Landschildkröten (Chersemyda)

[30] Strauch theilt nach eingehenden Untersuchungen die Ordnung der Schildkröten in drei Familien ein, deren erste die »Land-, Sumpf- oder Flußschildkröten« der meisten übrigen Forscher umfaßt und nur, wenn man diese beiden Gruppen vereinigt, als gleichwerthig mit den Weich- und den Seeschildkröten erscheint.

Die Merkmale der ersten Familie (Testudinida), welche wir, ungeachtet der verschiedenartigen Lebensweise ihrer Mitglieder, als die der Landschildkröten bezeichnen wollen, sind die [30] folgenden: Der Rückenschild ist stets eirund, aber in sehr verschiedenem Grade gewölbt; die Brustschildknochen sind stets zu einer Platte verwachsen, welche höchstens in der Mitte offen bleibt, Rücken- und Brustschild auch stets mit Hornplatten gedeckt. Das Trommelfell ist immer sichtbar. Die Beine, Gang-oder Schwimmfüße, haben Krallen von verschiedener Form, die Vorderfüße nie unter vier, gewöhnlich aber fünf, die Hinterfüße in der Regel vier, selten fünf und nur in einem Falle deren drei.

Bei den Landschildkröten im engeren Sinne (Chersemyda), denen wir den Rang einer Unterfamilie zusprechen mögen, ist das Becken frei, also nicht mit dem Brustschilde verbunden, und steigt die Anzahl der Kehlplatten höchstens auf zwei; oft findet sich nur eine, selten keine derartige Platte Fast alle hierher gehörigen Arten sind im Stande, Kopf und Hals unter den Rückenschild einzuziehen.

Alle warmen Länder der Erde, mit alleiniger Ausnahme von Neuholland, beherbergen Landschildkröten, Afrika, so viel bis jetzt bekannt, die meisten, Europa nur deren drei. Sie bewohnen zwar auch Steppen und Wüsten, mit Vorliebe aber doch waldige oder dicht mit Pflanzen bewachsene feuchte Orte und führen hier ein beschauliches oder richtiger, langweiliges Stillleben. Wie alle Kriechthiere der Wärme im höchsten Grade zugethan, zeigen auch sie sich in den gemäßigten Gürteln nur in den heißen Monaten des Jahres und verbringen die kühlere Zeit winterschlafend in selbstgegrabenen Löchern unter der Erde. Genau dasselbe findet in den Gleicherländern statt, jedoch während der heißesten und trockensten Monate des Jahres, welche unserem Winter entsprechen. »Während der großen Sonnenhitze und Trockenheit«, sagt Humboldt, »stecken diese Thiere, ohne zu fressen, unter Steinen und in Löchern, welche sie sich selbst gegraben haben. Erst wenn sie nach dem ersten Regen spüren, daß die Erde feucht wird, kommen sie aus ihrem Verstecke hervor und fangen wieder an zu fressen.«

Innerhalb ihrer Klasse gehören die Landschildkröten zu den trägsten, gleichgültigsten und langweiligsten Geschöpfen. Jede ihrer Bewegungen ist plump, schwerfällig und unbeholfen. Sie sind im Stande, ziemlich weite Strecken in einem Zuge zu durchwandern, thun dies jedoch mit einer Langsamkeit ohne gleichen, träge einen Fuß vor den anderen setzend und den schweren Körper gleichsam mit Widerstreben vorwärts schiebend. Jede Bewegung geschieht aber mit bedeutender Kraft. Ins Wasser geworfene oder zufällig dahin gerathene Landschildkröten sinken wie Steine zu Boden, strampeln hier ruhig weiter und gelangen so nach geraumer Zeit wieder an das Ufer, ohne irgend welchen Schaden erlitten zu haben. Viel schwieriger wird es ihnen, sich umzustürzen, wenn sie durch andere ihrer Art oder durch Feinde auf den Rücken gewälzt wurden: sie müssen dann oft tagelang mit dem Kopfe und Schwanze arbeiten, bevor es ihnen gelingt, sich umzuwenden; denn die ungelenken Füße versagen ihnen hierbei ihre Dienste. Auffallenderweise zeigen sie sich in einer anderen Bewegungsfertigkeit verhältnismäßig geschickt: sie verstehen nämlich in einem gewissen Grade zu klettern. Eine eigentliche Stimme scheinen sie nicht hervorbringen zu können: wenn sie gereizt werden, stoßen sie höchstens ein schnaubendes Blasen aus, nicht aber einen wirklich klingenden Ton. Die höheren Fähigkeiten stehen im Einklange mit dem verkümmerten Gehirne, welches überhaupt nur der Sinne halber vorhanden zu sein scheint. Doch läßt sich ein gewisses Maß geistiger Begabung nicht in Abrede stellen. Sie bekunden ziemlich entwickelten Ortssinn, geben Beweise von Gedächtnis und lassen zuweilen sogar eine gewisse Ueberlegung oder wenigstens Absicht bemerklich werden. Angesichts eines Feindes gebrauchen sie das Schutzmittel, ihre Gliedmaßen einzuziehen und im Panzer zu verbergen, ermüden hierdurch nach und nach auch den geduldigsten Gegner; denn einmal erschreckt, ziehen sie bei der geringsten Veranlassung ihre Glieder wieder in die schützende Hülle zurück. Unter sich legen sie ein Gefühl gegenseitiger Anhänglichkeit, andererseits auch der Abneigung an den Tag. Selbst unter ihnen macht sich die Eifersucht geltend. Zwei Männchen können eifersüchtig um den Besitz des Weibchens kämpfen und einen solchen Kampf längere Zeit mit einer gewissen Hartnäckigkeit fortführen. Dem erkorenen Weibchen folgen die verliebten Thiere tagelang, jedoch nur während der Zeit der Paarung; wenn letztere vorüber, geht jedes einzelne,[31] unbekümmert um das andere, seinen Weg. Bei Ablegung der Eier bekunden sie die unter ihren Ordnungsgliedern übliche Sorgsamkeit, die ausgeschlüpften Jungen hingegen lassen sie vollständig gleichgültig. Es scheint also, als ob ihnen nur daran läge, die Eier los zu werden und möglichst gut unterzubringen, als ob sie einem nicht zum Bewußtsein kommenden Drange folgten, nicht aber mit Ueberlegung handelten.

