Vorwort

Als vor einer Reihe von Jahren die Herren Verleger der Jahnschen Mozartbiographie an mich mit dem Ansuchen herantraten, eine neue Auflage dieses Werkes vorzubereiten, war ich mir der Unlösbarkeit dieser Aufgabe von vornherein bewußt. Der Bearbeiter der beiden letzten Auflagen, Hermann Deiters, sah pietätvoll seine Hauptaufgabe darin, den Charakter des Jahnschen Werkes streng zu wahren; er beschränkte sich deshalb im wesentlichen auf Zusätze und Änderungen biographischer und antiquarischer Art und ließ alles Übrige, vor allem den ganzen kunsthistorischen und ästhetischen Teil, unberührt. Das war durchaus berechtigt, solange die Forschung nicht erheblich über die Ergebnisse Otto Jahns hinausgediehen war. Aber schon in seiner vierten Auflage wurde es dem Werke immer schwerer, seine alte Führerstellung zu behaupten. Die Grundlagen unserer geschichtlichen Erkenntnis haben sich der Zeit Jahns gegenüber bedeutend erweitert, Ziele und Methode der Forschung sind andere geworden, und endlich hören und empfinden wir heutzutage Mozarts Kunst wesentlich anders als unsere Großväter. Der Satz, daß die Biographien großer Männer mindestens alle fünfzig Jahre neu geschrieben werden müssen, fordert auch in unserem Falle gebieterisch sein Recht. Jetzt handelt es sich nicht mehr um Jahn, sondern um Mozart. Ein Hineinarbeiten all der einschneidenden, neuen Forschungsergebnisse in das alte Werk hätte einen Wechselbalg ergeben, der die Jahnsche Einheit zerstört und die Bildung einer neuen empfindlich gehemmt hätte; so mußte ich mich wohl oder übel zu einem vollständigen Neubau entschließen.

Den Vorwurf der Pietätlosigkeit gegenüber Otto Jahn kann ich mit gutem Gewissen zurückweisen. Wer da glaubt, das neue Werk verfolge den Hauptzweck, zu zeigen, wie herrlich weit wir es seit Jahn gebracht hätten, verkennt meinen Ehrgeiz vollständig. Es ist kein Kunststück, einem sechzig Jahre alten Werke gegenüber den Überlegenen zu spielen, und der mitleidige Ton, in dem manche neuere Autoren bereits über Jahn reden, spricht nicht gerade für ihren geschichtlichen Sinn. Niemand weiß besser als ich, daß Jahns Mozart eine Leistung war, deren geschichtliche Bedeutung nicht wieder erreicht, geschweige denn überboten werden kann. Mögen ihre Ergebnisse heutzutage auch veraltet sein, ihre Methode und ihre ganze Art,[5] ihren Stoff zu behandeln, die Besonnenheit und Begeisterung so schön zu einen weiß, bilden ein Vermächtnis, dem sich auch die neueste Mozartforschung nur zu ihrem eigenen Schaden zu entziehen vermag.

Als Musikforscher war Jahn ein ganz ausgesprochener Romantiker. Schon die Tatsache, daß er die Biographie als Hauptfeld seiner Tätigkeit erwählte, weist ihn in das Jugendzeitalter unserer Wissenschaft, wo die Auffassung von der Kunstgeschichte als einer Künstlergeschichte noch deutlich nachwirkt. Die naive, anekdotenhafte Art der älteren Zeit liegt zwar ebensoweit hinter ihm, wie ihr Drang, alles zu rationalisieren. Er kennt als Romantiker die Abhängigkeit des einzelnen Künstlers von allgemeinen Kräften, die Macht des Unbewußten und Geschichtlichen, aber er läßt sich dadurch nicht etwa zur Leugnung der Persönlichkeit verführen. Im Gegenteil, eines seiner Hauptverdienste besteht darin, daß er, namentlich durch seine Analysen, auch in der Musikgeschichte das Verständnis für die künstlerische Individualität geweckt und geschärft hat. Damit verband sich bei ihm allerdings sofort ein weiterer, echt romantischer Zug: das historische Betrachten und Zergliedern der Mozartschen Kunst wurde ihm unter der Hand zu einem Idealisieren, sie erschien ihm als ein fernes Märchenland, zu dem er in ewig ungestillter Sehnsucht hinblickte. Verstärkt wurde dieser Drang noch durch den eben damals auf der ganzen Linie entbrannten Kampf um Wagner, in den Jahn bekanntlich als entschiedener Gegner Wagners eingegriffen hat. Auch sein Mozart trägt die deutlichen Spuren davon. Wenn gerade Mozart geraume Zeit das seltsame Los gefallen ist, als reinster Vertreter der alten, »wahren« Kunst und ihrer »geheiligten« Formenwelt gegen die bösen Neuerer ausgespielt zu werden, so geht das in erster Linie auf Jahn zurück. Diese Kanonisierung Mozarts bezog sich aber nicht allein auf die Zeit Jahns, sondern auch auf das Verhältnis Mozarts zu seinen Vorgängern. Für Jahn strebt die ganze Entwicklung auf den einen, gewaltigen Höhepunkt Mozart zu, in dem sich alles Bisherige, Unfertige und Unvollkommene vollendet. Besonders die italienische Kunst hatte unter dieser Betrachtungsweise zu leiden, in der ganz deutlich das mächtig erstarkende Nationalbewußtsein der deutschen Romantik nachwirkt. Unterstützt wurde sie durch die der romantischen Geschichtsschreibung eigentümliche Art der Quellenbenutzung, die sich noch mit einer Auswahl von Quellen begnügte und danach eine allgemeine Anschauung von den Dingen zu gewinnen suchte. Hier ist der Punkt, an dem Jahns Werk zuerst abbröckeln mußte: die geschichtlichen Grundlagen seines Mozartbildes erwiesen sich als zu schwach, und damit mußte über kurz oder lang auch der darüber errichtete Bau ins Wanken geraten.

Das von Jahn entworfene Idealbild Mozarts trägt aber auch in seiner Ausführung bis in Einzelheiten hinein das Gepräge der Romantik. Das Publikum, für das es bestimmt ist, ist dasselbe wie das, für dasMendelssohn, Schumann und Brahms ihre Werke schufen: das deutsche Bürgertum jener Tage mit seiner geistigen Regsamkeit und seiner feinen literarischen Bildung.[6] Daher rührt die Wahrheit und Klarheit der Jahnschen Darstellung, die so wohltuend von der Windbeutelei und Selbstbespiegelung mancher moderner Autoren absticht, die erlesene Kunst in Aufbau und Ausdruck, die allem Aufdringlichen und Unechten peinlich aus dem Wege geht. Aber eben dieser Charakter läßt auch die Begrenztheit des Jahnschen Mozartideals deutlich erkennen: es hat etwas Bürgerliches, Wohlanständiges, wenn auch im allerbesten Sinne, es gleicht einem Mozartbilde, das für die gute Stube eines deutschen Bürgerhauses bestimmt ist, geschmackvoll und fein ausgeführt, aber doch im wesentlichen auf Geschmack und Anschauungswelt der Bewohner berechnet. Das zeigt sich schon rein biographisch in dem Streben, an Mozarts und der Seinen Persönlichkeiten alles, was vom Standpunkte gemeiner Moral nicht ganz einwandfrei ist, zu mildern und abzuschleifen, bei seinen verschiedenen äußeren Konflikten, besonders mit Erzbischof Hieronymus, unbedingt Partei für ihn selbst zu nehmen u. dgl. Unter demselben Zeichen steht aber auch der künstlerische Teil. Es ist sehr bezeichnend, daß Jahn es als einen Hauptvorzug der Mozartschen Kunst empfindet, daß sie den Gärungsprozeß, den sie ihren Schöpfer gekostet habe, dem Hörer erspare. Mozart ist für ihn der Meister des Fertigen, Abgerundeten, des vollendeten Ebenmaßes. Jahn kennt an ihm keine Überraschungen, keine seelischen Abgründe, keine plötzlich hervorschießenden Leidenschaften. Mozart, der seiner eigenen Zeit noch als unheimlicher Romantiker gegolten hatte, wurde jetzt, im Zeitalter der Romantik, zum Klassiker, und zwar wie ihn sich das damalige, ruheselige Bürgertum dachte, im Sinne einer reinen, von keinem Erdenrest der Leidenschaft getrübten, nachNietzsches Wort apollinischen Schönheit. Das Jahnsche Mozartland gleicht den elysischen Gefilden desGluckschen »Orfeo«: »che puro ciel, che chiaro sol!« Das war nicht nur abermals eine Spitze gegen die zeitgenössische Oper Wagners, sondern auch eine fühlbare Reaktion gegen das Treiben der älteren romantischen »Beethovener«, für die Mozart und Haydn bereits zum alten Eisen gehörten. Hier hat Jahn zur Herstellung des Gleichgewichts ungemein viel beigetragen.

