Isis [3]

[46] Isis (ägypt. Iset, Ise, Ese), ägypt. Göttin, die ursprünglich nicht der großen Zahl der ägyptischen Volksgottheiten angehört, sondern dem Mythus und der theologischen Spekulation ihre Bedeutung verdankt. I. ist die Gemahlin des Osiris, die zusammen mit ihrer Schwester Nephthys den von Set ermordeten Gatten betrauert; in den Sümpfen gebiert sie den Horos (Harsiësis = Horos, Sohn der I.); nachdem sie nach langen Irrfahrten den Leichnam des Osiris gefunden hat und dieser von Set zerstückelt und zerstreut worden ist, sucht sie die einzelnen Teile und bestattet sie. Durch die Theologie von Memphis wird I. als Himmelsgöttin ausgegeben und mit den lokalen weiblichen Gottheiten (Hathor, Mut, Neit) identifiziert, die dadurch gleichfalls zu Himmelsgöttinnen werden. Bereits in der Osirislegende ist I. im Besitze mächtiger Zaubermittel, sie ist »klüger als alle Götter«; daher tritt sie uns als die »große Zauberin«, als Göttin der Magie, entgegen, die dem Kranken zu helfen vermag, wie sie einst der Sage nach dem Herus und Set die im gegenseitigen Kampf erlittenen Wunden geheilt hat. Um dieser Eigenschaft willen und wohl auch infolge der immer steigenden Popularität der Osirissage nimmt das Ansehen der I. seit dem neuen Reiche sehr stark zu. Seit dem Ende des neuen Reiches werden ihr besondere Tempel erbaut und Kulte eingerichtet; als »Herrin der Pyramide« baut ihr König Psusennes (22. Dynastie) bei der Cheopspyramide ein kleines Heiligtum, Amasis errichtet ihr in Memphis einen großen Tempel; das berühmteste Isisheiligtum auf der Insel Philä, das nicht nur von Ägyptern, sondern auch von den Nubiern und Blemyern besucht wurde, verdankt Nektanebos, dem letzten einheimischen Pharao (360–342 v. Chr.), und den Ptolemäern seine Ausbauung. Ursprünglich wurde I. als Frau dargestellt, die als Abzeichen den »Thron« (Fig. 1), die Hieroglyphe ihres Namens, auf dem Kopfe trug; durch die Identifizierung mit der Geiergöttin Mut, der Gemahlin des Ammon, erhielt sie den eigenartigen Kopfputz der Geierhaube, während ihr von Hathor die Kuhhörner mit der Sonne übertragen wurden; in ihrer besondern Eigenschaft als mütterliche Gottheit erscheint sie sitzend und dem kleinen Horos die Brust reichend (Fig. 2). Als die Griechen im 7. Jahrh. nach Ägypten kamen, lernten sie I. als die oberste Göttin des ägyptischen Pantheons kennen und glaubten, daß sie nichts andres als die Jo, die Mutter des Apollo (Horos) sei; gewöhnlich jedoch stellten sie I. der großen griechischen Mysterien- und Naturgöttin Demeter (wie Osiris dem Mysteriengott Dionysos) gleich und übertrugen alle Eigenschaften der letztern auf I. In der Ptolemäerzeit verbreitete sich der Isiskultus ebenso wie der des Serapis in der ganzen griechisch-orientalischen Welt und fand hier die größte Zahl von Verehrern.

Fig. 1. Isis, in der Rechten das Papyruszepter der Göttinnen, in der Linken die Hieroglyphe »Leben« haltend. – Fig. 2. Isis mit Horos (Berliner Museum).
Fig. 1. Isis, in der Rechten das Papyruszepter der Göttinnen, in der Linken die Hieroglyphe »Leben« haltend. – Fig. 2. Isis mit Horos (Berliner Museum).

I. erlangte in der Fremde so sehr das Bürgerrecht, daß Plutarch ernsthaft glaubte, der Name und Kult der I. seien griechischen Ursprungs; man denke auch an die zahlreichen mit I. zusammengesetzten Personennamen, wie Isias, Isidoros u. a. Nachdem Alexandria Sitz des Welthandels geworden, beherrscht I. auch das Meer; sie erfindet das Segel, wird besonders an Handelsplätzen verehrt, und die durch sie vom Schiffbruch Geretteten stiften ihr Votivtafeln (daher ihr Name Pelagia, Pharia). In[46] Rom kam der Isisdienst zu Sullas Zeiten auf.

Fig. 3. Isis und Horos (Harpokrates). München.
Fig. 3. Isis und Horos (Harpokrates). München.

Zwar wurde er wegen des dadurch gegebenen Anstoßes durch einen Senatsbeschluß vom Kapitol wieder verbannt, später auch der Privatkult der I. und des Serapis verboten, sogar ihr Tempel niedergerissen; aber eben diese öfters wiederholten gewaltsamen Reaktionen beweisen, welchen Anklang der Isiskult in Rom gefunden hatte. Gleichwohl kam erst mit den Kaisern aus dem Flavischen Haus eine günstigere Zeit für den ägyptischen Kult. Domitian gründete ein Iseum und Serapeum, und seitdem wetteiferten die Kaiser in Begünstigung und Verherrlichung des Isisdienstes, den erst das aufkommende Christentum, wenn auch nur langsam, verdrängte. Der Kult der Göttin bestand in Lustrationen, Festzügen, geheimen, oft zu sinnlicher Luft mißbrauchten Weihen. Griechen wie Römer pflegten im Frühling, sobald das Meer wieder schiffbar geworden war, einen feierlichen Umzug zu halten und der Göttin ein Schiff darzubringen (Navigium Isidis, 5. März). Tacitus berichtet, daß auch die Sueven der I. geopfert hätten, wobei natürlich nur eine germanische Gottheit anzunehmen ist, deren Name uns verloren gegangen (Grimm denkt an Berchta oder Holda). Die alexandrinisch-römische Kunst hat die ägyptische Gestalt der I. wesentlich umgeformt, ihr die steif gefaltete Tunika und ein mit Fransen besetztes, auf der Brust geknotetes Obergewand gegeben, dazu in der Rechten das Sistrum (s. d.) und auf dem Haupte die Sonne. Neben ihr steht gewöhnlich der Knabe Horos (Harpokrates) mit dem Zeigefinger am Mund und dem Füllhorn in der Linken. Soz. B. in der Münchener Gruppe (Fig. 3).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 10. Leipzig 1907, S. 46-47.
Lizenz:
Faksimiles:
46 | 47
Kategorien:

Buchempfehlung

Gryphius, Andreas

Horribilicribrifax

Horribilicribrifax

Das 1663 erschienene Scherzspiel schildert verwickelte Liebeshändel und Verwechselungen voller Prahlerei und Feigheit um den Helden Don Horribilicribrifax von Donnerkeil auf Wüsthausen. Schließlich finden sich die Paare doch und Diener Florian freut sich: »Hochzeiten über Hochzeiten! Was werde ich Marcepan bekommen!«

74 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon