Zweiter Theil.

Die Königin ist weg; das Spiel ist verloren, sagte Herr v. G., da von der Abreise meines Vaters geredet ward.

Ich würde diesen Umstand meinem Vater nicht nachleichreden, wenn ich mich nicht bei den Lesern des zweiten Theiles entschuldigen müßte, warum ich aus der Noth eine Tugend gemacht und mich in den festen Ort der Erzählung geworfen.

Freilich ist man hiebei vor den leichten Truppen der Kritik sicherer; was aber meine kunstrichterlichen Leser dazu sagen werden, die entweder bei der schweren Cavallerie in Diensten stehen – oder bloß aus Lust und Liebe lesen und gar nicht in gelehrten Kriegsdiensten sind, muß die Zeit lehren. – Aug' und Ohr haben zwar viel Aehnlichkeit mit einander, allein alle Welt spricht von schönen Augen; ein verzärtelter Kenner aber nur vom schönen Ohr. Das Gesicht ist unstreitig der edelste Sinn, ohne ihn ist kein anderer Sinn vollständig. Auch selbst wenn ich im gemeinen Leben erzählen höre, sehe ich – ich sehe den Erzähler steif an, recht, als schien ich es zu bedauern, daß ich diese Geschichte nicht im Original gesehen; ich verlange, der Erzähler soll sie nachhandeln; soll, was und wie es geschehen, leibhaftig zeigen. Je mehr ein Erzähler zu sehen ist, je mehr freue ich mich, je mehr finde ich die Kopie getroffen. Oft habe ich gedacht, daß es eine Geschichte geben könne (ob einen Roman, weiß ich nicht), wo man[1] nicht höre, sondern sehe, durch und durch sehe, wo nicht Erzählung, sondern Handlung wäre, wo man alles, oder wenigstens mehr sehe, als höre. – Man sieht freilich den Erzähler im gemeinen Leben, allein die Wahrheit zu sagen, man hört ihn mehr, und es würde Affektation seyn, wenn er mehr zu sehen, als zu hören wäre. Ein Erzähler, wenn er im Druck erscheint, wie wenig ist er zu sehen! wie weit weniger, als im gemeinen Leben! – – – – Dergleichen Geschichte, wo, wie meine Mutter sagen würde, gewandelt und gehandelt wird, will man sie eine redende, eine Geschichte mit eigenen Worten nennen, meinethalben! Daß eine Geschichte durchweg in Gesprächen, eine in Fragen und Antworten ein ganz ander Ding sey, versteht sich. Wären in einer redenden Geschichte auch nur ausgerissene Lebensblätter, wie leicht würden sie zusammenzusetzen seyn. – Man würde dem Leser noch obenein eben hiedurch unvermerkt Gelegenheit zu mehrerer Anstrengung geben, und ihn zum Mitarbeiter an seinem Werke machen. – – Daß ich es bei dieser Geschichte zu diesem Ziel nicht angelegt, bescheide ich mich von selbst, und ich bin schon zufrieden, wenn mein Lebenslauf nur hie und da Darstellung enthält, und wenn sich in dem Schlusse des ersten Bandes die Personen selbst zu erkennen und zu verstehen gegeben. Rede und du bist, könnte das Motto zu diesen Gesprächen seyn; es liegt eine besondere Natur in der Rede.

Zwar waren auch ohne meinen Vater noch treffliche Officiere auf dem Brette, die noch immer redend eingeführt zu werden verdient hätten; allein der kommandirende General war gefallen. – Wer würde meinem Vater wohl diese Ehre streitig gemacht haben, wenn er nicht zu oft auf die Kanzel gestiegen?

Herr v. G. hatte, um auf dem Brette zu bleiben, den Gang des Elephanten.

Wer den Springer vorstellte, wissen wir alle.[2]

Vielleicht finden meine Leser noch mehr aus dem Schachspiel in der Gesellschaft, aus der mein Vater plötzlich schied. Das Spiel ist das Bild der Welt, wenn auch nur König und Königin in Erwägung genommen werden. – So wie sie im Schach gehen, so gemeinhin in der Welt. – Herr v. W. hatte den Dionysius beschämt und den Waldhornisten ein ansehnliches und fühlbares Compliment in die Hand gedrückt. Die Art, wie er dieses Geschenk gegeben, haben wir nicht nöthig abzulauern, um ihn mehr zu wissen; denn wir wissen ihn schon inwendig und auswendig. Er hatte Ursache, diese Schreier zum Schweigen zu bringen; denn es gingen die Vigilien wegen eines den folgenden Tag zu feiernden Trau erfestes an.

Der Laufer, Herr Hermann, bedeutete mehr, nachdem mein Vater weg war und Herr v. W. ihn deckte. Herr Hermann schien sich sogar, vielleicht in Rücksicht dieser Deckung, ein Direktorium über mich anzumaßen. Ich konnt' ihm hiezu keine Befugniß zugestehen; denn obgleich er mir zu Brusttüchern ehemals Maß genommen, so glaub' ich doch, dieserhalb keine Pflicht zur Verehrung auf mir zu haben. Die Feierkleider waren ihm ohnedem nicht anvertraut worden. Von meiner Seite gehörte die Nachsicht auf Minchens Rechnung. Ihretwegen that ich, was ich that; indessen vergaß ich nicht, daß sie selbst mich mit dem Herrn Hermann, als Vater, nicht beschweren wollte. Herr v. G. war durch den Alten so gerührt, daß er nicht ins Leben zurückkehren konnte; er sah schon jetzt immer gen Himmel, obgleich noch nicht die acht Tage um waren, wo der Alte ein Zeugniß in perpetuam rei memoriam für ihn im Himmel einzulegen versprochen. Die Vigilien des Herrn v. W. kamen dem Herrn v. G. so zur rechten Zeit, daß er mit festlich ward. Die Frau v. W. und ihre kleine Tochter unterhielten sich von dem armen bedrängten Sterbenden, den mein Vater trösten sollte. Frau v. G.[3] selbst hatte sich zu diesem Vorfall, obgleich der Sterbende nicht von Adel – nicht einst ein Literatus, mithin nach Landesart ein Bauer war, hochadlich herunterzulassen geruht, und so war unsere Gesellschaft, des alten Mannes, der in acht Tagen sterben wird, und des unschuldigen Sohnesmörders wegen, in eine so heilige Schwermuth gesunken, daß Herr v. W., der den sanften und seligen Hintritt seines Aeltervaters zu feiern anfing, mit Herz und Sinn dieses Fest, und, wie mir's vorkam, früher, als es sonst geschehen wäre, begann.

