Die Briefe

[25] Schon lange zählen Mozarts Briefe zu den kostbarsten Dokumenten, die von großen deutschen Künstlern auf uns gekommen sind. Die außergewöhnliche Bedeutung dieser Schriftstücke erklärt sich daraus, daß in ihnen Probleme des Lebens, des Denkens und Schaffens, die den großen Meister erfüllten und bewegten, nicht oberflächlich berührt werden, sondern in ihren intimsten und feinsten Beziehungen zur Aussprache gelangen. Rückhaltslos äußert sich hier der Mensch und der Künstler; ein umrissenes, treues Bild der Persönlichkeit entsteht von einer Unmittelbarkeit der Wirkung, wie sie der Biograph nicht oft erreichen mag. Scharfe Lichter fallen auf Land und Zeit, auf frühere und zeitgenössische Künstler. Ungeschwächte Eindrücke dürften sich freilich nur dann einstellen, wenn von Auswahlen und Kürzungen dieser Dokumente Abstand genommen und wie in den vorliegenden Bänden zur möglichst vollständigen Wiedergabe aller erreichbaren Stücke geschritten wird.

Die überwiegende Mehrzahl der erhaltenen Briefe war nur für den engsten Kreis der Familie und der Freunde bestimmt. Um die Briefe vor unberufenen Augen zu schützen, griff Mozart häufig zur Chiffre. Breit und ungefärbt bringt er Erlebnis, Wunsch und Ziel zur Darstellung; nur vorübergehend verschweigt oder verschiebt er Einzelheiten, um bei passender Gelegenheit jedoch bald nachher ein offenes Geständnis abzulegen; erst nach der Heirat läßt er dem Vater [25] gegenüber nur zwischen den Zeilen durchblicken, was er ihm gerne vorenthalten möchte. Mit Alter und Erfahrung wechseln Form und Inhalt der Briefe. Von Wien aus treffen in den achtziger Jahren ganz andere Briefe in Salzburg ein, als vordem von Mannheim oder von Paris; wiederum anders lauteten die anfangs der siebziger Jahre geschriebenen Reisezettel aus Italien. Es ist fesselnd zu verfolgen, wie die Eindrücke der Jugendreisen sich in Mozart spiegeln, wie ihm dann in Mannheim und in Paris die Augen aufgehen, und wie er in Wien die Fesseln sprengt. in die ihn der Vater und vor allem der Salzburger Erzbischof geschlagen hatten. Den Briefen des verhätschelten Wunderkindes folgen die Briefe des durch die Macht der Erlebnisse hin und hergeworfenen Jünglings, diesen die Briefe des sich durchsetzenden Mannes und Gatten. Den heiteren Erzählungen von den Aufführungen der Jugendstücke schließen sich an die ausführlichen Meldungen von den Mannheimer und Pariser Versuchen, diesen die Berichte von der Konzeption, der Arbeit und Vollendung der Meisterwerke.

Gemeinsame Grundtöne klingen bald leise, bald stärker durch die Briefe. Die Mischung von Ernst und Heiterkeit, die Mozarts Wesen und Schaffen beherrscht, kommt in den Briefen von der Jugend bis in die letzten Lebenstage deutlich zum Durchbruch. Von der »Entführung« über »Le nozze di Figaro« und »Don Giovanni« bis zur »Zauberflöte«, im deutschen Singspiel wie in der Opera buffa und giocosa, innerhalb der Allegro- und Adagiosätze der Wiener Symphonien und der Wiener Kammermusik tritt die wundervolle Verschmelzung dieser heterogenen Elemente in Erscheinung und schafft besondere Stilgattungen und Typen, von denen Brücken zu Aristophanes und Shakespeare zurückführen. Freilich nicht in dieser künstlerischen Abgestimmtheit, vielmehr ungezügelt und unvermittelt treffen wir diese Mischung in den Briefen. Hier versteigt sich verschiedentlich der Humor bis zur derben Posse und zur galligen Satire. Die Tiefe von Mozarts Natur, die künstlerisch alles, was mit ihr in Berührung kommt, auf ein höheres Niveau stellt, zeigt sich auch in den Briefen. Die Art, wie er in seinen Werken die edlen Motive und Handlungen [26] musikalisch unterstreicht, die besondere Zartheit der Empfindung, durch die er in der Musik einzelne Figuren, Szenen und Teile mit einem Schlage in eine andere Sphäre hebt, findet ihre Ergänzung in den Briefen. Ein Idealismus leuchtet durch die Zeilen, den die schlechtesten Lebenslagen, die erfolglose Jagd nach einer höheren Stellung nicht beugen, die traurigen Erfahrungen nicht erschüttern können, und der sich trotzig aufbäumt, wenn es die Ehre des Künstlertums gilt. Eine Stütze bot ihm einerseits die Kirche, andererseits der Freimaurerorden. Dieser nahm ihm die Schrecken des Todes, jene gab ihm in der Not den sicheren Halt.