Sein Werk gehört somit nicht allein der Geschichtsschreibung, sondern auch der Geschichte seiner Zeit an, indem es die Richtung ihrer Ideen und ihres musikalischen Empfindens mit besonderer Treue widerspiegelt. Die heutige Zeit sucht von der Romantik loszukommen; sie ist vom idealistischen, konstruktiven Denken längst zum empirischen, realistischen übergegangen und damit auch in der Kritik und Benutzung der Quellen weit strenger geworden. Sie begnügt sich nicht mehr mit einer Auswahl, sondern strebt nach dem Ganzen. Aber auch der Künstlerpersönlichkeit als solcher tritt sie anders gegenüber. Sie drängt auch hier auf dem Wege der Empirie nach Vergeistigung, faßt das Problem vor allem von der psychologischen Seite und sucht es durch möglichst feine Zergliederung des Stils, als des Allerpersönlichsten, zu lösen. Jahn war hier mit seinen Analysen bereits auf dem besten Wege, wurde aber durch sein vorgefaßtes Ideal[7] immer wieder davon abgelenkt. Gewiß ist es keiner Zeit und keinem Biographen gegeben, eine solche Aufgabe erschöpfend zu lösen, denn es gehört zum Wesen des schöpferischen Genius, daß er jeder Generation wieder andere Seiten seines Wesens offenbart. Aber wir haben wenigstens die Pflicht, uns über unsere jeweilige Stellung zu ihm immer wieder aufs neue Rechenschaft abzulegen und unsere geistige Selbständigkeit unseren Großvätern gegenüber zu wahren.

Das ist aber im Falle Jahn-Mozart nur allzulange versäumt worden. Die verhängnisvollste Folge des Jahnschen Werkes war die lange Zeit allgemein verbreitete Ansicht, daß damit alle Arbeit nicht nur über Mozart, sondern auch über seine Zeit endgültig erledigt sei. Es begannen Jahrzehnte des Ausschreibens und damit des Verwässerns der Jahnschen Ergebnisse, goldene Zeiten für den Musikjournalismus, die bis in unsere Tage hineinreichen. Das Jahnsche Mozartbild, das zur Zeit seiner Entstehung noch eine lebendige Kraft gewesen war, begann, je mehr es in die breiteren Volksschichten hinabdrang, desto mehr zu erstarren und zu verblassen. Schließlich blieb ein ganz verblasenes, formales Schönheitsideal übrig, hinter dem das Beste an Mozart, seine Persönlichkeit, ganz verschwand. Er war jetzt wirklich der »ewig heitere Sonnenjüngling Amadeus« unserer jungen und alten Backfische geworden, der außerdem den großen Vorzug hatte, daß man sich geistig bei ihm fast gar nicht mehr anzustrengen brauchte. Kein Wunder, daß so mancher, dem dieses philiströse Ideal nicht mehr genügte, Mozart überhaupt den Rücken kehrte und sich dabei noch besonders fortschrittlich dünkte. So schwanken die Urteile über Mozart lange Zeit zwischen einer bei aller Ehrlichkeit recht epigonenhaften und zahnlosen Verehrungsmichelei (man lese z.B. die Ausführungen in E. Hanslicks Kritiken) und hochmütiger Ablehnung hin und her, die in einem Falle dem Gegner sogar bewußte Heuchelei vorgeworfen hat. Und doch mehren sich sowohl bei den Künstlern als bei den Forschern die Anzeichen dafür, daß man auch im Falle Mozart über die Anschauungen der Romantik hinauszukommen strebte. Man braucht nur R. Wagners Äußerungen über Mozart mit denen R. Schumanns zu vergleichen, um den großen Fortschritt zu erkennen. Von wissenschaftlicher Seite aus erfolgte der erste kritische Ansturm gegen Jahns Theorie von Mozarts absoluter Überlegenheit über alle Vorgänger und Zeitgenossen durch Fr. Chrysander in seinen bekannten Aufsätzen über den Mitridate, aber es sollte noch über zwei Jahrzehnte dauern, bis der hier angesponnene Faden, wenigstens was Mozarts Opern anlangte, wieder aufgenommen wurde. Fürs erste folgten alle zusammenhängenden Arbeiten über Mozart dem Beispiel von Hermann Deiters und behielten die Jahnsche Grundlage bei. Am selbständigsten tat dies O. Fleischer in seinem Mozart (Berlin 1900); er hat das Verdienst, auf wichtige Punkte, wie das Verhältnis Mozarts zu Joh. Christ. Bach, als erster hingewiesen zu haben und gibt außerdem im Anhang eine sehr sorgfältige Bibliographie. Weit weniger selbständig ist das umfangreiche Buch von [8] K. Storck, Mozart, Stuttgart 1908, das sich aufs engste, zum Teil bis in den Ausdruck hinein, Jahn anschließt. Wo es über ihn hinauszugehen versucht, stehen wir auf einem geschichtlich sehr schwankenden Boden, und auch die zahl- und umfangreichen kulturgeschichtlichen Erörterungen, die übrigens für eine bestimmte Art moderner Kunstschriftstellerei typisch sind, können trotz ihren geistreichen Einzelheiten die Tatsache nicht aus der Welt schaffen, daß über Jahn hinaus mit diesem Buch zum mindesten kein Fortschritt erfolgt ist. Der Mozart von Leopold Schmidt (Berlin 1912) vollends bekennt sich ganz zur populären Musikschriftstellerei.

Bessere Ergebnisse als diese Epigonen Jahns hatte die wissenschaftliche Kleinarbeit über Mozart seit 1889 zu verzeichnen. Bibliographisch ist hier nach Fleischer H. de Curzon mit seinem äußerst sorgfältigen Essai de bibliographie mozartine, Paris 1906, zu nennen, einem Versuch, die gesamte Literatur über Mozart von den Anfängen bis 1905 zusammenzustellen. Merkwürdigerweise ist es zu einer wissenschaftlich stichhaltigen, Mozart allein gewidmeten Zeitschrift, wie wir sie in den Bach- und Gluckjahrbüchern haben und zeitweise auch in dem Beethoven-und Wagner-Jahrbuche hatten, sehr lange nicht gekommen. Ihre Stelle vertreten nach wie vor die vonJoh. Ev. Engl, dem unermüdlichen Vorkämpfer Mozarts, herausgegebenen und zum größten Teil auch selbst verfaßten Jahresberichte des Salzburger Mozarteums. Daneben sind seit 1895 die Mitteilungen der Berliner Mozartgemeinde getreten, von Rud. Genée begründet und im wesentlichen für ein Laienpublikum bestimmt. Daher stammt der ungleiche Wert ihrer Beiträge, von denen sich namentlich die des ersten Herausgebers mehr durch warme Begeisterung als durch gründliche Sachkenntnis auszeichnen; daneben stehen freilich Beiträge von A. Kopfermann, M. Friedländer und E. Lewicki, dem feinen neueren Kenner Mozarts, denen die Mozartforschung bleibende Förderung verdankt. Seit 1. November 1918 hat endlich der Zentralausschuß der Mozartgemeinde in Salzburg mit der Herausgabe von Mozarteums-Mitteilungen begonnen, die wohl dazu berufen sein können, das fehlende Mozartjahrbuch großen Stils zu ersetzen. Die Leitung besorgte R. von Lewicki in Wien.