Die Herren v. X.Y.Z. und ihre Gemahlinnen gehörten nicht zur heiligschwermüthigen Gesellschaft. Sie waren zwar verstummt; allein bloß weil die Waldhornisten verstummt waren, denen Herr v. W. das Maul gestopft hatte. Diese Herren schienen von curischer Politik, Wein und Waldhörnern trunken, so daß sie sich weder in Rücksicht des Leibes, noch der Seele aufrecht halten konnten. Sie saßen nicht, sondern lagen auf ihren Stühlen; jeder hatte sich zwei Stühle zugeeignet, den dritten Stuhl rechne ich nicht, auf dem der rechte Arm übergeschlagen lag, denn auf diesem dritten ungerechneten saß die eine Hälfte des Nachbars. Die Herren X.Y.Z. waren also in einander gekettet. So schwach indessen diese gute Herren schienen, so hatten sie doch so viel Stärke, Hand an ihre Pfeife zu legen und sich in Rauch zu hüllen. Sie schmauchten wie aus einem Munde und hielten so genau Takt, als ihn Herr Hermann, wenn er ein Positiv schlug, oder meine Mutter, wenn sie ihrem Hause eine neue Melodie beibringen wollte, nur halten konnten. Aus dieser Lage zu urtheilen, wären die Herren v. X.Y.Z. so leicht nicht aus dem Schlaf zu bringen gewesen, es hätte denn an den Herzog Jacobus gedacht werden müssen, der den Uniten, welche sich mit der katholischen Religion vereinigt, als vertriebenen Exulanten russischer Nation, die freie Religionsübung zugestanden – oder an den Titel Wohlgeboren, welcher der[4] Ritterschaft im Jahre unseres Herrn eintausend sechshundert und vier und achtzig bewilligt wurde, obgleich sie durchaus und durchall Hochwohlgeboren heißen wollten – oder an den Rangstreit mit der Geistlichkeit, worüber bitter gestritten worden – oder an den Oberkammerherrn v. ** und dessen männliche Descendenten – oder an die katholische Religion in Curland.

Dergleichen Staatsanstöße würden vielleicht (gewiß weiß ich's nicht) die Herren v. X.Y.Z. ermuntert und von dritthalb Stühlen auf einen, oder gar auf die Beine gebracht haben.

Es war indessen niemand aus der heiligschwermüthigen Gesellschaft, der diesen Appell zu schlagen und den Versuch zu machen Lust hatte, ob die liegenden Herren hierdurch aufzuwiegeln wären? Daß sie nicht still geblieben, ist zuverlässig; ob sie aber aufgebrochen wären – daran zweifle ich. Gibt's denn nicht Agenten von Haus aus?

Ein Wort der Ermunterung wäre es auch gewesen, wenn man den Hunden ein Patent als Adjutanten des Menschen ausgefertigt;

oder einen meerschaumen Pfeifenkopfshandel aufgebracht hätte.

Die gnädigen Frauen v. X.Y.Z. saßen, die Hände um den Magen kreuzweise gelegt, als ob sie ihre Magen zur Verdauung einsegnen wollten. Sie sahen hierbei die Frau v. G. steif und fest an, als ob sie sich für die empfangenen Gaben bedanken und sich, vor wie nach, ihrer Protektion empfehlen wollten. Der Frau v. G. Aushülfe bei Gelegenheit des Schooßhündchens war ihnen, und das mit Recht, im frischen Andenken.

Mein Reisegefährte war nicht Fisch, nicht Fleisch. Er hatte mit mir Brüderschaft gemacht, und ich hatte Hoffnung, ihn zu erweichen und ihn zu einem gut gesinnten Kirchenpatron zu bekehren, der die Jagd andern Pflichten unterordnen muß; allein die Herren v, X.Y.Z., als jagdgerechte Jäger, hatten ihn wieder ganz und gar[5] – wie es schon aus den Tischreden des vorigen Bandes zum Theil hervorstrahlt. Er war in Gedanken, Geberden, Worten und Werken, mit den Herren v. X.Y.Z. auf Wild ausgewandert; denn selbst in der tiefen Stille, die auf den Herren v. X.Y.Z. lag, hielten sie die Pfeifen als ein Mordgewehr, zielten und machten Puff, Paff! und wieder Puff, Paff! Mein Reisegefährte hielt seine Pfeife, zielte wie sie und tönte Puff, Paff! wie sie, und wieder Puff, Paff! – Er war in ihrer Wolke auf- und angenommen.

Doch muß ich (und das wird meinen Lesern eine erfreuliche Nachricht seyn, weil der jüngere Herr v. G. ein Sohn des ältern Herrn v. G. ist) pflichtschuldigst bemerken, daß er seinen künftigen Pastor nicht völlig vergessen hatte. Wenn er seine Pfeife nachstopfte und aus dem Takte kam, brach sich sein Blick durch den Nebel zu mir, und da seine Pfeife glühte und nicht sogleich wieder geladen werden konnte, kam er sogar zu mir, faßte mich brüderlich an und fragte: Warum so traurig? und warum nicht auch Puff und Paff mitgemacht? So was, fügte er hinzu, stärkt das Auge, und wenn wir morgen auf die Jagd gehen, hast du schon eine vorläufige Theorie, die du benutzen kannst. – Ich versicherte, heut am wenigsten zum Puff, Paff Ansatz zu haben. Ich verdenke dir deinen Trübsinn nicht, fuhr er fort. Dein Vater – –

