Zweite Familie: Weichschildkröten (Trionichida)

[75] Die zweite, natürlich umgrenzte Familie der Ordnung umfaßt die Weichschildkröten (Trionichida). Ihr stets eirunder, meist sehr flach gewölbter Rückenschild zeigt ein knöchernes, auf seiner Oberseite mit weicher, getüpfelter oder durch wurmartige Zeichnungen geschmückter Haut bekleidetes Mittelfeld und rund um dasselbe einen weichen, knorpeligen Rand, welcher höchst selten von einzelnen Randknochen gestützt wird; der Brustschild besteht aus zeitlebens getrennten Knochen. Beide Schilder sind mit einer ununterbrochenen, weichen Haut, nicht aber mit Hornplatten bekleidet. Die Nasenlöcher liegen in einem weichen beweglichen Rüssel; das Trommelfell ist unter der Haut verborgen; die Kiefer werden mit fleischiger Haut gedeckt. Kopf und Hals[75] können unter die Schale eingezogen, die Beine, dreiklauige Schwimmfüße mit sehr entwickelten Schwimmhäuten, zuweilen wie der kurze Schwanz durch besondere Klappen verborgen werden.

Man kennt gegenwärtig etwa fünfundzwanzig verschiedenartige Weichschildkröten, welche Ströme, Flüsse und Seen Asiens, Afrikas und Amerikas bewohnen. In Asien sind die meisten, in Amerika die wenigsten Arten gefunden worden. Ihre Lebensweise ist noch wenig bekannt; doch weiß man, daß sie nur, um ihre Eier abzulegen, auf längere Zeit das Wasser verlassen, übrigens aber in ihm ihr Dasein verbringen. Obwohl sie auf festem Boden keineswegs ungeschickt, laut Baker vielmehr ziemlich rasch laufen sollen, unternehmen sie doch, so viel bekannt, niemals weitere Fußwanderungen, lassen sich auch dann nicht zu solchen bewegen, wenn ein von ihnen bewohntes Gewässer austrocknet, sondern graben sich unter so mißlichen Verhältnissen einfach im Schlamme ein und erwarten hier eine neue Zeit der Wasserfülle. Um so unternehmender erweisen sie sich, so lange ihnen das Wasser Wege und Pfade bietet. Einzelne Arten hat man in nicht unbeträchtlicher Entfernung von der Mündung ihres heimatlichen Stromes im offenen Meere gefangen, und es läßt sich annehmen, daß derartige Ausflüge in die See nicht allzu selten sein dürften. Alle Ströme nämlich, welche in einen bestimmten Meerestheil und in nicht zu großer Entfernung von einander einmünden, beherbergen in der Regel dieselben, wogegen verschiedenen Meerestheilen zuströmende und in ihrem oberen Laufe nicht durch Gabelungen verbundene Flüsse gewöhnlich von verschiedenartigen Weichschildkröten bewohnt werden.

Von ihrem Thun und Treiben im Wasser nimmt man wenig wahr. Alle Arten scheinen Nachtthiere zu sein und ihre eigentliche Thätigkeit erst nach Sonnenuntergang zu beginnen. Uebertages liegen sie, halb oder gänzlich in Schlamm eingebettet, träge auf einer und derselben Stelle, oft in sehr seichtem Wasser, welches leichter als die Tiefe von der Sonne durchstrahlt werden kann; nachts betreiben sie ihre Jagd auf allerlei schwimmendes Gethier. Dies schließt nicht aus, daß sie nicht ebenso in den Tagesstunden eine ihnen sich bietende Beute wegnehmen sollten; sie schnappen auch, wenigstens so lange die Sonne am Himmel steht, gierig nach einem Köder an der Angel. Neben thierischer Nahrung, welche ohne Zweifel den Haupttheil ihres Bedarfes bildet, verschmähen sie übrigens auch Pflanzenstoffe nicht: Rüppell fand im Magen und in den Eingeweiden der im Nile lebenden Weichschildkröte immer nur die Ueberreste von Datteln, Gurken, Kürbissen und dergleichen. Aber gerade von dieser Art haben die Araber mir erzählt, daß sie ein Fischräuber sei, und gerade von ihnen versichert Baker, daß sie mit großer Entschlossenheit an den Köder gehe. Es würde daher unrichtig sein, wollte man sich durch Rüppells Beobachtungen zu dem Schlusse verleiten lassen, daß sie Pflanzenkost bevorzugen sollten, und es ließe sich wohl auch nicht einsehen, wie sie ihr Leben in Gewässern fristen sollten, denen unmöglich Fruchtstoffe zugeführt werden können, wie beispielsweise in denen der Mongolei.