Auch biographisch sind entscheidende Fortschritte gemacht worden. Was die Briefe anlangt, so ist es, obwohl das Jahnsche Werk deren große Wichtigkeit jedermann handgreiflich vor Augen führte, seltsamerweise recht lange bei der Veröffentlichung bloßer Blütenlesen geblieben, die mit wenigen Ausnahmen über den Stand der lange über Gebühr geschätztenNohlschen Sammlung nicht wesentlich hinauskamen. Die Jahre 1906–1911 brachten deren nicht weniger als fünf: von K. Storck (Stuttgart 1906), M. Weigel (Berlin 1910), A. Leitzmann (Leipzig 1910), C. Sachs (Berlin 1911) und H. Leichtentritt (Deursche Bibliothek 1912). Die langersehnte kritische Gesamtausgabe hat erst L. Schiedermair in seinen Briefen W.A. Mozarts und seiner Familie, München und Leipzig, G. Müller 1914, in fünf starken Bänden vor gelegt, von denen der fünfte eine Ikonographie enthält. Die[9] beiden ersten bringen Wolfgangs Briefe, in den beiden folgenden fällt der Löwenanteil denen des Vaters zu; die Mutter ist mit 40, die Schwester mit 16, Konstanze Mozart mit 4 und Maria Anna Thekla Mozart, das »Bäsle«, mit 2 Briefen vertreten. Die Sammlung ist mit musterhafter Sorgfalt angelegt, nur ganz wenige, unwesentliche Partien in den Briefen Leopolds sind weggelassen. Orthographie und sprachlicher Ausdruck der Originale sind peinlich gewahrt, ein kurzer, fast allzu kurzer Kommentar gibt über die in den Briefen vorkommenden Persönlichkeiten, sonstigen äußeren Verhältnisse und Werke Mozarts Auskunft. So liegt hier ein Quellenwerk ersten Ranges vor, das der Mozartbiographie endlich die lang vermißte sichere Grundlage gibt. Namentlich die Persönlichkeiten der beiden Hauptpersonen, des Vaters und des Sohnes, treten hier erstmals ans helle Licht des Tages, und das macht die Lektüre dieser Bände auch für den Laien zu einem besonderen Genuß. Sie verdienen überhaupt in der Geschichte der Briefliteratur einen Ehrenplatz: der schroffe Gegensatz, den sie zu der empfindsamen und schöngeistigen Briefstellerei jener Tage bilden, lehrt deutlich, daß dieses als sentimental verschrieene Jahrhundert doch auch seine starken, ja derben Seiten hatte. Der Herausgeber hat es vorgezogen, die einzelnen Glieder der Familie in den Briefen getrennt vorzuführen. Mir will aber doch scheinen, als wäre die dialogische Anordnung besser gewesen. Wir beklagen es mit Recht an manchen Briefsammlungen, daß nur der eine Schreiber zu Worte kommt. Denn der Brief ist niemals ein selbständiges Dokument, sondern setzt ein Gegenüber voraus, dem der Schreiber eine bestimmte Einwirkung auf sich selber zugesteht, indem er sich mit ihm in Beziehung setzt. Bei den Mozarts sind wir nun so glücklich, in den meisten Fällen, und besonders was das Wichtigste, das Verhältnis von Vater und Sohn, betrifft, Wirkung und Gegenwirkung genau verfolgen zu können. Wie fein heben sich die Briefe beider voneinander ab, die impressionistischen Wolfgangs und die pädagogischen Leopolds, und wie klar treten die zu Zeiten hochdramatischen Spannungen zwischen beiden heraus! Eine dialogische Folge hätte streckenweise geradezu eine Biographie in Briefen ergeben, die sich der Leser bei dem gewählten Verfahren nicht ohne Mühe aus zwei Bänden erst selbst zusammenstellen muß. Sehr dankenswert, wenn auch etwas buntscheckig ausgefallen ist die Bilderschau (wie ich die »Ikonographie« des doch nicht bloß für klassische Philologen bestimmten fünften Bandes umtaufen möchte); merkwürdigerweise fehlt darin eine recht wichtige Person: Süßmayer. Sollte sich von ihm in Wien gar kein Bild mehr erhalten haben?

Auch A. Leitzmanns Schrift über Mozarts Persönlichkeit, Leipzig 1914, ist der Biograph Mozarts zu Dank verpflichtet. Sie stellt die Urteile der Zeitgenossen über Wesen und äußeres Auftreten des Meisters annähernd vollständig zusammen. Die Zeugnisse sind lange nicht alle gleichwertig, geben aber in ihrer Gesamtheit doch anschaulich den Eindruck wieder, den Mozarts Wesen auf die Umwelt machte. Nicht wenige sind allerdings für die[10] Persönlichkeit derer, von denen sie herkommen, weit bezeichnender als für die des Meisters, dem sie gelten.

Was die Chronologie von Mozarts Werken anbelangt, so erschien zunächst 1905 zu Leipzig eine vonPaul Graf von Waldersee besorgte, wesentlich erweiterte und verbesserte zweite Auflage des alten Köchelschen Verzeichnisses, dieses neben Jahn wohl wichtigsten älteren Mozartwerkes. Sie benützt die Zusätze Köchels in seinem Handexemplar und berücksichtigt außerdem die gesamten Forschungsergebnisse von 1877 ab, dem Sterbejahr Köchels. Anlage und Ziele des Werkes sind dieselben geblieben, und auch die Chronologie der Mozartschen Werke hat keine wesentlichen Änderungen erfahren. Daß hier freilich noch recht viel zu tun übrigblieb, namentlich was die Werke bis etwa 1780 anbelangt, hat erst die spätere Forschung erwiesen, denn Köchel und Waldersee folgen bei der Datierung der Werke nach stilkritischen Grundsätzen durchaus den vielfach überholten Ergebnissen Otto Jahns. Unvergessen soll dieser 2. Auflage dagegen die von C.V. Reusch verfaßte Biographie Köchels bleiben, die im Vorwort abgedruckt ist.

Von den ästhetischen und historischen Arbeiten über Mozart können hier natürlich nur die grundlegenden erwähnt werden, alle Spezialarbeiten müssen der Einzeldarstellung vorbehalten bleiben. Es handelt sich dabei teilweise um Forschungen, die sich nicht einmal speziell mit Mozart beschäftigen, sondern mit seinen Vorgängern und Zeitgenossen, aber gerade dadurch eine völlig neue Grundlage für die Erkenntnis seines Stils geschaffen haben. Zunächst kamen sie dem Instrumentalkomponisten Mozart zugute. 1902 legte H. Riemann den ersten Band seiner Mannheimer Sinfoniker in den bayrischen Denkmälern vor, bald darauf ließen die österreichischen eine Reihe von Wiener Vorklassikern folgen. Damit fiel auf die Wurzeln des klassischen und damit auch des Mozartschen Instrumentalstiles ein ganz neues Licht, von dem bei Jahn kaum ein schwacher Schimmer aufdämmerte. Alle drei klassischen Meister traten in einen völlig neuen, geschichtlichen Zusammenhang, als dessen wichtigste Glieder die drei Sinfonikerschulen in Mannheim, Wien und Norddeutschland erschienen. Speziell für Mozart stellte sich dabei während seiner Entwicklungsjahre eine enge Abhängigkeit von den Mannheimern heraus, namentlich seit uns durch H. Riemanns Verdienst die Kunst Joh. Schoberts wieder nähergerückt wurde. Immer klarer treten Chr. Bach und Schobert als die beiden Meister hervor, die auf Mozarts Entwicklung den größten Einfluß geübt haben, einen Einfluß, der Jahn so gut wie unbekannt geblieben war. Im Anschluß an diese Forschungen sind in neuester Zeit, besonders in Wien unter Führung Guido Adlers, stilkritische Untersuchungen über die klassische Wiener Kunst angestellt worden, so namentlich von W. Fischer im dritten Heft von Adlers Studien zur Musikwissenschaft. Sie haben sich auch für Mozart insofern als besonders fruchtbar erwiesen, als O. Jahn sich mit Mozarts Stil nur ganz allgemein und nicht systematisch beschäftigt hatte. Über Mozarts allererste Entwicklung[11] hat ein Aufsatz des Verfassers dieses Buches über L. Mozarts Notenbuch von 1762 (Gluckjahrbuch III 51 ff.) manche neuen Aufschlüsse gebracht, zumal was sein Verhältnis zu der älteren norddeutschen Schule von Sperontes ab betrifft.

