211-213

211

[675] Ich bestehe darauf, daß man endlich aufhöre, die philosophischen Arbeiter und überhaupt die wissenschaftlichen Menschen mit den Philosophen zu verwechseln – daß man gerade hier mit Strenge »jedem das Seine« und jenen nicht viel zu viel, diesen nicht viel zu wenig gebe. Es mag zur Erziehung das wirklichen Philosophen nötig sein, daß er selbst auch auf allen diesen Stufen einmal gestanden hat, auf welchen seine Diener, die wissenschaftlichen Arbeiter der Philosophie, stehen bleiben – stehen bleiben müssen; er muß selbst vielleicht Kritiker und Skeptiker und Dogmatiker und Historiker und überdies Dichter und Sammler und Reisender und Rätselrater und Moral ist und Seher und »freier Geist« und beinahe alles gewesen sein, um den Umkreis menschlicher Werte und Wert-Gefühle zu durchlaufen und mit vielerlei Augen und Gewissen, von der Höhe in jede Ferne, von der Tiefe in jede Höhe, von der Ecke in jede Weite blicken zu können. Aber dies alles sind nur Vorbedingungen seiner Aufgabe: diese Aufgabe selbst will etwas anderes – sie verlangt, daß er Werte schaffe. Jene philosophischen Arbeiter nach dem edlen Muster Kants und Hegels haben irgendeinen großen Tatbestand von Wertschätzungen – das heißt ehemaliger Wertsetzungen, Wertschöpfungen, welche herrschend geworden sind und eine Zeitlang »Wahrheiten« genannt werden – festzustellen und in Formeln zu drängen, sei es im Reiche des Logischen oder des Politischen (Moralischen) oder des Künstlerischen. Diesen Forschern liegt es ob, alles bisher Geschehene und Geschätzte übersichtlich, überdenkbar, faßlich, handlich zu machen, alles Lange, ja »die Zeit« selbst abzukürzen und die ganze Vergangenheit zu überwältigen: eine ungeheure und wundervolle Aufgabe, in deren Dienst sich sicherlich jeder feine Stolz, jeder zähe Wille befriedigen kann. Die eigentlichen Philosophen aber sind Befehlende und Gesetzgeber: sie sagen »so soll es sein!«, sie bestimmen erst das Wohin? und Wozu? des Menschen und verfügen dabei über die Vorarbeit aller philosophischen Arbeiter, aller Überwältiger der Vergangenheit – sie greifen mit schöpferischer Hand nach der Zukunft, und alles, was ist und war, wird ihnen dabei zum Mittel, zum Werkzeug, zum Hammer. Ihr »Erkennen« ist Schaffen, ihr Schaffen ist eine Gesetzgebung, ihr Wille zur Wahrheit ist – Wille zur[676] Macht. – Gibt es heute solche Philosophen? Gab es schon solche Philosophen? Muß es nicht solche Philosophen geben?...


212

Es will mir immer mehr so scheinen, daß der Philosoph als ein notwendiger Mensch des Morgen und Übermorgen sich jederzeit mit seinem Heute in Widerspruch befunden hat und befinden mußte: sein Feind war jedesmal das Ideal von heute. Bisher haben alle diese außerordentlichen Förderer des Menschen, welche man Philosophen nennt, und die sich selbst selten als Freunde der Weisheit, sondern eher als unangenehme Narren und gefährliche Fragezeichen fühlten –, ihre Aufgabe, ihre harte, ungewollte, unabweisliche Aufgabe, endlich aber die Größe ihrer Aufgabe darin gefunden, das böse Gewissen ihrer Zeit zu sein. Indem sie gerade den Tugenden der Zeit das Messer vivisektorisch auf die Brust setzten, verrieten sie, was ihr eigenes Geheimnis war: um eine neue Größe des Menschen zu wissen, um einen neuen ungegangenen Weg zu seiner Vergrößerung. Jedesmal deckten sie auf, wieviel Heuchelei, Bequemlichkeit, Sich-gehen-lassen und Sich-fallen-lassen, wie viel Lüge unter dem bestgeehrten Typus ihrer zeitgenössischen Moralität versteckt, wie viel Tugend überlebt sei; jedesmal sagten sie: »wir müssen dorthin, dorthinaus, wo ihr heute am wenigsten zu Hause seid.« Angesichts einer Welt der »modernen Ideen«, welche jedermann in eine Ecke und »Spezialität« bannen möchte, würde ein Philosoph, falls es heute Philosophen geben könnte, gezwungen sein, die Größe des Menschen, den Begriff »Größe« gerade in seine Umfänglichkeit und Vielfältigkeit, in seine Ganzheit im Vielen zu setzen: er würde sogar den Wert und Rang danach bestimmen, wie viel und vielerlei einer tragen und auf sich nehmen, wie weit einer seine Verantwortlichkeit spannen könnte. Heute schwächt und verdünnt der Zeitgeschmack und die Zeittugend den Willen, nichts ist so sehr zeitgemäß als Willensschwäche: also muß, im Ideale des Philosophen, gerade Stärke des Willens, Härte und Fähigkeit zu langen Entschließungen in den Begriff »Größe« hineingehören; mit so gutem Rechte als die umgekehrte Lehre und das Ideal einer blöden entsagenden demütigen selbstlosen Menschlichkeit einem umgekehrten Zeitalter angemessen[677] war, einem solchen, das gleich dem sechzehnten Jahrhundert an seiner aufgestauten Energie des Willens und den wildesten Wässern und Sturmfluten der Selbstsucht litt. Zur Zeit des Sokrates, unter lauter Menschen des ermüdeten Instinktes, unter konservativen Altathenern, welche sich gehen ließen – »zum Glücke«, wie sie sagten, zum Vergnügen, wie sie taten – und die dabei immer noch die alten prunkvollen Worte in den Mund nahmen, auf die ihnen ihr Leben längst kein Recht mehr gab, war vielleicht Ironie zur Größe der Seele nötig, jene sokratische boshafte Sicherheit des alten Arztes und Pöbelmanns welcher schonungslos ins eigne Fleisch schnitt, wie ins Fleisch und Herz des »Vornehmen«, mit einem Blick, welcher verständlich genug sprach: »verstellt euch vor mir nicht! Hier – sind wir gleich!« Heute umgekehrt, wo in Europa das Herdentier allein zu Ehren kommt und Ehren verteilt, wo die »Gleichheit der Rechte« allzuleicht sich in die Gleichheit im Unrechte umwandeln könnte: ich will sagen in gemeinsame Bekriegung alles Seltenen, Fremden, Bevorrechtigten, des höheren Menschen, der höheren Seele, der höheren Pflicht, der höheren Verantwortlichkeit, der schöpferischen Machtfülle und Herrschaftlichkeit – heute gehört das Vornehm-sein, das Für-sich-sein-wollen, das Anders-sein-können, das Allein-stehn und Auf-eigne-Faust-leben-müssen zum Begriff »Größe«; und der Philosoph wird etwas von seinem eignen Ideal verraten, wenn er aufstellt: »der soll der Größte sein, der der Einsamste sein kann, der Verborgenste, der Abweichendste, der Mensch jenseits von Gut und Böse, der Herr seiner Tugenden, der Überreiche des Willens; dies eben soll Größe heißen: ebenso vielfach als ganz, ebenso weit als voll sein können.«Und nochmals gefragt: ist heute – Größe möglich?


