17.

Abenddämmerung und Morgenröthe.

[175] Die innere Einrichtung der Villa Farinelli entsprach der äußeren Erscheinung dieses freundlichen Tusculums ganz. Den Eingang zu dem Hause bildete jene reizende Veranda, von welcher wir schon gesprochen, und die, auf schlanken, zierlichen Säulen ruhend, sich schon jetzt in eine trauliche Laube von jungem Grün zu verwandeln anfing. Schön gearbeitete Bänke und Tische erhoben sich einladend zu beiden Seiten und verriethen, daß in den heißen Tagen hier das Lieblingsplätzchen des schönen stattlichen Greises sei, der so glücklich war, diese Villa sein Eigenthum zu nennen.

Durch die Veranda trat man in einen geräumigen Saal, dessen Wände aus weißem Marmor die Büsten der hervorragendsten Männer des Römerthums schmückten. Das Ameublement war in antikem Style gehalten und bekundete durch seine gediegene Einfachheit und Übereinstimmung mit der architektonischen Ausschmückung des Gemaches den edlen und feinen Geschmack des Besitzers. Im gleichen Style hielten sich sämmtliche Gelasse des Erdgeschosses. Sie hätten in der That einem römischen Kaiser – einem Trajan – Ehre gemacht.

Ganz anders dagegen war das zweite Geschoß der Villa Farinelli gehalten. Dienten die Säle und Gemächer des Erdgeschosses, hochgestellte Freunde und Besuche zu empfangen, so bildete der obere Theil des Hauses die stille, behagliche, an vielen großen Erinnerungen reiche Wohnung eines großen Künstlers und Philosophen.

Auch hier befanden sich, aber auf den beiden Flanken des Hauses, zwei geräumige Säle, von welchen der eine die weltbekannte[175] musikalische Bibliothek Farinelli's – dies kostbare Erbe der Königin von Spanien – enthielt; während in dem andern alle die Claviere und Flügel aufgestellt waren, die dieselbe freigebige Hand dem Retter zweier Könige als Zeichen des Dankes und der Achtung verehrt. Außer diesen Clavieren und Flügeln aber, von welchen jedes den Namen eines großen Malers, wie Raphael, Correggio, Titian, Guido u.s.w. trug, befand sich noch ein höchst merkwürdiges musikalisches Instrument hier, das indessen in dem sorgfältigsten Verschlusse ruhte. Es war dies die Lieblingsvioline Farinelli's – von ihm Viola d'amour genannt – ein Meisterstück des berühmten Cremonesen Amati aus dem 16. Jahrhundert.

Die Wände dieses Saales schmückten übrigens vortreffliche Gemälde der italienischen und spanischen Schule, unter welchen sich auch die lebensgroßen Bildnisse König Philipps V. und Elisabethens von Parma befanden. Die weitere Ausstattung zeigte einen allseitigen, die größte Behaglichkeit athmenden Comfort. Zwischen diesen beiden Sälen endlich lagen die Wohn- und Schlafzimmer des Hausherrn. Aber, dieser Hausherr war schon seit Jahren nicht so ganz allein, als man vielleicht denkt. Er – der in seinem ganzen vielbewegten Leben ein Schooßkind des Glückes gewesen – war dies auch im Alter noch; denn er besaß – was anderen Sterblichen meist nur in den schönen poetisch-schäumenden Jahren der Jugend und Tausenden gar nicht wird – einen edlen, ganz gleichgesinnten, herrlichen Freund. Dieser Freund aber, nur ein einziges Jahr jünger als er selbst, war der gelehrte Franziskaner Johann Baptist Martini, Italiens größter Contrapunktist, das Haupt der weltberühmten philharmonischen Gesellschaft zu Bologna, der angestaunte Autor des Werkes »Saggio fondamentale prattico di contrapunto,« dem selbst Friedrich der Große – in Anerkennung der ausgedehnten Verdienste, die sich Martini um die Musik erworben – sein in Brillanten eingefaßtes Bildniß nebst einem eigenhändigen sehr verbindlichen Schreiben zugesandt hatte.68