Länger hat es gedauert, bis man auch hinsichtlich der Opern Mozarts im Anschluß an Chrysanders Ausführungen über den Standpunkt Jahns hinauskam. Der erste entscheidende Vorstoß ging von H. Kretzschmar aus in einem Aufsatz über Mozart in der Geschichte der Oper (Jahrbuch der Musikbibliothek Peters 1905, abgedruckt in den Gesammelten Aufsätzen II, 257 ff.). In musterhafter Klarheit und Kürze werden hier die Wege gewiesen, die die Forschung bezüglich der Opern Mozarts zu gehen hat. Der große geschichtliche Hintergrund, der bei Jahn teils überhaupt fehlte, teils in ganz verzeichneter Form vorlag, tritt in festen Umrissen heraus, und namentlich die italienische Kunst kommt erstmals zu ihrem historischen Recht. Natürlich tritt dadurch auch Mozarts eigenes Schaffen in ein neues Licht. Welche Bedeutung übrigens der Kunst seiner Vorgänger und Zeitgenossen nicht nur für Mozart, sondern auch als selbständigen Kunstwerken zukommt, ließ sich schon aus einer Reihe von Neudrucken von Werken Holzbauers, Grauns, Jommellis, Traëttas, Gaßmanns und Umlaufs in den verschiedenen Denkmälerpublikationen entnehmen, auch hat die in letzter Zeit wieder bedeutend regere Gluckforschung für Mozart manches Neue abgeworfen.

Den größten Fortschritt über Jahn hinaus stellt das große Werk der beiden französischen Gelehrten T. de Wyzewa und G. de Saint-Foix dar: W.A. Mozart, Sa vie musicale et son oeuvre, de l'enfance à la pleine maturité (1756–1777), Paris 1912. Obwohl es nur die ersten 21 Jahre des Meisters behandelt und sich für die übrigen mit einem summarischen Überblick begnügt, hat es doch die Mozartforschung auf ganz neue Grundlagen gestellt. Schon die Methode ist zwar nicht völlig neu, aber doch nie zuvor in der Musikgeschichte in so großem Maßstabe und mit solcher Konsequenz angewandt worden. Sie ist durchaus moderner, kunstpsychologischer Natur und die schärfste Absage an die besonders von der Romantik aufgestellte Theorie von dem engen Zusammenhang zwischen der Kunst eines Meisters und seinem äußeren Leben. Das Leben kommt für die beiden Verfasser nur so weit in Frage, als es Mozart neue künstlerische Eindrücke vermittelt hat. Hier allein liegt für sie die Quelle von Mozarts Kunst, nicht in den verschiedenen Konflikten und Krisen seines äußeren Lebens. Diese Betrachtungsweise ist von der ganz richtigen, neuen Einsicht eingegeben, daß Mozart von allen großen Musikern der für künstlerische Eindrücke empfänglichste, anpassungsfähigste und -bedürftigste war und sich diese Gabe frischer Empfindung bis an sein Ende bewahrt hat. Die Verfasser gehen denn auch mit bewundernswerter Folgerichtigkeit zu Werke und teilen das Schaffen Mozarts bis 1777 in nicht weniger als 24 Perioden ein, von denen jede einzelne vorwiegend unter dem Zeichen eines oder mehrerer künstlerischer Vorbilder steht; für die spätere Zeit lassen sie es bei 10 Perioden[12] bewenden. Die Ergebnisse sind für die formale Seite der Mozartschen Kunst geradezu verblüffend, besonders was die Instrumentalwerke betrifft. Es ist den Verfassern vor allem gelungen, eine ganz neue Chronologie der Werke Mozarts aufzustellen, die die Jahnsche und Köchelsche in zahlreichen Punkten über den Haufen wirft, und man staunt über den Scharfsinn, mit dem bisher für undatierbar gehaltene Werke manchmal bis auf den Monat hinaus bestimmt werden; dabei ist die Mehrzahl dieser Datierungen überzeugend oder doch in hohem Grade wahrscheinlich. Was mit jener Methode überhaupt zu erreichen war, ist hier tatsächlich erreicht, und im Hinblick auf die Fülle neuer Ergebnisse ist bei diesen beiden Bänden das oft mißhandelte Beiwort »epochemachend« wirklich berechtigt. Nur in der Oper hätte auch mit jener Methode mehr erzielt werden können. Hier reicht die Quellenkenntnis der Verfasser seltsamerweise lange nicht so weit wie in der Instrumentalmusik; die einzelnen Strömungen zu Mozarts Zeit sind nicht klar geschieden, geschweige denn die einzelnen Meister in ihrer Eigentümlichkeit richtig erfaßt, so daß auf diesem Gebiete trotz der feinen Bemerkungen über die Entwicklung der einzelnen Formen noch viel zu tun übrig bleibt. Ein wichtiges neues Ergebnis ist aber auch hier zu verzeichnen: der Anteil der Pariser opéra comique an Mozarts Kunst stellt sich als weit größer heraus als man bisher annahm.

Und doch fordert trotz diesen glänzenden Vorzügen das französische Werk durch seine Anlage und seine Ziele zur Kritik heraus, vor allem was das Verhältnis von Leben und Kunst bei Mozart anlangt. Früher sah man die äußeren Schicksale eines Künstlers als die zeugenden Kräfte für sein Schaffen an: der Künstler erlebt nach dieser Lehre zuerst etwas, dann setzt er kraft der ihm verliehenen Gaben dieses Erlebnis in Töne um. Das ist die bekannte Nachahmungstheorie in allen ihren verschiedenen Schattierungen. Wyzewa und Saint-Foix fallen ins andere Extrem, indem für sie zwischen äußerem Leben und künstlerischem Schaffen gar kein Zusammenhang besteht. Mir will aber scheinen, als gingen beide Anschauungen von einer irrigen Voraussetzung aus, nämlich der, daß das Leben eines Genies wie Mozart in derselben Sphäre von Betätigungen und Zufälligkeiten verlaufe wie das des Nichtkünstlers und des bloßen Talentes. Man vergleiche nur einmal Wolfgangs Lebensschicksal mit dem seines Vaters. Leopold war zeitlebens gewaltig stolz darauf, sich das seinige selbst geschmiedet zu haben, und doch besteht es, bei Lichte betrachtet, nur aus einer Kette von Zufällen, die er mit einem größeren oder geringeren Maß von Klugheit teils einfach hinnahm, teils zu seinem Vorteil benutzte. Die Kunst aber war ihm eine willkürliche Beschäftigung, die er ausübte, wenn Berufspflicht oder Neigung ihn trieb, die er jedoch, wenn es ihm richtig schien, auch liegen ließ. Sie war für ihn keine ursprüngliche Lebenskraft, sondern empfing ihre Gesetze von Religion, Moral, höfischer oder bürgerlicher Konvention u. dgl. Für Wolfgang dagegen, das Genie, war das künstlerische Schaffen die allerprimärste Lebensäußerung. Er konnte nicht bloß, wenn er wollte,[13] für ihn gab es überhaupt kein Nacheinander von Wollen und Können, sondern nur ein Müssen. Darum sind seine Werke auch nicht bloß Niederschläge oder Erläuterungen seines Lebens, sondern der Inhalt dieses Lebens selbst. Aber auch seine »äußeren« Schicksale sind deshalb weder »wesentlich« noch »unwesentlich« für seine Kunst, sondern von Anfang an unlöslich mit ihr verbunden, von denselben Trieben und Kräften bestimmt. Alles, was in Leopolds Leben bloßer Zufall gewesen war, verwandelt sich bei seinem Sohne in Schicksal. Daraus erklärt sich so vieles, was dem selbstbewußten Banausen an Mozarts Tun und Lassen »naiv«, »weltfremd« oder gar »unbegreiflich« erscheint. Derselbe Dämon, der ihm seine Werke eingab, hat ihn auch seine Lebensstraße bis ans dunkle Ende geführt.

