Freiheitsgrade der Bewegung

[190] Freiheitsgrade der Bewegung. Unter den Freiheitsgraden eines beweglichen Punktsystems versteht man die Zahl der voneinander unabhängigen Veränderlichen, welche die Lage des Systems zu irgend einer Zeit bestimmen. Sind die Veränderlichen nicht voneinander unabhängig, so erhält man den Freiheitsgrad der Bewegung des Systems, wenn man die Zahl der Veränderlichen um die Zahl der zwischen ihnen bestehenden Bedingungsgleichungen (endliche Gleichungen oder Differentialgleichungen) vermindert.

Ein Punkt hat drei Freiheitsgrade, wenn seine Bewegung unbeschränkt ist. Ist er auf eine Fläche bezw. Kurve beschränkt, so vermindert sich die Zahl der Freiheitsgrade auf zwei bezw. einen. Eine Strecke von konstanter Länge hat höchstens fünf Freiheitsgrade, da zu ihrer Bestimmung die drei Koordinaten eines Endpunktes und zwei Richtungswinkel genügen. Ein[190] starrer Körper kann deren sechs haben, indem zu den fünf Bestimmungsstücken einer Geraden (Achse) desselben noch der Drehwinkel um die Achse tritt.

Die Freiheitsgrade eines starren Körpers können in mannigfacher Weise eingeschränkt werden. Wird ein Punkt festgehalten, so hat der Körper nur mehr drei Freiheitsgrade. Wird ein Punkt gezwungen, auf einer Fläche zu bleiben, so hat der Körper noch fünf Freiheitsgrade. Zwingt man zwei, drei, vier, fünf oder sechs Punkte des Körpers auf bestimmte Flächen, so verbleiben noch vier, drei, zwei, ein oder kein Freiheitsgrad. Im letzteren Falle ist der Körper in seiner Lage bestimmt. In ähnlicher Weise schränkt die Bedingung, daß die Oberfläche des starren Körpers eine gegebene Fläche berühren soll, die Freiheitsgrade ein. Soll sie sechs Flächen berühren, so ist der Körper (z.B. der Kolben eines Gewehres, der an sechs Kissen aufliegt) festgelegt. Die gelenkigen Fangarme der Tiere (z.B. der Krebse) besitzen mindestens so viel Freiheitsgrade, um die ergriffene Beute in jede beliebige Lage (z.B. zu den Kauwerkzeugen) zu bringen. Die theoretische Untersuchung der Elementarbewegungen eines starren Körpers bei einer vorgegebenen Zahl von Freiheitsgraden gründet sich auf die Lehre vom linearen Linienkomplex oder von den Ballschen Schrauben.


Literatur: Mannheim, Etude sur le déplacement d'une figure de forme invariable (Mém. des savants étr., Bd. 20), oder Journ. de l'Ecole polytechn., Cah. 43 (1869), und Principes et développements de géométrie cinématique, Paris 1894; Somoff, Theoretische Mechanik, übersetzt von A. Ziwet, Leipzig 1878–79, Bd. 1, Kap. 16, S. 371 ff.; Okatow, Zusammenstellung der Sätze von den übrigbleibenden Bewegungen eines Körpers, der in einigen Punkten seiner Oberfläche und normalen Stützen unterstützt wird Schlömilchs Zeitschr. f. Mathem. und Physik 1873, Bd. 18, S. 224; Ball, A treatise on the theory of screws, Cambridge 1900; Schell, Theorie der Bewegung und der Kräfte, Bd. 1, Kap. 7, S. 293–301, sowie Bd. 1, Kap. 5, woselbst die hierhergehörigen Lehren vom Nullsystem und dem Komplexe ersten Grades behandelt sind; Study, E., Geometrie der Dynamen, Leipzig 1901–03.

Finsterwalder.

Quelle:
Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 4 Stuttgart, Leipzig 1906., S. 190-191.
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