Was aber vermöchte die Geschichte Reizenderes zu bieten, als den Anblick dieser beiden, durch ein gleiches wissenschaftliches und künstlerisches Streben und die Bande der innigsten Freundschaft verbundenen edlen Greise?! O! sie waren [176] Dioskuren im ächten Sinne des Wortes. Unser egoistisches Zeitalter freilich, das auf Orest und Pylades, Nisus und Euryalus, Achilleus und Patroklus, Theseus und Pirithous, Scipio und Laelius, David und Jonathan, Jesus und Johannis hinschaut, wie auf die Riesenkraft eines Herkules, Theseus und Achilleus, versteht ein solch' glückliches Zusammenleben, -weben und -streben, -schaffen und -sein kaum. Hier aber war in der That, wie Aristoteles die Freundschaft definirt: »eine Seele in zwei Körpern!« Aber ihre Charaktere paßten auch trefflich zu einander; beide hatten große Lebenserfahrungen – Martini namentlich durch ausgedehnte Reisen hinter sich liegen; beide waren begeisterte Verehrer der Musik, und, was die Hauptsache ist, beide fesselte jetzt ein großes gemeinsames Unternehmen: die Herausgabe einer tiefgelehrten, allseitig gediegenen und umfassenden »Geschichte der Musik

Freilich war der Pater Martini der eigentliche Schöpfer dieses Werkes! aber Farinelli hatte ihn nicht nur zu diesem Unternehmen bestimmt, nein! er stellte dem gelehrten Freunde auch seine ganze unschätzbare Bibliothek während dieser Riesenarbeit zur Verfügung und half thatsächlich durch seine eigenen Kenntnisse und sein fortwährendes Studium.

Daher kam es denn auch, daß der ehrwürdige Pater Martini alltäglich viele Stunden in Farinelli's Villa zubrachte, wo der Bibliothek-Saal so zu sagen sein Studierzimmer geworden. Nach der Last des Tages gewährte dann Farinelli's unübertreffliches Spiel auf der Viola d'amour beiden Erholung und Erhebung, und ließ sie, da ihnen, trotz des Alters, die volle Jugendfrische des Geistes geblieben, herrliche Stunden verleben.

Auch jetzt saß Pater Martini wieder an seinem in der Mitte des Bibliothek-Saales stehenden Schreibtische, halb vergraben unter Folianten und Pergamentrollen, als Farinelli eintrat.

Aber der würdige Franziskaner war heute – wie Farinelli gleich nach dem ersten Gruße merkte – gar nicht so recht wie gewöhnlich bei der Arbeit. Es gab sich in allen seinen Bewegungen eine auffallende, ihm sonst ganz fremde Unruhe kund und endlich legte er die Feder ganz weg und stand auf.[177]

»Es geht heute nicht!« – sagte er zugleich, sich gewissermaßen vor sich selbst entschuldigend. – »Ich bin zu aufgeregt, zu zerstreut.«

»Also doch auch!« entgegnete lächelnd Farinelli, und befahl dem Diener, der seinem vorhin erhaltenen Auftrage zufolge, seinem Herrn so eben ein Glas Lacrimä Christi präsentirte, auch dem Freunde ein solches vorzusetzen: – »Ich dachte, das Concert von gestern Abend habe nur mich so gewaltig erfaßt!«

»Nun!« – versetzte Pater Martini – »meine Aufregung ist wohl eigentlich weniger Folge des Concerts, als der Gedanken, die mir die Wundererscheinung dieses genialen jungen Maestro's macht. Er hat mich entzückt; aber gerade darum fürchte ich für ihn .... fürchte, statt inneren Gehaltes, statt des Waltens eines großen musikalischen Geistes, am Ende nur oberflächliche Genialität, nur eine überaus glückliche Naturbegabung und technische Fertigkeit zu finden; wie dies bei Wunderkindern zumeist der Fall ist.«

»Aber, mein lieber Freund und Bruder!« – entgegnete Farinelli – »dagegen spricht ja doch seine ganze Vergangenheit. Denke nur, was man dir von Wien, Paris und London über den jungen Amadeus Mozart schrieb; entsinne dich, was unser gemeinsamer Freund Grimm in seinen wahrhaft begeisterten Briefen sagt, und Grimm ist doch auch ein Sachverständiger. Und würden die Unternehmer des Theaters in Mailand, sogleich nachdem der vierzehnjährige Knabe den Fuß auf italienischen Boden gesetzt, ihm auch schon die Anerkennung gezollt haben, eine Oper für den nächsten Carneval bei ihm zu bestellen, wenn sie ihrer Sache nicht gewiß wären? Martini, denke nur: der vierzehnjährige Knabe soll eine Oper für das Mailänder Theater schreiben .... und er hat es angenommen, als ob das Ding nichts wäre. Und hat er nicht in Wien schon zwei Opern geschrieben: La finta simplice im Auftrage des Kaisers Joseph .....«