Aber auch noch einem andern Problem sind die beiden Franzosen die Lösung schuldig geblieben. Sie setzen Mozarts Kunst mosaikartig aus einer Reihe von Einflüssen zusammen, denen er der Reihe nach während seines Lebens, also durch äußeren Zufall, unterlegen sei. Dieser rationalistische Drang, Klarheit und Ordnung in das vielgestaltige Bild hineinzubringen, ist echt französisch. Aber abgesehen davon, daß es ein verhängnisvoller Irrtum ist, das Wesen des Genies durch die Addition von Einflüssen errechnen zu wollen, erhalten wir keine Antwort auf die beiden Hauptfragen: nach welchen Gesichtspunkten traf Mozart die Auswahl unter seinen zahlreichen Vorbildern, und welche Züge hat er sich von jedem einzelnen zu eigen gemacht? Warum haben z.B. Chr. Bach undSchobert tiefere Spuren bei ihm hinterlassen als der doch ungleich bedeutendere Gluck? Schon der gewöhnliche Mensch pflegt ja nichts nachzuahmen, wozu der Keim nicht schon in ihm selbst liegt. Beim Genie aber trägt bereits diese Auswahl das Gepräge des Schöpferischen, sie ist sein erster Versuch, sich der Tradition gegenüber zu behaupten, das ihm Fremde und Hemmende abzustoßen und das Wesensverwandte nicht etwa bloß nach-, sondern zugleich umzubilden und in seinen eigenen Besitz zu verwandeln. Gerade dieser ausschlaggebende Punkt kommt aber bei der Mosaikarbeit der Franzosen nicht zu seinem Recht. Der Anempfinder Mozart drängt den schöpferischen Gestalter viel zu sehr zurück, und damit geht uns über den mit äußerster Peinlichkeit dargestellten Teilen der Blick für das Ganze verloren. Wir sollten aber nie vergessen, daß das Größte an Mozart sein eigenes Ich und dessen Gestaltungskraft ist, nicht das Material, an dem sie sich erprobt hat, und es ist die Hauptpflicht des Biographen, dies sein Eigenstes zu verfolgen, das in den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung zwar in verschiedener Form zum Ausdruck gelangt, aber im Grunde genommen doch stets dasselbe bleibt. Mozarts Kunst gleicht einem fein geschliffenen Kristall, der bei wechselndem Lichte immer neue Farben aufleuchten läßt, aber seinen Grundstoff doch niemals ändert.

Bei der Bedeutung des französischen Werkes für die Mozartforschung war es mit Freuden zu begrüßen, daß es sehr bald nach seinem Erscheinen auch in Deutschland eingebürgert wurde. Das geschah, in Form einer paraphrasierenden Verkürzung, im ersten Bande des zweibändigen Werkes von [14] Arthur Schurig, W.A. Mozart, sein Leben und sein Werk, Leipzig 1913. Schurig bekennt sich selbst als »Vasallen« der beiden Franzosen und hält sich, was die geschichtliche und ästhetische Seite anlangt, streng an ihre Ergebnisse. Seine Hochachtung vor ihnen ist ebenso groß, wie seine Wertschätzung Otto Jahns gering ist. Das Werk ist die bisher schärfste Absage an Jahns romantisches Mozartideal und damit geistesgeschichtlich nicht ohne Bedeutung. Schurig fühlt sich dazu berufen, mit dem alten Wust einmal ordentlich aufzuräumen und geht in seiner temperamentvollen Art schließlich so weit, den Begründer der modernen wissenschaftlichen Musikerbiographie als einen intellektuell und moralisch rückständigen Kopf hinzustellen. So notwendig nun ein frischer Luftzug gerade der Mozartforschung war, so sehr schaden derartige ins Extrem getriebene Behauptungen zwar nicht dem Manne, auf den sie gemünzt sind, aber der Sache des wissenschaftlichen Fortschritts. Denn so einfach, wie sich der Verfasser die Sache denkt, liegt sie bei Jahn doch nicht, ebensowenig wie bei einem anderen Manne, gegen den Schurig gleichfalls eine merkwürdige Abneigung hat, bei L. Mozart, der hier als ein beschränkter, eigensinniger Philister dargestellt wird, nachdem er bei Jahn und seinem Gefolge noch die Rolle des idealen Vaters eines großen Mannes gespielt hatte. Auch hier wird ein an und für sich richtiger Gedanke maßlos übertrieben, und vor allem fehlt der bei Jahn wie bei L. Mozart äußerst dankbare Versuch, die Geistesart beider aus ihrer Zeit und deren geistigen Strömungen abzuleiten. Das hätte tiefer in die hier vorliegenden Probleme hineingeführt und zugleich vor allzustarker Subjektivität geschützt. Eines hat Schurig jedenfalls mit L. Mozart gemein, nämlich den ausgeprägten rationalistischen Zug, der alles und jedes auf eine bestimmte, klare und möglichst einfache Formel zu bringen und, wo nur immer möglich, scharf zu typisieren sucht; daher erklärt sich auch seine Vorliebe für die beiden Franzosen. Natürlich ist auch seine Beurteilung Wolfgang Mozarts auf diesen Ton gestimmt. Es ist sehr lehrreich, das romantische Mozartbild mit diesem modernen zu vergleichen: jenes hat das Bestreben, alles, auch die unbedeutenden Züge, zu idealisieren und ins Außergewöhnliche zu erheben, dieses sucht im Gegenteil alles auf den Boden des Greifbaren, Faßlichen, kurz der Wirklichkeit zurückzuführen und die frühere Heroenverehrung gründlich zu widerlegen. Mozarts äußere Schicksale und zum großen Teil auch sein Charakter erscheinen hier unter dem Gesichtspunkt des Alltäglichen, seine Bildung mehr als bescheiden und überhaupt sein Ideenkreis so einfach und primitiv wie nur möglich. Eine solche nüchterne Betrachtung berührt in der heutigen Zeit eines hysterischen Personenkultes zunächst sehr wohltuend, in manchem, wie z.B. der kräftigen Frontstellung gegen die anscheinend unausrottbare, sentimentale Berliner Legende, wirkt sie klärend und befreiend, in anderem dagegen, wie in der unbewiesenen, sensationellen Geschichte von der Verführung Mozarts durch Konstanze, schießt sie wieder weit übers Ziel hinaus. Im allgemeinen ist freilich sehr die Frage, ob dieses neue Mozartbild[15] eines Mannes, der als moderner Geist auf seine Vorurteilsfreiheit besonders stolz ist, nicht doch wieder eine Verengerung unseres geistigen Horizontes Mozart gegenüber bedeutet, ob wir nicht für die alten, abgelegten Vorurteile neue eingetauscht haben. Sind wir wirklich dazu berechtigt, bei einem schöpferischen Menschen wie Mozart unsere eigene »Wirklichkeit« wiederfinden zu wollen? Das Leben eines Genies verläuft doch in einer ganz anderen Sphäre und unter anderen Formen als das des Nichtkünstlers, es ist durchaus nicht so einfach, wie dieser es sich nach seinen eigenen Maßstäben vorstellt. Schon die Berichte von Mozarts Zeitgenossen sind mit Vorsicht aufzufassen, denn die meisten von ihnen geben ein idealisiertes Bild dessen, was die Verfasser selbst zu sein glaubten oder wünschten. Nur wo sie nackte Tatsachen geben, sind sie unbedingt zuverlässig, aber gerade hier stehen wir stets an der äußersten Peripherie des Mozartschen Lebenskreises. Den ganzen Künstler aber werden wir nur so weit verstehen können, als unsere Fähigkeit reicht, sein Werk wirklich zu erleben, darüber sollte uns keine kritische Fertigkeit und kein Kennertum hinwegtäuschen. Und hier liegt die Hauptschwäche der Schurigschen Biographie; sie ist das Werk desselben ästhetischen Intellektualismus, der vor dem Kriege bei uns in jeder Art von Kunstschriftstellerei im Schwange war. Daher rührt der rationalistische Grundzug ebenso wie der weltmännische, kühle und selbstsichere Ton, alles Eigenschaften, die in letzter Linie von den Franzosen herstammen. Tatsächlich er streckt sich jenes »Vasallenverhältnis« Schurigs gegenüber den Franzosen weit über die Ergebnisse von Wyzewa und Saint-Foix hinaus in die gesamte Tendenz, Methode und Darstellungsweise seines Buches hinein. Der eigentlichen Biographie sind einige sehr dankenswerte Kapitel hinzugefügt, wie z.B. über den Stammbaum der Familie usw. und besonders über Mozarts Verwandte und Nachkommen.

