Als Buch bei Amazon

Mauthner, Fritz

Erinnerungen

I.

Prager Jugendjahre

Mit einiger Verwunderung sehe ich mich selbst bei der Arbeit, meine Lebenserinnerungen niederzuschreiben. Ich darf mich wohl rühmen, in einer mehr als vierzigjährigen schriftstellerischen Tätigkeit niemals meine Person in den Vordergrund, die Person vor die Sache gerückt zu haben; und da spreche ich in einem ganzen Buche, und gleich in dem ersten Satze, nur von mir selbst. Dennoch fühle ich keinen Gegensatz zwischen meiner scheuen Lebensführung und dieser heraustretenden Lebensbeschreibung. Es schien mir auf die Dauer unerträglich, in dem Kampfe gegen die kindermörderische alte Schule stille zu schweigen, nicht ein Bekenntnis zugunsten der neuen freien Schule abzulegen. So reifte der Entschluß, die ganz gewöhnliche, fast lächerliche Tragik der eigenen Schulerinnerungen zu erzählen; und über dem Bekennen wird ja der alte Erzähler etwas schwatzhaft geworden sein und seinen Lesern auch Gleichgültiges vorgetragen haben. Die Beiträge zur Kritik der alten Schule sind aber die Hauptsache. Bene vixit qui bene latuit, jawohl, aber: Mensch sein heißt ein Kämpfer sein; und im Kampfe hat man mit eigener Person zu bezahlen, gern oder ungern.

Wertvolle Selbstbiographien werden immer seltene Bücher bleiben. Wer so gut zu erzählen versteht, daß er auch schlechten Stoff zum Kunstwerke umschaffen[7] kann, oder wer so Merkwürdiges erlebt hat, daß auch eine kunstlose Darstellung den Reiz nicht abzuschwächen vermag, der wird eine lesbare Selbstbiographie schreiben können; aber ein Buch von bleibendem Werte entsteht nur, wenn zu der künstlerischen Darstellung und dem ungewöhnlichen Erlebnisse noch die Kraft hinzutritt, die eigene Seele wie mit den Augen einer fremden Überseele betrachten zu können. Ich möchte also nur vorausschicken, daß ich gar nicht die Absicht habe, letzte Bekenntnisse zu bieten, ein aufwühlendes Buch von bleibendem Werte. Es hat nicht jeder die inbrünstige Offenheit eines Augustinus, die pathologische eines Rousseau.

Eines aber sollte jeder, so gut er es versteht, niederschreiben und veröffentlichen: seine eigenen Schulerinnerungen. Denn die Schule hat seit mehr als hundert Jahren, eigentlich langsam schon seit dem Aufkommen der mittelalterlichen Gelehrtenschule, eine solche Macht gewonnen, eine Macht über die Entwicklung des jungen Menschen, daß das Schicksal des künftigen Geschlechtes in hohem Grade davon abhängig ist, ob wir taugliche oder untaugliche Schuleinrichtungen besitzen. Einzig und allein von der Schule kann die Zukunft einer jungen Welt freilich nicht abhängig sein; denn dann hätte die Menschheit unserer Kulturländer doch wohl schon längst zugrunde gehen müssen. Die kräftige Menschennatur hilft sich selbst gegen die elenden Schuleinrichtungen wie gegen andere schlechte Gesetze. Das Haus bekämpft die Schule. Selbst die Roheiten eines Trunkenboldes von Vater können für den Charakter des Knaben eine günstige Wirkung haben; der Vater jagt den Jungen von den Büchern weg auf die Straße, wo für den spätern Kampf ums Dasein aus dem[8] Raufen mit Altersgenossen mehr zu lernen ist als aus der Geschichte des Königs Hiskias. Desto besser, wenn der Vater kein Trunkenbold ist, wenn der erfahrene Vater oder die mitleidige Mutter das Kind mit Bewußtsein von den Büchern fortjagt und spricht: »Sei meinetwegen ein schlechter Schüler; sei nur ein glücklicher Junge und werde ein tüchtiger Mensch!«

Unsere Schule ist wie eine epidemische Kinderkrankheit, die jeder von uns durchmachen muß; unzählige sind an dieser Krankheit gestorben, unzählige sind zeitlebens seelische Krüppel geblieben. Es wäre gut, Eigenberichte über den Verlauf der Krankheit zu sammeln. Recht gute Anfänge sind schon gemacht worden. Die Gesetzgeber würden dann wenigstens erfahren, wie den Schülern unter der Herrschaft der alten Gesetze zumute war. Der Leser müßte manches zufällige Vorkommnis, müßte manches allzu persönliche Urteil mit in den Kauf nehmen; aber wir würden endlich einmal den Schrei der Kreatur hören und nicht immer wieder die flüsternde Totensprache einer offiziösen Wissenschaft. Es wäre vielleicht überhaupt günstig für die angewandte Medizin, wenn die Krankengeschichten nicht von den Ärzten, sondern von den Patienten geschrieben würden.