»Die nicht zur Aufführung kam!« – fiel Martini ein. –

»Weil die Neider und Feinde des jungen Maestro den Director Affligio für sich gewannen und durch die abscheulichsten Cabalen die Aufführung hintertrieben. Aber der kleine Mozart machte sich nichts daraus. Er schrieb eine[178] neue Oper ›Bastien et Bastienne,‹ die dann in Mesmers Hause aufgeführt wurde, und zwar, wie Hasse und Metastasio dir und mir schrieben, mit dem größten Erfolg.«

»Mit dem Erfolg« – sagte der greise Franziskaner kopfschüttelnd – »den jedes halb erträgliche Stück auf einem Liebhabertheater und vor Freunden hat.«

»Und Hasse und Metastasio

»Sind für den kleinen Mozart eingenommen.«

»Und die früheren Berichte von München, Wien, Paris, London, Holland und so weiter?«

»Schwärmen für das ›Wunderkind‹, sind aber jeder tieferen Beurtheilung fern!« – sagte Pater Martini. – »Hier bei uns ist es etwas ganz anders. Der junge Mozart hat jetzt das ›Wunderkind‹ abgestreift. Er will keine Wundererscheinung mehr sein, sondern ein Künstler .... und dies, mein theurer Freund, gefällt mir gerade so sehr an dem jungen Menschen, daß ich ihn schon jetzt nach zweimaligem Zusammentreffen liebe. Aber diese Liebe macht mich eben auch bangen. Er ist mit seinem Vater nach Italien, der hohen Schule der Musik, gekommen, und hier muß er, will er sich einen Namen machen, vor allen Dingen seine Prüfung vor der philharmonischen Gesellschaft zu Bologna bestehen. Vermag er dies, haben wir ihn zum Ehrenmitgliede der Gesellschaft, zum Cavaliere filarmonico erhoben, dann steht sein Ruf fest. Aber .... aber .... der Areopag, der ihn hier erwartet, ist gleich dem in Athen der verführerischen Sprache einer oberflächlichen Begeisterung unzugänglich. Hier gilt es, seine Meisterschaft zu beweisen, nicht allein im Vortrag, wie gestern im Concerte, wo er mit dem Feldmarschall Graf Pallavicini die Haute volée Bologna's erfreute, sondern namentlich auch im Contrapunkt. Nur ein durchaus wissenschaftlich gebildeter Componist hat Anspruch auf die Mitgliedschaft in unserer Gesellschaft.«

»Nun!« – sagte Farinelli, der die strengen Grundsätze und die ruhige Unbestechlichkeit Pater Martini's und der philharmonischen Gesellschaft kannte und daher doch auch etwas für den jungen deutschen Maestro zu bangen anfing: – »Wir wollen sehen. Jedenfalls weiß ich, daß der kleine Mozart die letzten Jahre zu den ernstesten Studien benutzt hat. Stradella, Carissimi, Scarlatti, [179] Leo, Dürante, Hasse, Bach und Händel waren die ersten Meister, die er, wie mir sein Vater sagte, durchnahm. Und wie er mit der größten Geläufigkeit italienisch spricht, so ist er auch in der italienischen Musik zu Hause.«

»Hat er nicht auch den Titel Concertmeister?«

»Ja! sein Vater ist hochfürstlich Salzburgischer Capellmeister, der Sohn hochfürstlich Salzburgischer Concertmeister! und das ward er im dreizehnten Jahre!«

»Allerdings eminent! besonders von dem Herrn Fürstbischof von Salzburg.«

»Nun, er wollte auch nicht daran und behauptete immer, der Vater helfe dem Amadeus. Der Knabe mußte also auf das Schloß kommen, bekam eine Aufgabe zur Composition, ward in ein einsames Zimmer eingeschlossen und durfte keinen Menschen sehen, bis er seine Arbeit vollendet. Dies war aber bald geschehen, und sie fiel so vortrefflich aus, daß der Herr Fürstbischof die Ernennung zum Concertmeister sofort folgen ließ.«

Pater Martini ging, in tiefe Gedanken verloren, auf und ab.

»Nun!« – sagte er endlich – »so wird es ja auch bei uns gehen. Er componirte ja auch schon eine Messe, ein Offertorium und ein Posaunen-Concert, die ich kenne und die trefflich sind.«

»Und die in Gegenwart des Wiener Hofes aufgeführt und von ihm selbst dirigirt wurden.«

»Es ist groß! es ist groß!« – rief der greise Mönch mit blitzenden Augen.

»Und was wird ihm mein Freund zur Prüfung vorlegen?« – frug Farinelli:

»Eine Antiphona aus dem Antiphonarium, die er vierstimmig setzen muß,« – entgegnete Martini ernst. – »Er kann Großes lösen, er soll es ... und zwar zu seinem eigenen Ruhme. Ich fühle, daß dieser kleine Maestro mir das Herz gestohlen hat.«

Eine Pause entstand.

