Pflichtteil

[744] Pflichtteil (lat. Portio legitima auch bloß Legitima) ist derjenige Teil des Nachlasses, der einem gesetzlichen Erben vom Erblasser nur aus ganz besondern, gesetzlich festgelegten Gründen entzogen werden kann. Von einem Noterben (s. d.) unterscheidet ein Pflichtteilsberechtigter sich dadurch, daß er nicht das Recht hat, Erbe zu werden, sondern nur das Recht auf einen Teil des Wertes der Erbschaft. Der P. besteht in der Hälfte des gesetzlichen Erbteils. Pflichtteilsberechtigte sind nur Abkömmlinge des Erblassers, dessen Eltern und der Ehegatte. Auf den P. angerechnet wird, was der Berechtigte vom Erblasser unter Lebenden mit der Bestimmung erhalten hat, daß er es sich anrechnen lassen muß. Wurde er mit einem Vermächtnis bedacht, so kann er dies ausschlagen und dafür seinen P. verlangen, gleichviel, ob er dadurch mehr oder weniger oder den gleichen Betrag erhält. Hat er einen Erbteil erhalten, der geringer ist als die Hälfte des gesetzlichen Erbteils, so kann er Ergänzung bis zu diesem Betrag verlangen. Der Berechnung des Pflichtteils wird der Wert des Nachlasses im Augenblick des Erbfalles zugrunde gelegt. Dieser Wert ist erforderlichenfalls durch Schätzung festzustellen, eine vom Erblasser aufgestellte Wertbestimmung ist nicht maßgebend. Hierbei bleiben Rechte und Verbindlichkeiten, die von einer aufschiebenden Bedingung abhängig sind, außer Ansatz, solche mit auflösender Bedingung kommen voll in Ansatz. In die Erbschaft darf der Pflichtteilsberechtigte auch Schenkungen einrechnen, die der Erblasser innerhalb der letzten zehn Jahre seines Lebens gemacht hat, regelmäßig jedoch nicht Schenkungen an den Ehegatten und solche, durch die er einer Sittlichkeits- oder Anstandspflicht genügte. Rechnet der Pflichtteilsberechtigte Schenkungen des Erblassers in die Erbschaft ein, so muß er eine ihm selbst vom Erblasser gemachte Schenkung auch einrechnen, selbst wenn ihn hiervon der Erblasser seinerzeit befreit hat. Die Erben schulden den P. oder dessen Ergänzung in der Weise, daß jeder den etwaigen eignen P. behalten und seinen Vermächtnisnehmern so viel Abzüge machen darf, als nötig sind, um die Last des Pflichtteils verhältnismäßig zwischen ihm und ihnen zu verteilen. Jedoch kann auch der Erblasser Bestimmungen über die Tragung der Pflichtteilslast treffen. Der Pflichtteilsanspruch entsteht mit dem Erbfall, ist vererblich und veräußerlich und verjährt gegen den oder die Erben in 30 Jahren[744] nach Eintritt des Erbfalles, bez. in 3 Jahren vom Augenblick der Kenntnis des Erbfalles. Ausnahmsweise besteht das Pflichtteilrecht des Bürgerlichen Gesetzbuches nicht für die ehemals reichsfürstlichen und reichsadligen Familien, für die vor 1900 den letztern landesgesetzlich gleichgestellten adligen Familien, in denen zu Ende des Jahres 1899 das landesgesetzliche Pflichtteilrecht nicht galt (Art. 57,58 u. 216 des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuch). Entziehen kann der Erblasser durch letztwillige Verfügung unter Angabe des Grundes den P.: a) seinem Ehegatten wegen eines die Scheidung begründeten Verschuldens; b) seinem Vater oder seiner Mutter, wenn sie ihm, seinem Ehegatten oder einem seiner Abkömmlinge nach dem Leben getrachtet oder gegen ihn oder seinen Ehegatten eines Verbrechens oder eines schweren vorsätzlichen Vergehens sich schuldig machten oder die ihm gegenüber obliegende gesetzliche Unterhaltspflicht böswillig verletzten; c) einem Abkömmling, wenn dieser ihn oder seinem Ehegatten, falls er von ihm abstammt, vorsätzlich körperlich mißhandelt oder wider seinen Willen einen ehrlosen oder unsittlichen Lebenswandel bis zu dem Erbfall führt, ebenso wenn gegen ihn die unter b) angegebenen Gründe vorliegen. Die Entziehung ist unwirksam, wenn der Erblasser verziehen hat. Ist der Abkömmling ein Verschwender oder erheblich überschuldet, so kann ihn der Erblasser in der Verfügung über den P. so beschränken, daß nach dem Tode des Abkömmlingsdessen gesetzliche Erben das ihnen Hinterlassene oder den ihnen gebührenden P. als Nacherben (s. d.) oder Nachlaßvermächtnisnehmer nach den Verhältnissen ihrer gesetzlichen Erbteile erhalten sollen. Ebenso kann er die Verwaltung einem Testamentsvollstrecker übertragen, so daß der Abkömmling nur auf den jährlichen Reinertrag Anspruch hat. Über Ausgleichungspflicht der Abkömmlinge untereinander s. Ausgleichung. Vgl. Bürgerliches Gesetzbuch, § 2303 und 2338; Schiffner, Pflichtteil, Erbenausgleichung und die sonstigen gesetzlichen Vermächtnisse (Jena 1897); Strohal, Das Pflichtteilsrecht der entferntern Abkömmlinge und der Eltern des Erblassers (Leipz. 1899).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 15. Leipzig 1908, S. 744-745.
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