Die letzte Nacht

[184] 1874.


Ich hab' zur Nacht gesessen

Mit euch im goldnen Saal;

Aus blanken Römern schoß der Wein,

Süß duftete das Mahl.

Die Luft ging schwer, die Ampel warf

Trüb ihren letzten Schein – –

Die Fenster auf! und kühl und scharf

Schlägt Morgenwind herein.


Aufschreckt vom Schoß des Buhlen

Die leichtgeschürzte Dirn,

Der Bursch springt auf und stößt die Faust

Hohnlachend an die Stirn.

Die Dirne reißt er dann empor,

Und küßt sie lang und heiß,

Schwarz fällt sein Haar wie Trauerflor

Auf ihres Nackens Weiß.


»Füllt einmal noch die Becher,

Genossen dieser Nacht.

Stoßt mit mir an, frisch, auf den Tod,

Dies Glas sei ihm gebracht.[184]

Du trinkst der Liebe, du der Lust –

Das all ist Tand und Schall,

Ein Hauch in fieberkranker Brust,

Der Tod besiegt das all.


Wann hab ich nicht die Locken

Mit Kränzen mir geschmückt,

Wann sah ich je ein blühend Weib,

Das nicht mein Gold berückt!

Begehrt' ich Ruhm, begehrt' ich Macht,

Schon lag's zu Füßen mir,

Mein Tag war Gluth und Gluth die Nacht –

Eins aber quält mich hier.


Das eine macht mich müde,

Macht schaal mir Bett und Wein,

Das grinst mich an aus jedem Aug'

Wie marklos Todtenbein.

Das löscht am Himmel Licht und Tag,

Das zehrt die letzte Ruh, –

Die Frage ist's, die tolle Frag',

Wozu dies all, wozu?


Wo ist ein Lenz ohn' Winter,

Ein Lieben ohne End', –

Wo ist ein Feuer, das nicht matt

Zu Kohl' und Asche brennt.

So ehern steht kein Fels, kein Land,

Dem nicht die Sündfluth droht –

Nur eins lebt ewig, eins hält Stand,

Das Leben ist der Tod.«


Er ruft's und wie am Grabe

Hält plötzlich alles Ruh, –

Da zuckt ein Blitz, da fällt ein Schuß,

Und leise haucht's Wozu?

Die Dirne stürzt zur Thür und schreit,

Wirft klirrend den Pokal, –

Und durch die Fenster hell und breit

Glüht auf des Morgens Strahl.

Quelle:
Wilhelm Arent (Hg.), Moderne Dichter-Charaktere. Leipzig 1885, S. 184-185.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Lessing, Gotthold Ephraim

Miß Sara Sampson. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen

Miß Sara Sampson. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen

Die tugendhafte Sara Sampson macht die Bekanntschaft des Lebemannes Mellefont, der sie entführt und sie heiraten will. Sara gerät in schwere Gewissenskonflikte und schließlich wird sie Opfer der intriganten Marwood, der Ex-Geliebten Mellefonts. Das erste deutsche bürgerliche Trauerspiel ist bereits bei seiner Uraufführung 1755 in Frankfurt an der Oder ein großer Publikumserfolg.

78 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon