Kriminalpsychologie

[696] Kriminalpsychologie, der Name für mehrere, sich in ihrem Umfang keineswegs deckende Begriffe. Am engsten fassen ihn die, welche darunter die »Lehre von den Verbrechensmotiven« verstehen; diese Fassung läßt sich nicht ganz rechtfertigen, da K., psychologia criminalis, dem Wortlaut nach nichts andres bedeutet als Psychologie, die sich auf das Verbrechen bezieht. Gerechtfertigter ist daher die Begriffsbestimmung dahin: »Psychologie des Verbrechers«, wobei allerdings bei der Entwickelung der Disziplin nur einige Erscheinungen aus dem Seelenleben des Verbrechers herausgegriffen und behandelt werden. Eine dritte Fassung geht dahin, unter K. die Lehren der allgemeinen Psychologie zu verstehen und anzuwenden, die in der Behandlung der Verbrecher Verwertung finden; also Psychologie des Verbrechers, der Zeugen, Sachverständigen, Richter, Geschwornen etc. oder »Lehre von den seelischen Vorgängen im ganzen Strafprozeß«. Die verbreitetste Auffassung ist heute die als Psychologie des Verbrechers, wobei allerdings dermalen hauptsächlich nur einzelne Kapitel der maßgebenden Frage, namentlich die der Verantwortlichkeit, eingehend behandelt werden. Der Stand der Frage wurde namentlich vom Psychiater Näcke (Hubertusburg) im 17. Bande der v. Lisztschen »Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft« präzisiert, wo er die Arbeiten von Baer, Kurella, Ellis, Marro, Dallemagne, Friedmann, Houzé, Colajani, Kirn, Leppmann, Nicolson u. a. bespricht und zu dem Schlusse kommt, die Psychologie des Verbrechers (als Objekt) bringe nichts Spezifisches, sondern nur Quantitätsunterschiede. Von einzelnen kriminalpsychologischen Themen sind einige besonders bedeutsam geworden; so die Frage, wie die Nomenklatur für die Unzurechnungsfähigkeit in den Gesetzen zu fassen sei. Noch wichtiger ist die Frage über die strafrechtliche Zurechnungsfähigkeit und die Freiheit des menschlichen Willens, die eine durch die Bedeutung des Themas allerdings gerechtfertigte Menge von Literatur hervorgerufen hat, sowie vom gesetzgeberischen Standpunkt aus die Frage nach der verminderten Zurechnungsfähigkeit. Vgl. H. Groß, Kriminalpsychologie (2. Aufl., Leipz. 1905); Hoche, Handbuch der gerichtlichen Psychiatrie (Berl. 1901); Sommer, K. und strafrechtliche Psychopathologie auf naturwissenschaftlicher Grundlage (das. 1904); »Monatsschrift für K. und Strafrechtsreform« (hrsg. von Aschaffenburg, Heidelb. 1904 ff.); Petersen, Willensfreiheit, Moral und Strafrecht (Münch. 1905).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 11. Leipzig 1907, S. 696.
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