Die Nahrung besteht hauptsächlich aus weichen Pflanzentheilen, welche sie entweder abweiden oder richtiger abschneiden. Die größten Arten fressen gierig allerlei Kraut in erheblicher Menge, die kleineren mit mehr Auswahl Blatttheile, Pflanzensprossen und Früchte; erstere weiden rupfend, letztere schneiden mit den scharfen Kieferränden aus oder trennen den erfaßten Bissen durch ruckweises Zurückziehen des Kopfes ab. Gelegentlich fressen sie auch mancherlei Gewürm, beispielsweise Schnecken und Regenwürmer; an größere Thiere scheinen sie sich nicht zu wagen. Sie trinken selten und wenig auf einmal, scheinen auch zwischen verschiedenen Flüssigkeiten kaum einen Unterschied zu machen, schlürfen wenigstens Milch ebenso gern als Wasser oder Branntwein und Bier ohne Bedenken, da weder ihr Geruchs- noch ihr Geschmackssinn so ausgebildet sein mögen, daß sie derartig verschiedene Stoffe unterscheiden könnten.

Die rundlichen, mit weicher, kalkiger, zäher Schale überzogenen Eier werden in den günstigsten Monaten des Jahres gelegt und entweder in die Erde gegraben oder zwischen zusammengehäuftem Laube verborgen; die Jungen schlüpfen nach einigen Wochen aus und beginnen von diesem Augenblicke an das Leben ihrer Eltern.

Dem Menschen gewähren die Landschildkröten kaum einen nennenswerthen Nutzen. Man kann ihr Fleisch ebensogut genießen als das vieler Fluß- und Seeschildkröten, und jagt sie zu diesem Zwecke immer nur ausnahmsweise. Eher noch bemächtigt man sich ihrer für die Gefangenschaft und läßt sie im Zimmer oder im Garten umherlaufen. Haben sie sich einmal an engeren Gewahrsam und ein mit solchem meist zusammenhängendes, passendes Ersatzfutter gewöhnt, und gewährt man ihnen die unbedingt nöthige Wärme in unserem Winter, so halten sie, wohl und munter, viele Jahre lang die Gefangenschaft aus; gestattet man ihnen im Laufe des Sommers ein größeres Maß von Freiheit, läßt man sie beispielsweise in einem durch Mauern eingehegten Garten nach Belieben umherlaufen, bringt man sie nur bei Beginn der ihnen verderblichen Kälte in mäßig warme Räume, und gönnt man ihnen hier Winterschlaf, so befinden sie sich noch besser als im Käfige, suchen einen nicht unerheblichen Theil ihrer Nahrung selbst, schreiten wohl auch zur Fortpflanzung. Anscheinend verbürgte Angaben belehren uns, daß einzelne Landschildkröten siebzig, hundert, selbst hundertundfunfzig Jahre in Gefangenschaft gelebt haben.

Ihre Feinde sind die oben angegebenen, soweit sie in Betracht kommen können.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Siebenter Band, Dritte Abtheilung: Kriechthiere, Lurche und Fische, Erster Band: Kriechthiere und Lurche. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1883., S. 30-32.
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