Man wird mir einwenden wollen, daß nicht alle erwachsenen Menschen mit Haß und Zorn an ihre Schulzeit zurückdenken. Es gibt sicherlich viele Menschen, die zu guten Staatsbürgern prädestiniert sind, die alle Polizeiverordnungen löblich finden und die darum auch an unsern Schuleinrichtungen nichts auszusetzen wissen. Es gibt ferner an allen unseren Schulen, den niedersten wie den höchsten, viele prächtige Lehrer, die ihren Beruf lieben und die in stetem Kampfe mit dem Schulreglement und mit ihren Vorgesetzen den Kindern[9] und den jungen Leuten freundliche Führer auf der Höllenfahrt der Schule sind. Es kommt aber noch eins hinzu; die guten Menschen, die mit manchem Wenn und Aber freundlich und dankbar an ihre Schulzeit zurückdenken, verwechseln sehr häufig die Stimmung der glücklichen Jugendzeit, die sich nicht einmal von der Schule unterkriegen läßt, mit der Schule selbst; wer es einstens ernst nahm mit den Schulpflichten, und wer es nachher ernst nimmt mit den Pflichten gegen die eigenen Kinder, der kann nicht so optimistisch von seiner Schulzeit denken. Ernste Männer, die ernste Schüler waren, dürften mit seltenen Ausnahmen einig sein in einem Verdammungsurteil über die alte Schule, die immer noch die unsere ist.

Gerade in den letzten Jahren konnte das jeder vernehmen, der seine Ohren nicht verschloß für die zu einer Anklage angewachsenen Klagen gegen die alte Schule. In den sehr lesenswerten Beratungen über die Einrichtung einer einheitlichen Zukunftsschule, einer Neuschule, die die Kinder aus den Fesseln einer rückständigen Pädagogik befreien soll, hörte man immer wieder in fast tragischen Tönen ein Verdammungsurteil über die Schulzeit der jetzt führenden Lehrer und gewiß über die Schulnot just der begabtesten Knaben. Die Verteidigungsreden einzelner Musterschüler, die es zu etwas gebracht haben, vielleicht weil sie Zeit ihres Lebens stets das Wirkliche vernünftig fanden, machen in diesen rebellischen Diskussionen eher einen predigerhaften als einen überzeugenden Eindruck. Es soll mir recht sein, wenn sich die jungen Lehrer auch auf mich alten Herrn werden berufen können.

Meine eigenen Schulerinnerungen nun sind leider nicht typisch für die Leiden eines begabten deutschen[10] Knaben. Ich bin als Jude geboren und habe meine ganze Schulzeit, achtzehn Jahre, in dem schönen hunderttürmigen Prag verbracht, also in einer schon damals sehr slawischen Stadt. Ich kann aber meine Erinnerungen nicht fälschen und muß froh sein, wenn durch diese beiden Umstände ein wenig Abwechslung kommen wird in die Einerleiheit des Schulfabrikbetriebes, durch welchen ich hindurchgeschleppt wurde.[11]

Quelle:
Mauthner, Fritz: Erinnerungen, Band 1: Prager Jugendjahre, München 1918, S. 7-12.
Erstdruck: München (Georg Müller) 1918.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Diderot, Denis

Die Nonne. Sittenroman aus dem 18. Jahrhundert

Die Nonne. Sittenroman aus dem 18. Jahrhundert

Im Jahre 1758 kämpft die Nonne Marguerite Delamarre in einem aufsehenerregenden Prozeß um die Aufhebung ihres Gelübdes. Diderot und sein Freund Friedrich Melchior Grimm sind von dem Vorgang fasziniert und fingieren einen Brief der vermeintlich geflohenen Nonne an ihren gemeinsamen Freund, den Marquis de Croismare, in dem sie ihn um Hilfe bittet. Aus dem makaberen Scherz entsteht 1760 Diderots Roman "La religieuse", den er zu Lebzeiten allerdings nicht veröffentlicht. Erst nach einer 1792 anonym erschienenen Übersetzung ins Deutsche erscheint 1796 der Text im französischen Original, zwölf Jahre nach Diderots Tod. Die zeitgenössische Rezeption war erwartungsgemäß turbulent. Noch in Meyers Konversations-Lexikon von 1906 wird der "Naturalismus" des Romans als "empörend" empfunden. Die Aufführung der weitgehend werkgetreuen Verfilmung von 1966 wurde zunächst verboten.

106 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon