Beilage D.

[144] Gottlob, daß stets das Beste nur geschieht,

Drum schreckt's mich nicht, hat auch bald ausgeglüht

Der Funke, der bisher die Dämmerung erhalten,

Bei der des Lebens wechselnde Gestalten

Und Lieb für sie nicht ganz und gar erkalten.


O Vatergott, o wohl, wohl mir,

Daß ich so lange schon mit dir

Den Lebensweg zu wandeln mich bestrebet,

Daß von des Geistes Heiligkeit belebet,

Der zu der Wahrheit führt, die frei

Uns macht von jener Täuscherei,

Die keiner Wahrheit, keiner Freiheit huldigt,

Und die Sophismen gern entschuldigt,

Mit denen Kustvernunft ihr leichtes Spielwerk treibt,

Das den, der in der falschen Schule bleibt,

Verleitet so die Dinge aufzufassen,

Wie sie durchs buntgeschliffne Glas

Von kranken Augen sehn sich lassen. –


[144] * * *


Wird's denn niemals geben bessre Zeit?

Werden die Harpyen der Erbärmlichkeit

Immer an dem Wurzelwerk der Saaten zehren,

Die in Hoffnung künftger voller Ähren

Mancher mühsam fleißig in die Furchen streut?

Will denn Niemand ihre Freßgier hinter Dämpfen

Eines Pestgeruchs mit Ernst bekämpfen

Und den Greueln der Verwüstung Einhalt thun?

Durch der Legionen Nachdruck übermächtig

Läßt man Bosheit still im Schatten ruhn,

Macht die reinste Wissenschaft aufruhrsverdächtig

Hängt der Unschuldssonne klarem Licht,

Wenn es durch die Morgenröthe bricht,

Decken vor, und sucht den Fleiß zu hindern,

Kräftig jedes Mangels Druck zu mindern,

So daß nur vom Überfluß,

Der von ihren Räubertafeln abfällt,

Sich des Armen Kummer gnügen muß.


* * *


In das Stammbuch der Frau Cantzlerin von Schrötter gebornen Gräfin Dohna Excellenz.

Es herrschten Fried und Freud in aller Welt,

Blieb alles so wie Gott es hingestellt

Zum Weiterschritt in eine andre Welt.

Allein von Übermuth und Vorwitz angetrieben

Versucht man anders es zu schieben[145]

Und unterläßt die Pflichten auszuüben,

Die allen sind ins Herz geschrieben,

Hoch über alles Gott zu lieben,

Und wie sich selbst die Menschen alle.

Denn wenn die Lieb ihr Wesenselement,

Die Weltumfassung, selbst verkennt,

Dann wird sie bald zum leeren Echoschalle,

Und wagt sie, zu gefällig, es allein

Des musternden Verstandes Künstelein

Und seiner Herrschlust frei zu überlassen,

Ganz ihren Sinn und Umfang zu erfassen

So wird der vom Gefühl nicht gleich gestimmte Willen

Sie hindern am Begreifen und Erfüllen,

Was in der Wahrheit und im Geist

Gott und die Menschen wirklich lieben heißt.1


Fußnoten

1 Es giebt Menschen, die ihren ausgebildeten Verstand so hoch stellen, daß sie das kindliche Gewissen zu überlisten oder zu überwältigen versuchen. Glück es ihnen damit, so ist die Folge davon, daß sie sich Dinge erlauben, die wider das deutlichste Gesetz sind, und halten ihre Argumente für sichrer, wie jener sichtbare Winke und Befehle, ob sie gleich schon aus eigener Erfahrung wissen könnten, daß sich Zeiten und Umstände ereignen können, in denen das angeborne Gewissen sein volles Recht gegen den künstlich erzogen Verstand zum Nachteil des letztern zurückfordert und gültig macht. Nemo ante obitum beatus ist gewiß zuerst von der Nemesis ausgesprochen.


Quelle:
Scheffner, Johann George: Nachlieferungen zu meinem Leben. Nach bestem Wissen und Gewissen, stets mit kräftigem Wollen, oft mit schwachem Können, Leipzig 1884, S. 147.
Lizenz:

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