[51] 207
Beisammenwohnen fördert Furcht,
Gesiedeltsein Unsauberkeit;
Wo keiner siedelt, keiner wohnt,
Wohl darf's der Denker ausersehn.
Gebornes wer getilgt hat ungedeihbar,
Gebiert es neu sich, kein Erkeimen duldet,
Ihn heißt allein man, Denker ihn und Wandrer:
Er hat den Friedenspfad erschaut, der Seher.
Die Felder zählt er und ermißt die Saaten:
Befruchtend nimmer läßt er keines keimen,
Als Denker all sein Leben sieht er enden;
Ermessen mag er nicht und nimmer zählen.
Verstanden hat er innig alle Stätten,
Nicht eine will er irgend noch entdecken:
Als Denker unbegehrsam ist er gierlos,
Nie schwimmt er wieder, angelangt am Ufer.
Allüberwinder, Allerkenner, kundig,
Von allen Dingen ewig abgeschieden,
Verlassend alles, lebenswahngeläutert:
Ihn künden wohl die Weisen an als Denker.
[52] 212
Den Tiefbedachten, tugendecht Bewährten,
Der einig worden Schauung übt besonnen,
Entfesselt, unbeklommen, ohne Wahn besteht:
Ihn künden wohl die Weisen an als Denker.
Verschwiegen wandernd, einsam, unermüdlich,
Getadelt ob gepriesen unerschüttert,
Dem Löwen gleich, den kein Gelärm verschüchtert,
Dem Winde gleich, der nicht am Netze haftet,
Wie Lotus, den kein Tropfen kann beträufeln,
Der andern Lenker, unlenkbar von andern:
Ihn künden wohl die Weisen an als Denker.
Wer im Gewoge wie ein Pfeiler wuchs empor,
Vor wem die Menge murmelt leisen Flüsterton,
Wer gierentgangen sich erzeugte Sinngewalt:
Ihn künden wohl die Weisen an als Denker.
215
Wer Schwachen sich wie Starken gleich bestätigt,
Unheilsam Handeln fern hat abgewiesen,
Der Forscher, der ungrad und grad ergründet:
Ihn künden wohl die Weisen an als Denker.
Wer sich gebändigt, Böses hat verwunden,
Als Jüngling, als ein Mann in sich verschwiegen,
Selbst unverstörbar keinen mag verstören:
Ihn künden wohl die Weisen an als Denker.
217
Erlesne Kost, gemeine, überbliebne,
Nur Brocken braucht er, wer von Atzung andrer lebt,
Er hält es kein Beloben, kein Betadeln wert:
Ihn künden wohl die Weisen an als Denker.
[53] 218
Alleinig wandernd wer da keine Paarung will,
Noch jung an Jahren sich vernestelt nirgendwo,
Dem Rausche der Berückung abhold, abgekehrt:
Ihn künden wohl die Weisen an als Denker.
219
Der Welt Erforscher, fand er höchstes Heiltum,
Hin durch die Meeresflut entkam er über so,
Zerhieb den Knoten, ohne Fessel wahnversiegt:
Ihn künden wohl die Weisen an als Denker.
220
Ungleich sind beide fremd geworden Freunden hier,
Der Hausner, der sein Weib ernährt, und wer entsagt:
Um andrer Weh' bekümmern selten Hausner sich,
Der Wesen Wohl, ein Klausner denkt es immer aus.
Wie da ein Pfau, der blau behalste Hahn der Luft,
In Flugeseile folgen keinem Schwane kann,
So kann der Hausner eifern keinem Mönche nach,
Dem fernen Denker, der im Walde Schauung übt.
Buchempfehlung
In die Zeit zwischen dem ersten März 1815, als Napoleon aus Elba zurückkehrt, und der Schlacht bei Waterloo am 18. Juni desselben Jahres konzentriert Grabbe das komplexe Wechselspiel zwischen Umbruch und Wiederherstellung, zwischen historischen Bedingungen und Konsequenzen. »Mit Napoleons Ende ward es mit der Welt, als wäre sie ein ausgelesenes Buch.« C.D.G.
138 Seiten, 7.80 Euro
Buchempfehlung
Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.
430 Seiten, 19.80 Euro