»Soll ich dir, mein alter treuer Freund, ein Geständniß machen?« – sagte nach einiger Zeit Farinelli, indem er seine Hand vertrauensvoll auf des Paters Schulter legte, der sich wieder neben ihn gesetzt – »mich hat die Erscheinung dieses[180] jungen eminenten musikalischen Genies an etwas erinnert, das mir im Leben zwar schon tausendmal vorgekommen, das aber immer peinlich ist.«

»Und das wäre?« – frug der Andere.

»An das Abschiednehmen! – Wie ich dem kleinen Maestro so in seine großen seelenvollen Augen blickte, da ward es mir klar wie Sonnenlicht, daß dies die Sterne seien, die für das Reich der Musik einen neuen Tag verkünden. Um uns, mein Freund und Bruder, um uns liegt Abenddämmerung .... dort .... erglüht Morgenröthe

»Und was wäre dabei?« – frug mit einem Lächeln voll Ruhe und Erhabenheit der Franziskaner-Mönch – »das Leben der Einzelnen und jenes der Menschheit ... sie bestehen beide aus einem ewigen Wechsel von Licht und Schatten, von Abend und Morgen, von Vergehen und Erblühen.«

»O das weiß ich wohl!« – entgegnete Farinelli – »und denke auch nicht so klein und kindisch, um nicht gern im großen Ganzen und für das große Ganze aufgehen zu wollen. Wenn nur die Trennung .... wenn nur das Abschiednehmen nicht wäre!«

»Ei!« meinte Pater Martini – »da stoßen wir ja wunderbarerweise einmal auf eine Verschiedenheit in unserer Denkungsart. – Ich für meinen Theil wenigstens habe schon so oft in meinem Leben Abschied nehmen müssen, daß ich wahrlich an alle Trennung gewöhnt bin.«

»Das glaubst du nur, mein Bruder!« – rief Farinelli – »aber du täuschest dich. Wie könnte ich die Trennungen zählen, in die mich das Geschick verflochten, und doch glaubte ich, das Herz müsse mir verbluten, als ich von Spanien Abschied nahm, ... und .... ich habe es noch nicht vergessen können, es liegt wie eine Insel von Sonnengold in dem Gebiete meiner Erinnerung. Ja! gedenk ich sein, so ist es mir, als kehrten die entflohenen Stunden zurück und trügen alle kleinen Freuden und frohen Augenblicke noch einmal vor meinen Geistesaugen vorüber, um dann mit ihnen auf ewig zu entfliehen und in mir nichts zurückzulassen, als das wehmüthige Gefühl, daß sie dahin sind. Mir ist, als drängten sich die leblosen Zeugen meines Lebens, die Gegenstände, die mich umgaben, ... die Menschen, die ich geliebt und geachtet, noch einmal recht nahe an mein Herz, und – gestehe ich nur meine Schwäche – ich nahm und nehme recht schweren Abschied von ihnen.«[181]

»Nun!« – sagte der Pater Martini mild – »dies ächt menschliche Gefühl ist gerade seine Schwäche zu nennen. Es zeugt wieder von dem tiefen Gemüthe meines edlen Freundes.«

Farinelli schien diese Worte überhört zu haben. Er war sichtlich in seine Erinnerungen verloren und fuhr jetzt, wie sich selbst vor einem Mißverständniß verwahrend, gedankenvoll fort:

»Nicht, daß ich um entschwundene Genüsse klage; ..... aber daß ich mich losreißen mußte und .... wer weiß wie bald .... losreißen muß aus den Umgebungen, in denen ich mich so heimisch und glücklich gefühlt, von allen den Gegenständen und Beschäftigungen, die gleichsam Bekannte und Vertraute meines Lebens geworden, das ist's, was mir schwer wird. Nicht die großen Vergnügungen und Genüsse sind es, die den bessern Menschen mit Allgewalt fesseln, sondern die kleinen Freuden und Interessen, – die unscheinbaren Veilchen, von welchen er sich unter schmerzlichen Gefühlen losreißt. Wenn das rauhe Geschick manchmal mit eiserner Hand nach dem Glücke eines ganzen Lebens greift, so steht oft in der Menschenbrust ein heroischer Wille auf, der edel und stolz zu dem Zufalle spricht: ›Nimm es hin, ich will das Leben auch ohne dies ertragen!‹ .... und dann überwindet ein edles Selbstgefühl die Pein des Schmerzes, und wir stehen stark und erhaben mitten unter den Ruinen unserer Hoffnungen. Wenn aber das Geschick eine große Hoffnung und Erwartung, eine Blume nach der andern aus unserm Leben reißt, und eine Farbe nach der anderen in dem Gemälde unserer Tage erlöscht und abstirbt, bis es am Ende kahl und grau vor uns liegt, da ergreift den Menschen eine namenlose Wehmuth und er fühlt sich in seinem tief Innersten erschüttert.«