Ganz andere Ziele verfolgt das Buch von Josef Kreitmaier S.J., W.A. Mozart, Eine Charakterzeichnung des großen Meisters nach den literarischen Quellen, Düsseldorf, Schwann 1919. Auch Kreitmaier wendet sich gegen die früheren Versuche, Mozart auch als Menschen zu idealisieren, findet aber auch so noch »Edles und Liebenswürdiges genug« an ihm, wenn es auch freilich ohne die Kunst Mozarts nicht genügt hätte, seinen Namen auf die Nachwelt zu bringen. Das Bild, das er entwirft, berührt durch seine Besonnenheit, Wärme und seinen volkstümlichen Ton sehr sympathisch; daß der gute Katholik Mozart besonders und mitunter über Gebühr hervorgehoben wird, erklärt sich aus dem Bekenntnis des Verfassers. Einen Versuch, Mozarts Persönlichkeit aus seinen Werken abzuleiten, die doch die primärsten Äußerungen seines Wesens waren, macht freilich auch er nicht, obwohl gerade für Mozarts religiöse Anschauungen aus den Jugendmessen und ihrer eigentümlichen Auffassung der einzelnen Meßsätze viel zu gewinnen gewesen wäre.

In neuester Zeit mehren sich, zum Teil im Anschluß an Erörterungen über die Ästhetik der Oper als solche, die Untersuchungen über Mozart als[16] Opernkomponisten, und zwar von den verschiedensten Seiten. Da hat zunächst H. Goldschmidt in seiner Musikästhetik des 18. Jahrhunderts (Zürich und Leipzig 1915) den Versuch gemacht, die gesamten musikästhetischen Grundsätze des 18. Jahrhunderts kritisch zu beleuchten und in ihren verschiedenen Wandlungen darzustellen. Er ist um so freudiger zu begrüßen, als Vorarbeiten dazu kaum vorhanden waren. Und doch handelt es sich hier um eine besonders empfindliche Lücke, denn die Musikästhetik des 18. Jahrhunderts hat vor der modernen den einen großen Vorzug voraus, daß sie sich durchaus auf dem Boden der musikalischen Praxis bewegt und nicht durch Spekulation, sondern durch Abstraktion von der zeitgenössischen Kunst zu ihren Ergebnissen gelangt. Goldschmidts Buch ist aber auch deshalb für Mozart wichtig, weil es gerade auf die Oper besonders genau eingeht. Hier baut er aus der Lehre der Zeit selbst eine Opernästhetik auf, die auf alle die damals so brennenden Fragen, wie die nach dem Anteil des Verstandes und der Phantasie im musikalischen Drama, nach dem Verhältnis zwischen italienischer und französischer Oper und endlich nach der Eigentümlichkeit der Gluckschen Kunst, ein neues Licht wirft und auch dem ästhetischen Urteil über Mozart sehr zugute kommt.

Von einer ganz anderen Seite, nämlich der philosophischen, tritt H. Cohen in seiner Schrift Die dramatische Idee in Mozarts Operntexten (Berlin 1916) an Mozart heran. Der Gegensatz gegen die Opernästhetiker des 18. Jahrhunderts ist insofern ganz deutlich, als Cohen die musikalisch-formale Seite nicht allein fast ganz übergeht, sondern offenbar überhaupt kein Verständnis dafür hat. Die italienischen Arienanfänge, die er bei der Entführung und Zauberflöte den deutschen beifügt, beweisen klar, daß ihm z.B. der stilistische Unterschied zwischen opera buffa und Singspiel nicht aufgegangen ist. Auch die Seitenhiebe auf Wagner fordern zu scharfer Kritik heraus. Vor allem aber sollte man Behauptungen, wie daß die Oper aus dem Oratorium oder das deutsche Lied aus der Arie der Pamina entstanden sei, heutzutage wirklich nicht mehr drucken lassen. Trotz alledem und trotz der merkwürdigen Vermengung von Ästhetik und Ethik stecken in der Schrift eine Reihe trefflicher und fruchtbarer Gedanken. Sie ist die geistvollste Ausführung der alten Parallele Mozart-Shakespeare. Die Ausführungen über das Verhältnis von Tragik und Humor bei Mozart sowie über seine geniale Art der Kontrastfiguren, auch z.B. über die Stellung von Così fan tutte, sind in höchstem Grade anregend und machen auch den Musikforscher auf ein Gebiet aufmerksam, an dem er nur zu häufig achtlos vorbeigegangen ist. Allerdings ergeben sich auch hier mitunter recht seltsame Konstruktionen, wie z.B. die Verteidigung Don Giovannis gegen den Vorwurf der Unsittlichkeit oder die Gretchenrolle der Elvira, beides Dinge, die ebenso unmozartisch als unshakespearisch sind.

Nach dem Philosophen hat sich zu guter Letzt auch noch der Bühnenpraktiker vernehmen lassen: Ernst Lert in dem Buche Mozart auf dem Theater (Berlin 1918). Lert ist durch seine Inszenierung der Mozartschen[17] Opern in Leipzig zu seinen Untersuchungen geführt worden, die ein erfreuliches Zeichen für den frischen Hauch sind, der in neuerer Zeit die Darstellung der Mozartschen Opern wieder zu beleben beginnt. Hat man doch viel zu lange den Ballast einer recht fragwürdigen und unmozartschen Tradition auf unseren Bühnen mit herumgeschleppt. Lert weiß aber wohl, daß es mit dem Bühnentechnischen allein nicht getan ist, sondern daß alle derartigen Untersuchungen von selbst in das Herz von Mozarts dramatischer Kunst führen. Man hatte Mozart als Inszenator und Regisseur bisher nur nebenbei gewürdigt, Lert stellt gerade diese Seite in den Mittelpunkt seiner Darstellung, und sie ergibt sich dabei als viel wichtiger, als man gemeinhin annimmt. Auch für die theatergeschichtliche Untersuchung der verschiedenen Opernformen zu Mozarts Zeit und des Zusammenhangs ihres Stils mit dem gesprochenen Drama ist ihm die Mozartforschung zu Danke verpflichtet, während der spezifisch musikhistorische Teil verschiedene Lücken, gewagte Hypothesen und Irrtümer aufweist. Der Schluß des Werkes bringt für die einzelnen Opern (mit Ausnahme der Finta semplice, die merkwürdigerweise völlig übergangen wird) Inszenierungsvorschläge, die den Vorzug haben, (in Leipzig) praktisch erprobt zu sein und auch da, wo sie zur Kritik herausfordern, anregend und fördernd wirken. Besonders Sänger, Kapellmeister und Regisseure, deren Stilgefühl, was Mozart anbetrifft, großenteils noch sehr im argen liegt, seien auf diese Abschnitte hingewiesen. Ähnliche Ziele, nur ohne musikgeschichtliche Ausführungen, verfolgt das von Emil Gerhäuser verfaßte Werk Stuttgarter Bühnenkunst, Stuttgart 1917, das eine ganze Reihe von Inszenierungsvorschlägen zu Mozart gibt und außerdem deshalb wichtig ist, weil es von Bernhard Pankoks neuer Ausstattung sämtlicher Mozartscher Opern ausgeht. Das neue dekorative Gewand, das Mozarts Opern hier in Stuttgart erhalten haben, gehört zum künstlerisch Wertvollsten, was die moderne Kunst der Theaterdekoration überhaupt aufzuweisen hat.