Scheiden heißt sterben, hatte ich zu ihm gesagt, da mein Vater abfuhr, und dieß Wort zu seiner Zeit war so glücklich gewesen den Weg zu seinem Herzen zu finden, der so leicht nicht zu finden war. Seine Liebesgrenze ging nicht weiter, als bis Vater und Mutter, und zur Noth Schwester und Bruder. – Weiter, glaub' ich, geht sie auch bei keinem Jäger, Koch und Schlächter, welches Professionsverwandte, oder höchstens von einem und demselben Handwerk unterschieden sind, wie Frauens- und Mannsschneider. – Außer Vater und Mutter, und zur Noth Bruder und Schwester, schien dem Herrn v. G. dem Jüngern alles Wild – – –[6]

Man ging den Abend zeitig zur Tafel, weil alles die Karten verbeten hatte. – Zur Ehre der Herren v. X.Y.Z. muß ich noch anführen, daß sie nach ihrem Ausschlaf, um die edle Zeit auszukaufen, eine Stunde Würfel gespielt.

Bei Tafel war alles auf den Ton des Herrn v. W. gestimmt, der mit schwarzer Weste, schwarzen Beinkleidern und einem Flor um den linken Arm, bei der Mahlzeit erschien. Man sprach viel von den Schicksalen der Menschen und von der Ungewißheit der Todesstunde. Herr v. W. erzählte den Lebenslauf des Herrn v. W., seines Herrn Großvaters, dem heute aufs neue parentirt ward. Herr v. G. sprach vom Tode, wie ein Gerechter, der in seinem Tode getrost ist. Die Vernunft, sagte er, ist ein Kissen, allein kein Kopfkissen. Die Einbildungskraft muß auch Beschäftigung haben, wenn's zum Scheiden geht. Wohl uns indessen, daß wir nicht wissen, wenn wir sterben; denn wir würden dann nicht leben, nicht sterben – beides ist gut. – Doch, fuhr er fort, gibt es einige, die es wissen, die auf die Stunde ihrer Erlösung mit Gewißheit rechnen können. – Nur heute – hier schwieg er und stützte sich traurig auf. Ich verstand ihn ganz. Seine Frau fragte ihn: Ist dir nicht wohl? mit einem Tone, der mich überführte, daß sie ihren Mann nach sich am meisten liebte; und warum sollte sie es nicht? er war ja von gutem Adel. Sehr wohl, erwiedert' er, mein Kind. – Sie stand auf und küßt' ihn; er blieb mit aufgestemmtem Arm. Es ging alles still, wie bei einer Leichenwache zu, und dieses brachte die Herren v. X.Y.Z. zum Aufbruch. Schon lange hatten sie nach dem Monde gesehen und es ihm übel genommen, daß er nicht eher aufgegangen war, denn es ward nicht getrunken wie des Mittags, nicht geschrien wie des Mittags, nicht geblasen wie des Mittags. Das hätte freilich der Mond bedenken sollen. Sie zogen unter einander auf die Wache, um keine Zeit zu versäumen. Der erste Strahl war ein allgemeiner[7] Wink zum Abschiede. Sie empfahlen sich und fuhren mit ihren gnädigen Frauen, denen des Mittags die Zeit lang geworden war, weil viel, und des Abends, weil wenig gesprochen worden, heim. Die Waldhörner wurden auf eine künstliche Art in Posthörner verwandelt, und man macht' einen solchen Lärmen, als wenn dreißig blasende Postillons vorher ritten. Der Herr v. W., den dieß unversehens überfiel, brach ein Glas, das er eben in der Hand hatte, und begoß sich seine Trauerweste, die, wie er sagte, zum Glück schwarz wäre. So bricht unser Leben, sagt' er, um den Glasbruch geschickt bei dem gegenwärtigen Fall anzuwenden.

Es war der Herr v. W. wie von neuem geboren, da die Herren X.Y.Z. fort waren, und so ging's auch dem Hermann, der zwar viel über die Herren v. X.Y.Z. gedacht, allein wenig gesagt hatte. Mir war immer bange, die guten Herren würden aus Freude, von den Waldhörnern und ihren Anhängern befreit zu seyn, aus dem Trauerton des Festes kommen; indessen fiel es ihnen zeitig wieder ein, daß die heutige Freude in ihren Schranken bleiben müßte. Der arme Hermann hatte wegen der Herren v. X.Y.Z. in ecclesia pressa gelebt. Was er, so lang sie da waren, thun konnte, war aufs Aug' eingeschränkt. Dieses, dem Herrn v. W. gewidmet, war oft Gelegenheitsmacher, oft Theilnehmer, nachdem Herr Hermann weniger oder mehr von den Herren v. X.Y.Z. und ihren Damen bemerkt werden konnte. Er wußt' aus vieljähriger Erfahrung, was der Adel in Curland zu bedeuten habe, und fühlt' es auch noch in den Gliedern, daß er wegen einer Grabschrift drei Tage und drei Nächte wachen müssen. Er dacht' an alle Ehrenerklärungen und Maulschläge, die er zu übernehmen nothgedrungen worden, und an seine eigene Grabschrift, die man noch lebend auf ihn gemacht:


Hier wacht der lebendig Todte. –


Viele Leute pflegten dieser Grabschrift wegen mit Herrn Hermann[8] ein Gespötte zu treiben und zu behaupten, daß er mit lebendigem Leibe spuke.

Ein Tag, wie der heutige, fing Herr v. G. an, nachdem er die Hände gefaltet und sie gen Himmel gebrochen hatte, ein Tag, wie der heutige, ist eines solchen Abends werth! Ich hab' diesen Tag gelebt, und wenn gleich viel vom Leben dieses Tages auf die Rechnung der zehnjährigen Entfernung gehöret; ich setze zehn für eins – zwölf Tage könnte man im Jahre von dieser Art leben. Wer wollt' aber vergessen, daß der Tod aufs Leben folgt, fuhr Herr v. G. fort. Der Herr v. W. wußte nicht Worte zu finden, dem Herrn v. G. seine Erkenntlichkeit zu beweisen; denn er hielt dieses alles für Folgen seiner schwarzen Weste und Beinkleider und des Flors um den linken Arm, obgleich die Weste begossen war. Gern hätt' er, in der ersten Hitze seiner Erkenntlichkeit, das Gartengespräch mit Herrn Hermann über den Herrn v. G. öffentlich widerrufen, allein dieses würde sich nicht geschickt haben. Die Worte: »Traget die Groben, weil ihr höflich seyd,« waren ihm unerträglich geworden, so erkenntlich war er, und diese Anlage zur Erkenntlichkeit werden sich meine Leser schon bei dem Feste der Deutschen angezeichnet haben.

Die Frau v. W. und die übrigen schrieben die heilige Schwermuth des Herrn v. G. auf die Rechnung des Sterbenden, dem mein Vater in die andere Welt zu leuchten gegangen war.

Ich hatte den Hauptschlüssel zu dem Herzen des Herrn v. G., den er bis dahin hinterhalten hatte. Jetzt erzählt' er der Frau v. W., was mit ihm und dem alten Manne vorgefallen war, doch so, daß es alle hören konnten. Wem hätt' er diese Geschichte auch besser dediciren können, als der Frau v. W.? Der Herr v. G. sah es mir an, daß mir diese Geschichte nicht neu wäre, und ich fand keine Ursache zurückzuhalten, daß ich den alten Mann mit dem einen Handschuh selbst gehört hätte. Ich hatte mein Bekenntniß[9] noch nicht vollendet, als Herr v. G. aufsprang, mir seine eingeweihte Hand reichte: Der Segen dieses Himmlischen, sagt' er, indem er nur die Hand drückte, wird auch auf dir ruhen, du Sohn deines Vaters! Nach mir gab er diese Hand der Frau v. W., ihrer Tochter und zuletzt seinem Sohne, der aber nicht wußte, was ihm geschah.

Der Herr v. W. hätte diesen Handschlag für einen Mangel der seinen Lebensart gehalten, wenn der Herr v. G., der sich aber von selbst zu bescheiden wußte, auch ihm ihn angeboten hätte; indessen war Herr v. W. doch sehr bewegt über diese Geschichte, und wer weiß, wenn dieser Himmlische ein Edelmann gewesen wäre, ob er ihn nicht mit in sein Trauerfest eingeschaltet hätte. Jetzo könnt' er auf diese Ehre nicht Anspruch machen, und das um so weniger, da er nur einen Handschuh getragen.

Herr Hermann wollte bei dieser Gelegenheit dem Herrn v. G. mit Witz unter den Arm greifen, auf den Herr v. G. sich gestützt hatte, und ihn durch einen Einfall trösten. Der elendeste Trost von allen, der jedem klugen Mann ekelt! Um zum witzigen Ziel zu kommen, mußt' er einen langen unangenehmen Umweg machen. – Endlich an Ort und Stelle. Er erzählte, daß der Pastor in – – einen Amtmann über die schlechte Zeit zur Ruhe gesprochen und ihn auf den Himmel gewiesen hätte. Der Amtmann aber in seiner Einfalt hätt' ihm zur Antwort gegeben: »Herr Pastor, wie man hört, soll es auch da nicht mehr seyn, wie zuvor.«

Herr v. W. war gewohnt, alles, was er sprach, abzurunden, und dieses vermißt er zuweilen am Hermann, der, eh' man es sich versah, aus der Rolle kam. Wahrlich, er spielte zu viel Rollen. – Ob nun gleich Hermann alles that, was er dem Herrn v. W. an den Augen ansehen konnte, und immer Colophonium (Geigenharz) in der Hand hielt, um den Bogen des Herrn v. W. zu stärken, so war dem Herrn v. W., der aus Höflichkeit erkenntlich zu[10] seyn wohl verstand, jedoch dieser Gedanke völlig unpassend und ungeschliffen. Er schüttelte sein Haupt und verwies dem Herrn Hermann diese Geschichte, wiewohl aus Erkenntlichkeit – bloß mit einem Winke, der sagen sollte: »Alles zu seiner Zeit.« Herr v. G. aber sprang auf. Der Funke, fing er an, war nicht werth, daß Sie so oft darnach schlugen. Ich habe diese Geschichte, welche nach Ihrer Aussage dem Pastor in – begegnet seyn soll, schon in meiner Jugend gehört. Der Herr v. W. nahm sich des Herrn Hermanns nicht an, weil Herr Hermann sich nicht in die Zeit geschickt hatte, und Herr v. G. behauptete, um den Witz desto geschwinder los zu werden, daß man sich nicht besser des Todes erinnern könne, als wenn man schlafen ginge. Heil dem, sagt' er, der so stirbt, als ein Bauer einschläft, der gedroschen hat. Nach ausgestandener schwerer Arbeit in der Welt läßt sich's selig und ruhig sterben. In der letzten Stunde des Lebens sieht man schon den Unterschied zwischen reicher Mann und armer Lazarus.

Man wünschte sich eine gute Nacht. Hermann beurlaubte sich. Herr v. W. ließ es bei dem Wunsch einer guten Nacht nicht bewenden, sondern wünschte noch ergiebiger, daß die ewige Vorsicht sowohl den Herrn v. G. als die gnädige Frau vor allen Trauerfällen bewahren und sie die höchsten Stufen des menschlichen Lebens hinaufführen möchte. – Herr Hermann nahm Gelegenheit, dem Herrn v. W. wegen des Ablebens seines Hochwohlgeboren Herrn Großvaters zu condoliren. Ich bückte mich bloß, und da er dieses gleichmäßig für eine Condolenz ansah, wandt' er sich zu jedem von uns beiden, zu mir zuerst, und wünschte jedem was besonders, jedem aber eine lange Reihe glücklicher Jahre.