Für die Raublust, mittelbar also auch für die thierische Nahrung der Weichschildkröten, spricht ebenso der Muth und die nicht selten in Wuth übergehende Bosheit, welche sie bethätigen, wenn sie gefangen werden, zumal wenn sie vorher verwundet wurden. Nicht alle, aber doch weitaus die meisten Beobachter, welche Gelegenheit hatten, lebende Weichschildkröten kennen zu lernen, stimmen darin überein, daß diese zu den ingrimmigsten und bissigsten Gliedern der Ordnung zählen und nicht allein zischen und heiser gackern, sondern auch heftig um sich beißen. Die bedeutende Größe unserer Schildkröten, deren Gewicht bei einzelnen Arten über hundert Kilogramm betragen kann, und ihr äußerst wohlschmeckendes Fleisch fordert erklärlicherweise zu einer mehr oder weniger nachdrücklichen Verfolgung heraus. Man fängt sie in Fischnetzen und mit Hülfe der Angel, erlegt sie mit der Büchse oder spießt sie im Wasser, je nachdem die eine oder andere Art der Erbeutung üblich ist oder besseren Erfolg verspricht; aber man thut wohl, sich in bescheidener Entfernung von einer gefangenen Weichschildkröte zu halten. »Zum Fange der Gangesweichschildkröte«, erzählt Theobald, »benutzt man eine lange, an den Spitzen zugeschärfte eiserne Gabel oder ein zugeschnitztes Bambusrohr und stößt dieses Werkzeug an verschiedenen Stellen in den [76] weichen Schlamm oder die angeschwemmten halbverfaulten Blätter längs der Ufer der Bergströme. Berührt der Fischer hierbei eine Weichschildkröte, so nimmt er dies an ihrer Bewegung wahr. Nunmehr untersucht er vorsichtig mit der Hand ihre Lage und befestigt, je nach der Größe des Thieres, einen oder mehrere starke Angelhaken in dem hinteren Theile des Knorpelrandes ihres Schildes. Jetzt folgt ein kräftiger Zug an allen Angelschnüren und heraus kommt die wild um sich schlagende und mit ingrimmiger Wuth nach allem erreichbaren schnappende Schildkröte. Wenn letztere sehr groß ist oder in tiefem Wasser liegt, treibt man ihr auch wohl mit Hülfe eines schweren Hammers einen starken, spitzigen Pfahl durch den Rücken und fördert sie an diesem zum Lichte des Tages. Wehe dem Gliede, welches jetzt das rasende Thier erlangen kann! Ich habe gesehen, wie eine Weichschildkröte die Zehe eines Mannes abbiß mit Stumpf und Stiel. Unter allen Umständen ist es rathsam, dem ebenso beweglichen als boshaften Geschöpf so bald als möglich eine Kugel durch das Hirn zu jagen; aber auch die Weichschildkröte besitzt eine außerordentliche Lebenszähigkeit, und ihr Kopf beißt noch wüthend um sich, nachdem er vom Leibe getrennt wurde.« Die Mongolen, denen die Bissigkeit der bei ihnen einheimischen Weichschildkröten wohl bekannt zu sein scheint, umkleiden ihre Lebensgeschichte mit Fabeln und Märchen. »Unsere Kosaken verzichteten«, so berichtet Przewalski, »mit uns im Tachylgabache zu baden; denn sie fürchteten die Weichschildkröten, von denen ihnen die Mongolen erzählt hatten. Letztere schreiben diesen Geschöpfen besondere Zauberkräfte zu und weisen, um ihre Ansicht zu belegen, auf tibetanische Buchstaben hin, welche sich auf der Oberseite des Rückenschildes befinden sollen. Sie hatten unsere Kosaken eingeschüchtert durch die Behauptung, daß die Schildkröten in das Fleisch der Menschen sich einfaugen und, wenn dies geschehen, auf gewöhnlichem Wege nicht mehr abreißen lassen. Das einzige Mittel in solchem Falle ist, daß ein weißes Kamel und ein weißer Rehbock herbeigeschafft werden und, wenn sie die Schildkröte erblicken, zu schreien beginnen: dann läßt die letztgenannte von ihrem Opfer ab. In früheren Zeiten gab es im Tachylgabache keine Weichschildkröten; aber die fürchterlichen Thiere erschienen plötzlich, und die ebenso erstaunten wie entsetzten Bewohner der Umgegend wußten nun nicht, was sie thun sollten. Endlich wandten sie sich um Rath an den Higén oder Abt des nächsten Klosters, und dieser erklärte, daß die Schildkröte, welche plötzlich erschienen sei, fortan Besitzerin des Baches bleiben werde, überhaupt zu den heiligen Thieren gezählt werden müsse. Seit dieser Zeit wird allmonatlich einmal an der Quelle der Tachylga andächtig gebetet.«

Das Fleisch der Weichschildkröten wird nicht überall gegessen, aber von allen, welche es versucht haben, hoch gerühmt. Nach Baker liefert es eine ausgezeichnete Suppe. Minder schmackhaft scheinen die Eier zu sein. »Von einer«, so bemerkt derselbe Berichterstatter, »erhielt ich mehr als hundert Eier, welche in Eierkuchen verwandelt wurden, aber einen ziemlich starken Geschmack hatten.«

Ueber gefangene Weichschildkröten fehlen eingehende Mittheilungen. Kelaart erwähnt, daß er eine auf Ceylon lebende Art monatelang in einem Wasserkübel gehalten, und daß dieselbe ungezwungen thierische Stoffe, Brod und gekochten Reis gefressen habe, bemerkt auch, daß man sie in den durchlöcherten Raum der Fischerboote zu setzen pflege, damit sie hier mit den verbleibenden Resten aufräume. Zu uns gelangen lebende Schildkröten dieser Familie äußerst selten; ich habe aber doch wenigstens das noch nicht bestimmbare Junge einer Art gesehen. Es war ein allerliebstes Geschöpf, dessen Augen hell, förmlich klug in die Welt schauten und dessen an Bewegungen an Zierlichkeit und Anmuth die aller mir bekannten Süßwasserschildkröten übertrafen.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Siebenter Band, Dritte Abtheilung: Kriechthiere, Lurche und Fische, Erster Band: Kriechthiere und Lurche. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1883., S. 75-77.
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