Daß das vorliegende Werk sich wenigstens bemüht, alle Ergebnisse der neueren Forschung kritisch zu verarbeiten, ist selbstverständlich. Es ist versucht worden, für jede Gattung, in der sich Mozart betätigt hat, namentlich für die lange vernachlässigte Oper, zunächst den geschichtlichen Tatbestand festzustellen. Nur erwarte man dabei keine ins einzelne gehende Darstellung. Wir haben es hier mit dem Genius Mozarts zu tun, nicht mit einer Geschichte der Oper, Sinfonie usw. Es kann sich daher bei allen diesen älteren Meistern nur um das Wesentliche, d.h. das Lebendige handeln, das in den Strom der Mozartschen Kunst eingegangen ist. Ja, auch hier mußte eine Auswahl getroffen werden: wo eine ganze Reihe von Zeugnissen für denselben Einfluß vorliegt, gilt nur das, worin jener Einfluß am klarsten zum Ausdruck kommt. Auch können jene älteren Meister erst dann für Mozart fruchtbar gemacht werden, wenn wir sie selbst wieder zu lebendigen Kräften zu machen vermögen. Denn das waren sie für die damalige Zeit und auch für Mozart selbst; deshalb muß es uns gelingen, den inneren[18] Anteil nachzufühlen, den er ihnen entgegenbrachte; mit bloßen Namen, fertigen Begriffen und Etiketten ist's nicht getan. Ob und wieweit meine Auswahl stichhaltig ist, mag der Leser entscheiden.

Warum ich auf den in modernen Musikerbiographien sehr beliebten Brauch verzichtet habe, zuerst das Leben und dann die Werke Mozarts zu besprechen, habe ich oben auseinandergesetzt. Die einzelnen Werke sind somit immer in Verbindung mit dem Lebensabschnitt besprochen, zu dem sie gehören. Nur beim Re pastore habe ich eine Ausnahme gemacht und ihn mit den übrigen opere serie zusammen behandelt. In der Chronologie der Werke habe ich mich in der Mehrzahl der Fälle nach genauer Nachprüfung Wyzewa und Saint-Foix angeschlossen, die Numerierung der Werke nebst der Angabe des betreffenden Bandes der Gesamtausgabe dagegen nach Köchel und Jahn beibehalten.

Auch der landläufigen Einteilung der Werke in kirchliche, dramatische, lyrisch-vokale und instrumentale möchte ich nicht unbedingt das Wort reden. Wohl haben alle diese Gattungen ihre besonderen Stilgesetze, die respektiert werden müssen, aber für den Biographen, der es mit der einzelnen Künstlerpersönlichkeit zu tun hat, reichen sie nicht aus. Für ihn steht hinter dem Allgemeinen das Individuelle, nie Dagewesene, Neue, d.h. eben der Genius. Wir werden bei Figaro und Don Giovanni wohl von der opera buffa, bei der Entführung und Zauberflöte vom deutschen Singspiel auszugehen haben, aber der Genius erweist sich auch hier als der Neubildner, ja Zersprenger der Gattung. Das lehrt allein schon die Literatur über den Don Giovanni, der bis auf den heutigen Tag die Frage keine Ruhe zu lassen scheint, ob wir hier eine »komische« oder eine »tragische« Oper vor uns haben. Auch werden durch jenes Prinzip Werke, die innerlich zusammengehören, auseinandergerissen. So steht z.B. die Zauberflöte dem Requiem, Ave verum, ja auch den großen Instrumentalwerken der vorangehenden Jahre entschieden näher als ihrem »Schwesterwerk«, dem Titus, obwohl dieser ebenfalls zur Gattung der »dramatischen Musik« gehört. Und was soll vollends der Schauspieldirektor zwischen ihr und der Entführung? Er gehört bei aller Anmut doch mehr zu den Berufspflichten Mozarts als zu seinen vollbürtigen Kunstwerken.

Wir wissen ja überhaupt, daß der größte Teil seiner Werke nach dem Brauche der älteren, vorbeethovenschen Zeit bestellte Arbeit, also aus äußeren Anlässen hervorgegangen ist. Es bestand damals noch eine lebendige Tradition, eine von allen, Auftraggebern wie Beauftragten, anerkannte und gefühlte Summe von Form- und Stilgesetzen, denen sich kein Künstler zu entziehen vermochte. Die Hauptfrage bei allen diesen älteren Meistern, deren letzter eben Mozart ist, ist somit die, wie jeder einzelne von ihnen den Ausgleich zwischen seinem eigenen künstlerischen Urerlebnis und jener Tradition gesucht und gefunden hat. Auch Mozarts Werke lassen sich unter diesem Gesichtspunkte in drei Gruppen einteilen. Die erste davon bilden die, in denen sich sein Genius jener Tradition ohne weiteres anpaßt, ja[19] unterordnet; es sind die sub specie momenti geschriebenen, die Versuche, Kompromisse, gleichsam die Hobelspäne, die in seiner Werkstatt umherliegen, wie z.B. die verschiedenen dramatischen und sinfonischen Festmusiken, die für einzelne »Sängergurgeln« oder für Schüler geschriebenen Stücke u. dgl. Die mittlere Gruppe umfaßt die Werke, die sich zwar ebenfalls noch innerhalb der Tradition halten, aber sie mit der Urkraft des eigenen Erlebens durchdringen und dadurch umbiegen, bereichern und ihren Formenkreis erweitern. Typisch dafür sind besonders die großen Klavierkonzerte der achtziger Jahre: sie verkörpern noch fühlbar das alte Ideal der Gesellschaftsmusik, aber es ist bereits persönlich gefaßt und gedeutet. In den Werken der dritten Gruppe endlich ist das Urerlebnis, die ursprüngliche Erschütterung des Künstlers, die Hauptsache, hinter der die Tradition vollständig verschwindet. Der Schwerpunkt des Schaffens ist vom aufnehmenden Teil, dem Gesellschaftspublikum, auf den Künstler übergegangen. Die Tradition ist in diesen Werken dergestalt vom Feuer des Mozartschen Genius durchglüht, daß sie schließlich der Asche gleich abfällt und ganz neue Gestalten erscheinen läßt. Es ist dabei ganz gleichgültig, ob sich dieser Genius unmittelbar ausspricht, wie z.B. in den großen Sinfonien und Streichquintetten, oder sich des Mediums eines ihm von Hause aus fremden Stoffes bedient, wie z.B. in den großen Opern. Gerade an ihnen läßt sich das hier besprochene Verhältnis am deutlichsten aufzeigen: beim Idomeneo ist das künstlerische Urerlebnis weit stärker als beim Titus, der in die zweite Gruppe gehört, und bei Figaro, Don Giovanni und der Zauberflöte ist es wiederum stärker als bei allen andern Opern. Natürlich sind jene drei Gruppen im einzelnen Fall nicht reinlich voneinander geschieden; es gibt Misch- und Kreuzungsformen, denen nachzugehen einen besonderen Genuß gewährt.