Der Herr v. G. nahm die Frau v. W. bei der Hand, um ihr das Schlafzimmer anzuweisen. Da die Frau v. G. durchaus sie auch begleiten wollte, gab ihr Herr v. W., nach vielen Complimenten und Bitten, zurück zu bleiben, auch die Hand. Dem[11] jüngern Herrn v. G. ward das kleine Fräulein v. W. angewiesen. Mich mußte der gewesene Hofmeister, den sein gewesener Untergebener nicht mehr für voll ansah, wiewohl in das nämliche Zimmer bringen, wo ich schon die vorige Nacht geschlafen hatte, und das ich also ohne diese Anweisung gefunden haben würde. Hier sollt' auch der alte Herr schlafen. Dieser letzte Umstand, obschon er von der Frau v. G. zu meiner Erniedrigung ausgekünstelt schien und mich einen Augenblick befremdete, war mir doch gleich nach diesem Augenblick willkommen. Ein betrübtes Herz liebt zärtlicher, und wahre Liebe ist keine frohe Leidenschaft. – Sie fängt mit Seufzern an, so wie wir mit Thränen geboren werden. Mine war mit Leib und Seele vor meinen Augen; es ist doch ihr Vater, dacht' ich, und reichte dem Herrn Hermann die Hand. So Hand in Hand kamen wir ins Schlafzimmer. Hier legte der alte Herr sein Protektionsansehen, womit er mich ohnehin nur nach der Abreise meines Vaters, und das sehr beiläufig, heimgesucht hatte, zugleich mit seiner Perücke ab und that ungemein vertraut mit mir. Um seine heutige Hofnarrenführung zu entschuldigen, zog er auf den Adel los. Traget die Narren, sagte er, weil ihr klug seyd, und restituirte also diesen Spruch in integrum, nachdem er von ihm und dem Herrn v. W. in der Art war verdreht worden: Traget die Groben, weil ihr höflich seyd. Ich weiß nicht, wie's mir anwandelte, daß ich dem alten Herrn bei den Worten: traget die Narren, weil ihr klug seyd, ins Wort fiel:


»Alleinmacht euch nicht selbst zum Narren.«


Es that mir leid, sobald ich diesen Zusatz ausgesprochen hatte. Der alte Herr schien es zu empfinden und setzte seine Rechtfertigungen fort. Ein Literatus ist freilich, sagte er, ein halber Edelmann, indessen ist zwischen halb und ganz ein Unterschied. Man lasse ihnen das von, wenn sie uns nur den Verstand lassen. Da er herausging, sich eine Flasche Wein zu besorgen, um noch eine[12] Pfeife, wie er sagte, in bona pice et pace zu rauchen, nahm ich das Testament meines Vaters heraus, welches ich die ganze Zeit über verborgen in der Hand gehalten. Ich hatte beinahe diesen Abend nur mit einer Hand gegessen, denn ich konnte dieß Testament in der Tasche keinen Augenblick allein lassen. Die Hand, mit der ich's hielt, war in einer solchen Transpiration, als wenn sie nicht zu den übrigen Theilen des Körpers gehörte.

Ἀνἐχου καὶ ἀπέχου, las ich, und las wieder: ἀνἐχου καὶ ἀπέχου. Oeffne sie nicht eher, als wenn du in der größten Noth bist. Und was ist die größte Noth? – dachte ich bei mir selbst. Ich fand, daß Geld in diesem letzten Willen lag, und da es sich nicht thun ließ, meinen Kasten aufzuschließen und diese donationem mortis causa zu den Denkzetteln meiner Mutter zu legen, die mir als eine donatio inter vivos vorkam, so deponirte ich diese Schrift vorderhand ins Bett unters Kopfkissen und dachte an meine Mutter und an den hochheiligen Abend vor der ersten Predigt bei diesem Interimsdeposito. Ich mußte eilen, denn der alte Herr kam wieder und ein Bedienter hinterher, mit Wein und einem Teller voll Rauchtabak. Da ist Essen und Trinken, sagte der alte Herr und that dabei, als ob er etwas sehr Witziges gesagt hätte, welches ich aber nicht finden konnte. Bald darauf fing er an, sich zu beklagen, daß er einen guten Freund seines Hauses an mir verlöre, und ich nahm Gelegenheit mich nach seinem Sohne zu erkundigen; vielleicht, dachte ich, fängt er von selbst von seiner Tochter an – wenn er doch anfinge!

Ich sah es seinen Augenwimpern, seiner Nase und Stirn an, daß er sein ganzes Gesicht umstimmen mußte, eh' er herauszubringen im Stande war, daß der Sohn eines Literatus ein Schneider geworden wäre, obgleich mein Brusttuch, wie man es in Curland nennt, noch von der selbsteigenen gelehrten Hand des alten Herrn edirt war. Zwei, die ich im Kasten hatte, waren sogar[13] durch ihn geflickt – und verbessert und vermehrt zum andernmal aufgelegt. Das ist dem Benjamin nicht, fuhr er fort, in seiner Wiege vorgesungen, und da er Darius war, hatt' er so gut König zu seyn die Ehre als ein anderer. Manchem kommen die gebratenen Tauben entgegen, ein anderer muß ihnen Netz und Strick legen und sie erst fangen und braten. – Das Schneiderhandwerk, fuhr er nach einer Weile fort, da ich nicht nöthig fand ihm auf den Wiegengesang und die Dariusehre zu antworten, das Schneiderhandwerk ist bei alle dem für den Sohn eines Literatus noch das schicklichste. Gott der Herr setzte selbst, nach dem betrübten Sündenfall, dieses geschenkte Handwerk ein und verfertigte die ersten Kleider. – Was zu thun? Er sitzt bei einem sehr geschickten Schneider auf Prima und wird künftige Ostern Student, oder Geselle, wie es die Leute nennen. (Diese Worte waren ein Gemisch von Stolz und Satyre. Sie waren der alte Herr selbst. Wer ihn hier nicht findet, findet ihn nirgend.) Meine selige Frau sagte mir gleich nach überstandenen Wochen, Benjamin wird entweder Schneider oder Literatus, welches sie der Nothtaufe wegen vermeinte, die Benjamin empfing. Das, versicherte sie, hab' ich von alten Leuten: was die Nothtaufe empfängt, wird eines von beiden. – Ich suchte sie auf den rechten Weg zu lenken und wollte durchaus nur vom Literatus hören und wissen, allein sie blieb bei ihrem entweder und oder. Das Bein, welches sich, als er Darius war, zu seinem Vortheil wendete, und die rechte Hand, der er auch redlich nachgeholfen, bestärkten meine Hoffnung, und warum sollt' er nicht? Sein Vater ist ein Literatus, und meine selige Frau war auch von gutem Hause, wenigstens kann man ihren Vater ohne Bedenken nennen (das war niederschlagend Pulver für mich, damit ich mich ja nicht überheben möchte), und – hier glaubte der alte Herr, daß jemand zu uns käme, und kehrte das Blatt bei der dritten Reihe von oben auf eine sehr komische Art um.[14] »Das alte Weib, sagt' er, als ob er fortführe, hatte dem Organisten einen Streich gespielt, und er sang bei ihrer Trauung mit einem jungen Menschen, der sie des leidigen Geldes wegen heirathete:


Was Gott thut das ist wohlgethan!

Soll ich den Kelch gleich schmecken,

Der bitter ist nach meinem Wahn,

Laß ich mich doch nicht schrecken,

Weil doch zuletzt


(nämlich wenn sie stirbt)


Ich werd' ergötzt

Mit süßem Trost im Herzen;

Da weichen alle Schmerzen.«


Der alte Herr sah seinen Irrthum ein; der Jemand, von dem er befürchtete, daß er uns bei diesen Familienangelegenheiten überfallen würde, ging unsere Thür vorbei. Hermann nahm also sein und auf.

Und, fuhr er fort (als wenn er das Blatt zuvor zu rechter Zeit umgekehrt hätte), was wollt' ich sagen? und meiner Frau Entweder, Oder ist erfüllet! Entweder Literatus oder Schneider. – Was Gott thut, sagt' ich, das ist wohlgethan! Diese Worte brachten ihn auf Minchen, ich weiß nicht wie.

Minchen verdient einen Literatus, fuhr er fort. Sie verdient, sagt' ich, einen Literatus, der ihren Bruder nicht vernachlässigt, wenn gleich er ein Schneider ist. Dieß beschämte den alten Herrn, der, sobald nur etwas unsere Thür vorbeirauschte, seinen Sohn versteckte, um sich als Literatus zu zeigen. Ich glaub', er wär' eher gestorben, als daß er gestern Abend über Tafel, da man sich ungefähr nach seinen Kindern erkundigte, bemerken sollen, daß Benjamin das Schneiderhandwerk ergriffen. »Eine Tochter und einen Sohn,« antwortete er auf die Erkundigung nach seinen Kindern,[15] und mehr keine Sylbe. – Ich kann mir vorstellen, wie sorgfältig er sein eigenes Bügeleisen, Nadel und Zwirn, und Scheere und Schusterpfriem, und Leisten und Töpferrad verborgen haben wird.

»Minchen,« sagt' er, ohne auf meine Zurechthülfe zu achten, »ist ein Mädchen, die der Familie keine Schande machen wird.«

Er erzählte mir ihre Vorzüge, die ich, gottlob! besser wußte, wie ein Mann, der seines Sohnes sich schämen konnte, bloß weil der Sohn ein Schneider war. Bei alle dem hört' ich ihr Lob mit Vergnügen. Da er aber auf ihre Kinderjahre kam, ward ich entzückt. Ich fühlte die Worte von ganzem Herzen: Was Gott thut, das ist wohlgethan!

Der alte Herr hieß mich während dieser Erzählung Herr Candidat und freute sich, daß auch ich ihn Herr Candidat nannte. Eine Höflichkeit ist der andern werth. Je öfter ich Herr Candidat sagte, je mehr erzählt' er mir von Minchen mit einer gewissen väterlichen Wohlmeinung und desto öfter nannt' er auch mich wieder Herr Candidat. Er fing an, mir diesen Titel beizulegen.

Ein Paar lose Buben (ich erzähl' ein paar Geschichten von meiner Mine) hatten aus einem Finkenneste zwei Eierchen gestohlen und den Inhalt derselben herausgeblasen. Dieß erzählten diese Buben dem kleinen Minchen. Sie bildete sich ein – sie hat eine starke Einbildungskraft – daß das beraubte Paar ihr verlassenes Nest vom benachbarten Baume ansähe und sich ihr Leid einander klagte. – Minchen klagte mit. Das liebe Mädchen wußte, daß man der Henne die Eier nicht wegnimmt, daß sie solche als getreues Hausthier dem Menschen hinlegt. Sie bat ihre Mutter um zwei Eier, die ihr heute und gestern die Henne mit der schwarzen Mütze geschenkt hatte, und bat den Benjamin, ihr den Gefallen zu thun, die Wallfahrt auf den Birkenbaum zu übernehmen und das verlassene, eiskalt gewordene Finkennest durch die zwei Hühnereier[16] zu entschädigen. Dieser schlug es der Gefahr wegen aus, er war zu der Zeit noch link und lahm – und bemerkte sehr weislich, daß die Hühnereier größer wären, als die Finkeneier, die er selbst in den Händen der Buben gesehen. Minchen freute sich darüber, indem sie glaubte, den Schaden desto vollständiger zu ersetzen. Gegen kleine, große! Sie bat ihren Bruder, und bat ihn wieder. Er aber blieb bei seinem Nein und seiner weisen Bemerkung. – Endlich sah sie den Baum einigemal an, übermaß sich und ihn, und da sie ganz allein war, erstieg sie ihn und legte die beiden Eier in das verlassene Nest, in Hoffnung, es würden sich die Eigenthümer wieder zu Hause finden. Die Vögel, die häufig auf den Aesten des Baumes saßen, den sie erstieg, wurden nicht im mindesten verscheucht. Sie sahen sie, ungefähr wie fromme Leute einen Engel sehen würden. – Den beiden Finken, die Minchen für die bestohlenen Eltern hielt, sah und hörte sie die Freud' und Dankbarkeit an. Voll Entzückung über dieß alles hüpfte Minchen von dem Baum und fiel auf die Erde, so daß sie sich nicht regen konnte. Einer von den bösen Buben sah sie liegen; allein es war ihm nicht viel anders, als ein ausgeblasenes Finkenei. Ihre Mutter, der man ihren wirklichen Tod angekündigt hatte, kam halb todt zu ihrer Tochter, die sich nach und nach erholte. Der ganze Fehler, meinte Minchen (wiewohl kindlich), läge darin, daß sie sich schon auf dem Baum gefreut hätte.