213

Was ein Philosoph ist, das ist deshalb schlecht zu lernen, weil es nicht zu lehren ist: man muß es »wissen«, aus Erfahrung – oder man soll den Stolz haben, es nicht zu wissen. Daß aber heutzutage alle Welt von Dingen redet, in bezug auf welche sie keine Erfahrung haben kann, gilt am meisten und schlimmsten von Philosophen und den philosophischen Zuständen – die wenigsten kennen sie, dürfen sie[678] kennen, und alle populären Meinungen über sie sind falsch. So ist zum Beispiel jenes echt philosophische Beieinander einer kühnen ausgelassenen Geistigkeit, welche presto läuft, und einer dialektischen Strenge und Notwendigkeit, die keinen Fehltritt tut, den meisten Denkern und Gelehrten von ihrer Erfahrung her unbekannt und darum, falls jemand davon vor ihnen reden wollte, unglaubwürdig. Sie stellen sich jede Notwendigkeit als Not, als peinliches Folgen-müssen und Gezwungen-werden vor; und das Denken selbst gilt ihnen als etwas Langsames, Zögerndes, beinahe als eine Mühsal und oft genug als »des Schweißes der Edlen wert« – aber ganz und gar nicht als etwas Leichtes, Göttliches und dem Tanze, dem Übermute Nächst-Verwandtes! »Denken« und eine Sache »ernst nehmen«, »schwer nehmen« – das gehört bei ihnen zueinander: so allein haben sie es »erlebt«. Die Künstler mögen hier schon eine feinere Witterung haben: sie, die nur zu gut wissen, daß gerade dann, wo sie nichts mehr »willkürlich« und alles notwendig machen, ihr Gefühl von Freiheit, Feinheit, Vollmacht, von schöpferischem Setzen, Verfügen, Gestalten auf seine Höhe kommt – kurz, daß Notwendigkeit und »Freiheit des Willens« dann bei ihnen eins sind. Es gibt zuletzt eine Rangordnung seelischer Zustände, welcher die Rangordnung der Probleme gemäß ist; und die höchsten Probleme stoßen ohne Gnade jeden zurück, der ihnen zu nahen wagt, ohne durch Höhe und Macht seiner Geistigkeit zu ihrer Lösung vorherbestimmt zu sein. Was hilft es, wenn gelenkige Allerwelts-Köpfe oder ungelenke brave Mechaniker und Empiriker sich, wie es heute so vielfach geschieht, mit ihrem Plebejer-Ehrgeize in ihre Nähe und gleichsam an diesen »Hof der Höfe« drängen! Aber auf solche Teppiche dürfen grobe Füße nimmermehr treten: dafür ist im Urgesetz der Dinge schon gesorgt; die Türen bleiben diesen Zudringlichen geschlossen, mögen sie sich auch die Köpfe daran stoßen und zerstoßen! Für jede hohe Welt muß man geboren sein; deutlicher gesagt, man muß für sie gezüchtet sein: ein Recht auf Philosophie – das Wort im großen Sinne genommen – hat man nur dank seiner Abkunft, die Vorfahren, das »Geblüt« entscheidet auch hier. Viele Geschlechter müssen der Entstehung des Philosophen vorgearbeitet haben; jede seiner Tugenden muß einzeln erworben, gepflegt, fortgeerbt, einverleibt worden sein, und nicht nur der kühne leichte zarte Gang und[679] Lauf seiner Gedanken, sondern vor allem die Bereitwilligkeit zu großen Verantwortungen, die Hoheit herrschender Blicke und Niederblicke, das Sich-Abgetrennt-Fühlen von der Menge und ihren Pflichten und Tugenden, das leutselige Beschützen und Verteidigen dessen, was mißverstanden und verleumdet wird, sei es Gott, sei es Teufel, die Lust und Übung in der großen Gerechtigkeit, die Kunst des Befehlens, die Weite des Willens, das langsame Auge, welches selten bewundert, selten hinaufblickt, selten liebt...[680]

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 675-681.
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