»Darum« – versetzte der Franziskaner – »werden große Verluste gemeiniglich mit größerer Seelenstärke getragen, als die kleinen Leiden und Opfer des Lebens. Indeß! was ist denn das Leben selbst mit allen seinen Freuden und Leiden. O, mein Freund, stehen wir – wie du vorher gesagt – in der Abenddämmerung, dann verschwindet es zu nichts. Auf der Erde geht ja alles vorüber und wir auch! – Der Augenblick kommt, und wie er uns auch erfreue und beglücke, der Mensch sagt vergeblich zu ihm: bleibe; .... denn während er es ausspricht, ist er vorüber und ein anderer an seiner[182] Stelle! Wir dürfen indessen dabei nicht ungerecht sein; so flüchtig die Minuten sind, ihr Bild bleibt uns immer, und der Nachhall der Empfindungen, die er in uns hervorrief, kann der Mensch nähren Jahre lang, und sie können ihn noch lange, lange Zeit glücklich machen. Sieh, mein Freund, das ist die Verklärung der Trennung! Die Freuden des Lebens gleichen nicht allein darin dem Regenbogen, daß sie aus fallenden Augenblicken bestehen, sondern auch darin, daß sie gerade in der Ferne am schönsten glänzen und strahlen. Und dann, hat Gott uns Beide nicht vor so vielen andern Menschen gesegnet? – hat er uns nicht ein heiteres Alter, Freude an edlem Wirken und Schaffen, heilige Begeisterung für die göttliche Kunst .... hat er uns nicht einander selber gegeben? O, mein Freund, ich möchte die Abenddämmerung unseres Lebens um keine irdische Morgenröthe tauschen!«

»Ja!« – sagte Farinelli, dem Freund mit Innigkeit die Hände drückend, und sein schönes Greisenantlitz schien sich zu verklären – »ja! auch ich habe Gott recht viele heitere Stunden zu verdanken, und namentlich seitdem ich dich, meinen Bruder, kenne, und mein kleines Tusculum hier besitze. Und ...« fügte er hinzu – »was die Hauptsache ist, wir haben hier Stunden verlebt, die wie die seligen Kinderjahre keinen Bodensatz herber Erinnerungen zurücklassen.«

»Wir dürfen uns aber auch gestehen« – fügte Pater Martini heiter lächelnd hinzu – »daß wir die Grundbedingungen stillen Glückes in uns tragen, und das ist die Besonnenheit des Geistes, die das Leben rein und tief auffaßt, und die im vorüberwehenden Sturme der Augenblicke das Bleibende erkennt; – und dann die heitere Stimmung der Seele, die durch keinen Titanenkrieg der Leidenschaften mehr getrübt wird, und in der kein Neid und kein ungezähmter Ehrgeiz wohnt. Wer in dem Besitze dieser beiden größten Güter des Menschen ist, der danke seinem Genius, denn er trägt ein Eldorado in seinem Herzen, und gleich einem Halbgott geht er erhaben und siegreich durch das Leben. Es sind jene beiden Güter die Teleskope, durch die das innere Auge des Menschen die strahlenden Sternbilder des ewigen Lebens entdeckt, die so beglückend in das Erdenleben hineinglänzen und das vergängliche Herz mit einem ungetrübten Frieden erfüllen. Nur durch sie werden aus den unscheinbaren Nebelflecken der irdischen Tugend und Schönheit[183] strahlende Sonnensysteme und Milchstraßen, die uns gleich jenen der Sonnennacht die Ewigkeit unseres Daseins verkünden!«

»Amen!« – sagte der greise Farinelli feierlich – »Ich schlage mich auch hier wieder auf die Seite meines edlen Freundes und mag die Abenddämmerung nicht mit der Morgenröthe vertauschen.«

»Aber« – rief Martini froh und heiter – »freuen wollen wir uns doch dieser Morgenröthe und den Morgenstern des jungen Tages herzlich begrüßen, wenn unsere alten Augen den letzteren auch nicht mehr sehen!«

In diesem Augenblick trat der Diener ein und meldete: »Signore Amadeus Mozart

Quelle:
Heribert Rau: Mozart. Ein Künstlerleben. Berlin 4[o.J.], S. 175-184.
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