Ich hätte sie sollen auf diesem Bette der Ehren sehen, sagt' ich, da der alte Herr an diese Stelle kam. – Sie ist eine geborne Königin, setzt' ich hinzu.

Der alte Herr. Ein Literatus wird ihr schon zu Theil werden.

Ich. Benjamin that Unrecht, daß er sich entschuldigte.

Der alte Herr. Link und lahm.

Ich. Wer nur ein Bein hat, wagt nur ein Bein.[17]

Aber, fuhr der alte Herr fort, ein Hühnerei –

Bei Gott ist das einerlei, erwiedert' ich, nur bei den Finken nicht. – Ich glaube, Herr Candidat, bei unsern meisten guten Handlungen ist ein Hühnerei, anstatt eines Finkeneies.

Lieben Leser! seht da Minchen! Ist's möglich, daß der alte Herr so was erzählen und der alte Herr bleiben konnte?

Minchen ging an einem schönen Morgen ins Feld und begegnet' einem Jungen, mit beiden Händen in den Haaren und weinend bitterlich. Er hatt' einen Milchtopf zerbrochen und befürchtete, von seiner Mutter darüber geschlagen zu werden. Sey gutes Muths, sagte Minchen und nahm ihm die rechte Hand von den Haaren, die linke Hand gab sich von selbst. Er ließ sich trösten. Je näher er aber zum Dorfe kam, je langsamer ging er, und da er das Haus sah, fing er von neuem an zu weinen und wollte durchaus wieder mit der rechten Hand in die Haare – die linke nach. – Die Mutter des Jungen kam ihnen entgegen, und ihr erstes Wort war der Topf. Minchen trat vor und sagte: Liebe Nachbarin, ich, ich bin den Topf schuldig! Seht, ich ging schnell zu, und da war der Topf hin. Meine Mutter hat heute die Wasche, und da wißt Ihr, kann man nicht sagen, daß ein Topf gebrochen ist. Wenn die Wäsche vorbei ist, will ich Euch einen andern Topf bringen. Die Bäuerin war gegen des alten Herrn Töchterchen so galant, daß sie keinen Topf verlangte. Minchen verbat dieses Geschenk. Der Junge indessen, sobald er merkte, daß die Mutter sich gefunden hatte, sprach Minchen los und eignete sich, der Wahrheit gemäß, alle Schuld zu. Nehmt keinen Topf, Mutter, sie hat ihn nicht zerbrochen; ich sah, wie es alles so schön grün und gelb auf dem Felde war, und da fiel der Topf mir aus der Hand. Die Bäuerin war so bewegt, daß sie Minen wie eine Heilige verehrte und an ihrer Hand zu Hause begleitete. Ich erkundigte mich nach dem Jungen und würd' es gern gesehen[18] haben, daß Helm sich durch diese große That in seiner Jugend ausgezeichnet hätte; allein der Herr Candidat versicherte, daß dieser Edle im siebenten Jahre selig verstorben wäre. Alle Welt, fügte der alte Herr hinzu, sagte: der Junge ist zu schad' für diese Welt, und die Wahrheit zu sagen, ich wundre mich, daß Mine so groß geworden ist. Der liebe Gott weiß freilich, was gut ist, Herr Candidat, erwiedert' ich, und will gern so was im Himmel haben; indessen ist es auch auf der Erde zur Art nöthig. Was würde sonst am Ende aus uns werden?

Der alte Herr gefiel mir so sehr bei dieser Gelegenheit, daß ich ihn bei mir selbst wegen seiner heutigen Führung und wegen vieler andern mir bewußten Umstände zu entschuldigen anfing. Würde nicht Minchens Zeugniß selbst wider ihn das Wort genommen haben, ich hätt' ihn noch länger und mehr entschuldigt und vielleicht eben so oft Vater genannt, als ich ihn jetzo Herr Candidat zu seiner Seelenfreude nannte.

Es fiel mir zur rechten Zeit ein, daß man mit dem Vaternamen sehr behutsam seyn müsse, da das ganze Christenthum darin besteht, daß Gott unser Vater ist.

Minchen (aus der Erzählung des alten Herrn) nahm sich in ihrer Kindheit immer der schwächlichsten Pflanzen an. Sie begegnete ihnen wie armen Leuten. Sie begoß sie zuerst und streichelte, liebkoste und tröstete sie. Wenn der Wind eins beschädigte, zog sie ihm das gebrochene Bein in Ordnung und heilte den Schaden. Ging ihr eins aus, war es ihr so, als wenn was Lebendiges gestorben wäre. Gott hab' es selig, sagte sie, und begrub es in die Erde, die, wie sie sagte, unser aller Mutter ist.