Reichlich orientieren die Briefe über Mozarts künstlerische Entwicklung und seine Beziehungen zu den verschiedenen Kulturzentren. Die enge Salzburger Hofkapelle, das lebhafte Musik- und Theaterleben der kurpfälzischen Residenz, die großen Pflegestätten von Oper und Symphonie, Paris und Wien, ziehen an uns vorüber. Eine stattliche Zahl erster und kleinerer Künstler taucht auf. Wir lernen die Musikpraxis der verschiedenen Höfe und Städte kennen. Nachhaltige Eindrückesammeln sich in dem jungen Mozart, auch ungünstige Einflüsse, wie die der Neuneapolitaner, gewinnen in ihm Boden. Die große italienische Opernkunst in ihren verschiedenen Gattungen und Mischungen, die Mannheimer Symphonie, der musikdramatische Stil Frankreichs, die Wiener Instrumentalmusik üben ihre Wirkung. Dann beginnen die Meisterjahre, die der nationalen deutschen Musik im 18. Jahrhundert ihre internationale Stellung begründen. Diesen einzelnen Phasen folgen wir in den Briefen und erhalten Aufschluß über Anlässe und Anregungen zur Entstehung einzelner Werke, ihre Durchführung und ihre Aufnahme beim Publikum. Ästhetische Darlegungen, die an Grundfragen rühren, fließen mit ein, wie beispielsweise die Briefe aus der Entstehungszeit der »Entführung« beweisen, ferner Mitteilungen über die Art des Komponierens, die der irrigen Meinung von Mozarts augenblicklicher, gleichsam unbewußter Produktion ganzer Werke ein Ende machen. Hiermit gehen einher zahlreiche Urteile über Kunst und Künstler, die tiefe Einsicht und einen Blick für das Entscheidende verraten. Zustände, Bewegungen, Strömungen und [27] Schulen werden geschildert, auch technische Fragen über Gesangskunst und Instrumentenspiel erörtert. In den Jugendjahren fällt das Schwanken im Urteil und eine gewisse Parteilichkeit auf. Merkwürdigerweise wird öfters auch von wichtigen Vorgängen, wie beispielsweise vom Pariser Piccinnistenstreit, nur kurze Notiz genommen. Wo in den Briefreihen durch den Verlust des einen oder anderen Schriftstückes oder durch Mozarts Absicht die Linie gestört wird, da reden die musikalischen Werke oder deren Skizzen eine deutliche Sprache.

Aufs engste verknüpft mit Mozarts Briefen sind die Antwort- und Begleitschreiben der Familie. Erst durch die Kenntnis dieser Schriftstücke, die aus den oben genannten Gründen in den achtziger Jahren leider nahezu aufhören, erlangen wir von den Mozartschen Briefen einen vollen Eindruck.

Das von Jahn und neuerdings von Mar Seiffert gezeichnete Bild des Vaters wird durch dessen Briefe um zahlreiche wesentliche Züge bereichert. Wir sehen vollends in die geistige Werkstatt Leopold Mozarts. Die oft weitschweifigen geschäftlichen Auslassungen über den Vertrieb seiner Violinschule nehmen wir dabeigerne in Kauf. Seine Willenskraft, seine Weltklugheit, sein tiefes Empfinden gewinnen ihm unser Interesse, besonders seine Fürsorge für den Sohn, dessen geniale Begabung er früh erkannte und mit ausgesprochen pädagogischem Geschick förderte. Vor allem tun aber die Briefe dar, welchen außerordentlichen Einfluß er auf den Sohn ausübte, und wieviel dieser von ihm annahm. Der Idomeneobriefwechsel beispielsweise belegt dies aktenmäßig. Nach dieser Seite bringt ein gleichzeitiges Studium der Briefe des Vaters und des Sohnes neue überraschende Aufschlüsse. In den Bemerkungen über Kunst und Künstler erscheint der Vater dem Sohne gegenüber häufig als der Vertreter der älteren Zeit. Zahlreiche Züge des Vaters erkennen wir im Sohne wieder.

Gegenüber diesen Briefen Leopold Mozarts mit ihrer Fülle von geistreichen Zügen und außergewöhnlichen Mitteilungen treten die biederen Schriftstücke der Mutter und die harmlosen Zeilen der Schwester in den Hintergrund. Die Welt von Vater und Sohn war eine [28] andere als die von Mutter und Schwester. Aus diesem Grunde erreichen auch die Briefe des Sohnes nach dem Tode des Vaters meist nicht mehr die frühere geistige Höhe. Die derbe Ausdrucksweise, die der Vater zuweilen von der Mutter übernahm, und die auch auf den Sohn abfärbte, teilte die Familie mit zahlreichen Zeitgenossen; wo sie in besonders starkem Maße auftrat, war sie durch das damalige Salzburger Milieu bedingt. Auch die Briefe der Gattin führen in keinen höheren Gesichtskreis und charakterisieren trotz der geringen Zahl, die der Vernichtung vorenthalten blieb, hinreichend die Schreiberin. Die weniger sympathischen Züge ihrer Persönlichkeit, auf die schon der Gatte in den Briefen zuweilen anspielt, kommen freilich erst in der nach Mozarts Tode geführten Korrespondenz, die weniger starke Lücken aufzuweisen hat, etwas deutlicher zum Vorschein. Von den weiteren Addressaten der Briefe Mozarts, den Salzburger Freunden, der Augsburger Buchbinderstochter Marie Anna Thekla Mozart, der Baronin von Waldstädten, dem Freiherrn von Jacquin, dem Kaufmann Puchberg in Wien und anderen ragen nur einige wie I. Haydn und der Padre Martini in Bologna aus der Schar weniger bedeutender Menschen heraus.

Fußnoten

1 Die Zahlen beziehen sich auf die den Briefen vorangesetzten Nummern.


2 Auf ausdrücklichen Wunsch unterbleibt die Nennung von Name und Ort.



Die Briefe

Quelle:
Die Briefe W. A. Mozarts und seiner Familie. 5 Bände, Band 1. München/ Leipzig 1914, S. 30.
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