu ignorieren; und er kann nicht da sein, wenn ein Stück gefällt. Man wird nur befugt sein müssen, zwischen denen zu unterscheiden, die unbekümmert um ihn nur gangbare Ware zu liefern bestrebt sind, und denen die, wie unzulänglich immer, ein wirkliches ernstes oder heiteres Dichtwerk aus sich heraus zu geben das Bedürfnis fühlen.

Aber ich möchte nicht falsch verstanden werden; darum noch eine andere allgemeinere Bemerkung. Ich habe beim Schaffen stets die Frage offen gelassen, ob mit der Arbeit ein Erfolg zu erzielen wäre, aber ich habe die Meinung des Publikums nie gering geachtet. Es hat für mich, mochte es sich nun um eigene oder fremde Arbeit handeln, allemal grosse Bedeutung gehabt, wenn ich diese vielköpfige, aus Personen beiderlei Geschlechts in jedem Alter, und des verschiedensten Standes und Bildungsgrades zusammengesetzte Masse einheitlich bewegt, erwärmt oder erkältet sah. Es ist in ihren Kundgebungen der Zustimmung oder Ablehnung etwas Elementares, das der Dichter nur zu seinem Schaden unterschätzt. Nicht nur sein Wunsch soll es sein, zu gefallen, sondern auch seine Bemühung, dem Publikum etwas zu geben, was ihm verständlich werden und Befriedigung schaffen[259] kann. Darum habe ich mich bei allem, was ich für die Bühne schrieb, schon während des Schreibens gleichsam in's Publikum gesetzt, um mir jede werdende Szene selbst anzusehen. Das schliesst Irrtümer, selbst die gröbsten, nicht aus; es schützt aber doch im allgemeinen vor der Überhebung, dass das, was man sich zunächst selbst zu Liebe gethan, nun auch das allgemein Liebenswerte sein müsse, und dass, wenn es nicht so empfunden wird, das Urteil der Leute gar keinen Wert zu beanspruchen habe. Wer mit dem Publikum überhaupt nicht rechnen will, wird auf die Bühne verzichten müssen. –

Eines mir sehr schmerzlichen Ereignisses habe ich hier noch zu gedenken. Am 10. August 1892 starb unsere älteste Tochter, unser erstes Kind, unser liebes Gretchen, erst dreissig Jahre alt, in Suderode, wohin wir die uns einen Monat vorher an einem schweren Nierenleiden Erkrankte kaum noch in der Hoffnung, dass ihr der Aufenthalt in der frischen Berg- und Waldluft zur Genesung helfen werde, gebracht hatten. Dort ist sie auch auf dem kleinen Friedhof beerdigt, der ausserhalb des Orts vor dem Walde auf der Absenkung des Hügels liegt, der einen so weiten Blick über die Ebene zwischen den Ausläufern des Harzes bis in die blaueste Ferne gestattet. Es waren qualvolle Tage da mit der Todkranken und Sterbenden im Gasthause und unter vielen fröhlichen Sommergästen, die an unser Leid nicht erinnert werden durften. Und es dauerte so lange, viele Tage und Nächte, bis die Lebenskraft gänzlich erschöpft und der letzte röchelnde Atemzug verhaucht war. Ein so liebes, gutes, kluges, pflichttreues Kind! Und mir von frühester Kindheit an mit rührender Zärtlichkeit ergeben. Ihre letzte Freude war es gewesen, dass eine Geldsammlung, die ich für einen unglücklichen, blinden und fast tauben Schriftsteller öffentlich anregte, einen unerwartet guten Ertrag brachte. Sie buchte täglich die Eingänge und hatte sich lange nicht so froh angeregt gefühlt. Gleich darauf kam das Leiden[260] zum Ausbruch, von dessen Gefährlichkeit sie zum Glück keine Ahnung hatte. Nicht an ihrem Todestage, an ihrem Geburtstage im Mai haben wir oft ihr Grab besucht. Es blühen im Sommer die Rosen darauf und schon breitet eine junge Traueresche darüber ihre Zweige. –

Am 11. März 1896 wurde ich 65 Jahre alt. Zum 1. April desselben Jahres nahm ich als Richter den Abschied und liess mich pensionieren. Das konnte nach dem Gesetz in diesem Alter geschehen, ohne dass ich den Nachweis meiner Invalidität zu führen brauchte. Ich war noch kein Arbeits-Invalide und wollte auch nicht dafür gelten. Gerade noch ein paar Jahre in vollster Freiheit als Schriftsteller thätig sein zu können, war meine Hoffnung. Ausser den letzterwähnten Dramen habe ich seitdem die Romane »Vom alten Schlage« und »Minister a.D.«, sowie einige Novellen geschrieben.

Quelle:
Wichert, Ernst: Richter und Dichter. Ein Lebensausweis, Berlin und Leipzig 1899, S. 234-261.
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