Was für Mozart besonders charakteristisch ist und ihn tatsächlich in die Nähe Goethes rückt – sonst sollte man diese beliebte Parallele nicht zu weit treiben – das ist sein schon in frühester Jugend hervortretender Drang, zu formen und zu gestalten. Er hat es nie über sich gebracht, gleich dem jungen Haydn und später dem jungen Schubert und Schumann, seinen seelischen Rohstoff fessellos dahinströmen zu lassen. Er verzichtet zunächst lieber auf alle bestechende Originalität und späht bei seinen zahlreichen Vorbildern nach den Zügen aus, die jenen Bildnertrieb in ihm zu stärken und zu fördern geeignet sind. Und zwar äußert sich dieser Trieb zunächst unbewußt, etwa bis zum Abschluß der italienischen Reisen, dann in bewußtem Streben, bis über den Idomeneo hinaus, und endlich in reifster Entfaltung von der Entführung bis zum Ende. Diese Einteilung des Mozartschen Schaffens scheint mir deshalb auch die natürlichste zu sein. Die zweite dieser Perioden liebt man neuerdings unter das Zeichen von Sturm und Drang zu stellen, der ja gegenwärtig in Literatur und Kunst wieder besonders hoch im Preise steht. Gewiß hat Mozarts Kunst hier viel von Sturm und Drang an sich, namentlich auch im Idomeneo, aber sie ist doch nicht selbst Sturm und Drang, denn[20] selbst in den stürmischsten Ausbrüchen dieser Zeit ist immer noch jener Trieb erkennbar, zu gestalten und den Naturalismus in Kultur zu verwandeln. Man braucht sich nur die Art zu vergegenwärtigen, wie Mozart das Erbe Joh. Schoberts, eines der ausgesprochensten Stürmer und Dränger in der Musik, um- und weitergebildet hat, und man wird ohne weiteres erkennen, was ihn von jener Richtung grundsätzlich trennt.

Die hauptsächlichsten Vorarbeiten für dieses Buch konnte ich zum Glück noch vor Kriegsausbruch abschließen; nur die französischen und englischen Bibliotheken waren mir nicht mehr erreichbar. Indessen ist die von dort zu erwartende Ernte nicht so reichlich, daß ich mich hätte bestimmen lassen, die Herausgabe des Werkes auf unabsehbare Zeit hinauszuschieben. Das freundlichste Entgegenkommen fand ich auf den italienischen Bibliotheken, die für die historischen Grundlagen der Mozartschen Kunst natürlich die reichste Ausbeute abwarfen, so namentlich auf der Konservatoriumsbibliothek von Neapel (Cav. Pagliara †), den Bibliotheken von S. Cecilia (Prof. Mantica) und der Casanatense in Rom, und der Bibliothek des Liceo musicale zu Bologna (Prof. Vatielli). Auch der Leitung der Biblioteca Estense in Modena, der Marciana in Venedig und der Bibliothek des Klosters Montecassino bin ich zu Dank verpflichtet. Daß die verschiedenen deutschen und österreichischen Staats-und Privatbibliotheken, besonders in Wien, Berlin, München und Dresden, auch in meinem Falle ihre nie versagende Hilfsbereitschaft bewährt haben, brauche ich wohl nicht erst besonders zu versichern; hier konnte ich auch den Pariser und Londoner Ausfall zum großen Teile decken. Auch dem Salzburger Mozartarchiv und seinem Leiter, Herrn K. Rat Engl, bin ich zu großem Danke verpflichtet, vor allem für die Erlaubnis, eine größere Anzahl von Originalzeugnissen kopieren und photographieren zu dürfen. Bei der Korrektur unterstützte mich mit gewohnter Hilfsbereitschaft mein alter Freund Prof. Dr. Bechtel (Halle), bei der Anfertigung des Registers mein Schüler, cand. phil. R. Gerber.

Endlich sei auch noch mit besonderer Dankbarkeit des Verlagshauses von Breitkopf & Härtel gedacht, das trotz den kritischen Zeiten die Drucklegung des Werkes in jeder Weise gefördert und beschleunigt hat.

Da dieses Buch das Erbe des Jahnschen antreten soll, so ist auch seine äußere Ausstattung dieselbe geblieben, namentlich was das Verhältnis von Text und Anmerkungen betrifft. Doch habe ich selbstverständlich die Zahl der Anmerkungen nach Kräften beschränkt und namentlich aus der älteren Literatur alles gestrichen, was heutzutage keinen primären Wert mehr hat. Auch darin bin ich Jahn gefolgt, daß ich die Orthographie der zitierten Briefstellen leicht modernisiert habe. Es scheint mir nicht unbedingt notwendig, den Leser um des beliebten »Zeitkolorits« willen mit diesen, oft recht verzwickten, orthographischen Dingen zu plagen. Wer sich mit der Geschichte der Salzburger Mundart beschäftigt, wird natürlich auf die ursprüngliche, bei Schiedermair gegebene Orthographie zurückgreifen müssen und in den Mozartschen Briefen eine Quelle ersten Ranges finden. Aber[21] das ist nicht der Zweck dieses Buches. Dagegen ergab ein genauer Vergleich der von Jahn zitierten Briefstellen mit der Schiedermairschen Fassung verschiedene falsche Lesarten Jahns, die zumeist auf seiner Unkenntnis des süddeutschen Dialektes beruhen. Im allgemeinen beschränkt sich das, was von Jahns äußerer Darstellung in dieses Werk übergegangen ist, auf wenige Seiten und auf solche Stellen, wo Jahn der Kürze halber Stellen aus Leopolds und Wolfgangs Briefen paraphrasiert. Sonst habe ich auch da, wo ich gleich den andern Mozartbiographen die gesicherten Ergebnisse Otto Jahns übernahm (es handelt sich stets um Fragen der äußeren Biographie), schon um der stilistischen Einheit des Buches willen eine neue Form der Darstellung gewählt. Die Zusätze von H. Deiters habe ich zum Teil übernommen und durch den Beisatz [D.] als solche kenntlich gemacht.

Es sind sehr dunkle Zeiten für unser deutsches Vaterland, in denen dies Buch in die Welt hinausgeht, die dunkelsten, die es wohl je erlebt hat. Die Folgen wird auch die deutsche Wissenschaft zu verspüren bekommen. Ihrer Führerstellung hat zwar der äußere und innere Zusammenbruch nichts anzuhaben vermocht, aber auch für sie wird es noch in weit höherem Maße als früher gelten, alle Kräfte zusammenzuhalten und sich vor Ermattung und Verflachung zu hüten. Mit der Kunst zusammen wird sie in erster Linie dazu berufen sein, an der geistigen Erneuerung unseres deutschen Lebens mitzuarbeiten. Erreichen werden wir dieses Ziel freilich weder durch nebelhaftes Träumen noch durch schwächliches Anstaunen ausländischer Errungenschaften, sondern nur dadurch, daß wir uns auf die in unserem eigenen Volke beschlossenen, lebendigen geistigen und sittlichen Kräfte besinnen und mit diesem Rüstzeug den Wiederaufbau beginnen. Von Mozart, der ein sicheres Gefühl für deutsche Art hatte, stammt das frische Wort: »Wäre nur ein einziger Patriot mit am Brette – es sollte ein anderes Gesicht bekommen! Doch ... das wäre ja ein ewiger Schandfleck für Teutschland, wenn wir Teutsche mit Ernst anfingen, teutsch zu denken, teutsch zu handeln, teutsch zu reden und gar teutsch zu singen!« Daraus klingt's auch heute noch wie heller Fanfarenton. Der edle Fürst, dessen Namen dieses Buch trägt, hat in einer langen Regierung des glücklichsten Einvernehmens zwischen Fürst und Volk den Sinn jenes Wortes verstanden wie nur wenige, und er ist darum auch der einzige, der jetzt noch auf seinem Ruhesitz im stillen Waldgrund getrost das Dichterwort auf sich anwenden mag, daß er »sein Haupt kann kühnlich legen jedem Untertan in Schoß«. Möge er auch dieses Buch als ein bescheidenes Zeichen alter Schwabentreue freundlich aufnehmen!


Halle (S.), im Oktober 1919

Hermann Abert

Quelle:
Abert, Hermann: W. A. Mozart. Leipzig 31955/1956, S. V5-XXII22.
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