Das ist die Weise aller guten Seelen, bemerkt' ich, und der Herr Candidat führte bei dieser Gelegenheit an, daß mein Vater keinen Citronen- oder Pomeranzenkern in die Erde gesteckt. Ich halte dieß, hätt' er zu ihm gesagt, für eine Sünde in einem[19] Lande, wie Curland, einen Citronenbaum zu Pflanzen. Aber die Blätter riechen schön und sind gut im Schnupftabak, sagt' ich zum Herrn Vater. Der Blätter wegen, erwiedert' er, muß man keinen Citronenbaum in die Welt setzen. Nichts halb, lieber Freund! und ein Blatt ist kaum ein Viertel. – Ich sehe wohl ein, daß der Herr Candidat meinen Vater bei diesem Umstande sehr unrichtig berechnete; indessen sah ich keine Pflicht ab, ihn auf den rechten Weg zu lenken und hiedurch die edle Zeit zu verlieren. Wo ist eine Zeit, die edler wäre, als die, wo ich von Minchens Kinderjahren erzählen hörte? Wer ein Mädchen kennen will, frage nicht, wie es jetzt ist, da es Ja sagen soll, sondern wie's als Kind war, wo noch an kein Ja gedacht werden konnte. Dieß war freilich mein Fall nicht mit Minchen. Ich hatt' ihre Kinderjahre nicht zu diesem Belang in beweisender Form nöthig; allein ich war entzückt, meine Vorstellungen von den ersten Jahren ihres Lebens so genau getroffen zu finden; ich fand alles, wie ich's mir gedacht hatte.

Noch eins von Minchen unter so vielem. Ein Benachbarter von Adel hatt' einen kleinen jüdischen Knaben, der mit Pfeifenköpfen für andere Juden herumging, in Fesseln legen lassen, weil er eben zu der Zeit, da dieser Judenknabe ihm Pfeifenköpfe angeboten, sein Federmesser nicht vorfinden konnte. Der Knabe ward gleich bis auf's Hemde ausgezogen; allein man entdeckte kein Federmesser, obgleich er noch keinen Tritt oder halben Schritt aus dem adelichen Hofe seit der Zeit gesetzt hatte, da das Messer vermißt war. Der Edelmann behielt zu Anfang wohlbedächtig alle Pfeifenköpfe. Da sich die zwei Eigenthümer zur rechtlichen Vindication angaben, macht' er ihnen viel Schwierigkeiten und setzt' auf das verlorne Messer einen unerhörten Lieblingswerth (Pretium affectionis). Es würden die Vindicanten nichts dagegen ausgerichtet haben, wenn sich nicht zwei andere benachbarte Edelleute, die zu ihren Pistolen: macht euch fertig, sagten, dieser Juden und ihrer[20] Pfeifenköpfe angenommen hätten. Der arme Junge blieb also der einzige Gegenstand der Grausamkeit, die durch diesen Vorgang noch mehr vergrößert ward. Der Unglückliche sollte verbüßen, daß sich die Juden als Vindicanten und die zwei Edelleute als Sekundanten gemeldet hatten. Man konnte nicht begreifen, was Herr v. ** mit diesem Arrest beabsichtigte; indessen schien er zu glauben, daß sich einer von den Israeliten melden und den armen Jungen lösen würde. Alles bedauerte den unglücklichen Knaben. Christ und Jude sprach von des Edelmanns Grausamkeit. Der Christ sagt' indessen: es ist ein Judenknabe, und der Jude: wer wird's mit dem vornehmen Christen anbinden? Die zwei Eigenthümer der Pfeifenköpfe, welche dem Unglücklichen die Commissionsgüter anvertraut hatten, gingen auch wie der Priester und Levite vorbei und wünschten sich, so oft an die Grausamkeit des Edelmanns gedacht wurde, Glück, daß sie ihre Pfeifenköpfe in Sicherheit hätten. Der grausame Edelmann, dem das Brod und Wasser mit der Zeit zu kostbar ward, welches er zu dem hohen Auslösungspreis treufleißig geschlagen hatte, setzte diesen Preis bis auf die Hälfte herab. Allein niemand that einen Bot. Wegen der Pfeifenköpfe schlugen sich sogleich zwei Edelleute ins Mittel und bedrohten ihren Mitbruder, mit ihm Kugeln zu wechseln, oder ihm einen rothen Hahn auf's Haus zu setzen. Was ist aber ein Judenjunge gegen meerschaumene Pfeifenköpfe? Die Eigenthümer hatten sich, unter uns gesagt, mit diesen Renommisten abgefunden. Die hochwohlgebornen Schläger drohten nicht umsonst, sondern für Geld und gute Worte.

Der arme Judenjunge! Zu den schönen Reden, womit man ihn bedauerte und sich über die Grausamkeit des Edelmanns beklagte, kam nun noch der Umstand, den man hinzufügte: der Edelmann hätte den Preis des Federmessers und den des Brods und Wassers, womit der Knabe im Gefängnisse beköstigt worden, auf die Hälfte herabgeschlagen – hiebei blieb's. – Es war um[21] Weihnachten, da Minchen und ihr Bruder ihren bemittelten Verwandten mütterlicher Seits besuchten, um ein Christgeschenk, welches in allerlei Spielzeug bestand, abzuholen. – Dieser Verwandte wohnte dem Tyrannen noch näher. Man weiß, wie gern Kinder, und besonders, wie gern Mädchen spielen. Es war Weihnachten, wo die Natur den Kindern, außer den Schneebällen, die keinem Mädchen anstehen, alles Spielzeug versagt. – Weihnachten ist ein wahres Kinderfest, an dem das Spiel zur andern Natur wird. Es liegt uns im christlichen Blut, und alte Leute selbst müssen sich zwingen, wenn sie nicht selbst in Weihnachten spielen wollen. – Alles dieses zusammengerechnet, in Summe, konnte Minchen von ihrem Entschluß nicht abwendig machen. Ihre Verwandten waren furchtsam wie Tauben, die in der Nachbarschaft von Raubvögeln genistet haben. Der arme Judenjunge stört' ihre heilige Christfreude. Sie waren nicht halb so weihnachtsfroh, als sie es sonst gewesen seyn würden. Das Federmesser hatte sich nach der Zeit vorgefunden und der unschuldige Knabe war bloß wegen des verzehrten Brods und Wassers in Ketten und Banden. – Minchen schickte stillschweigend durch ihren Bruder Benjamin, der aber kein Stück von dem Seinigen dazulegte, ihr Weihnachtsspielzeug dem Edelmann, um den Knaben zu befreien. Benjamin hatte Gelegenheit, zu Schlitten hinzukommen; denn sonst wär' ihm dieser Liebesdienst, weil er hinkte, auch etwas zu stehen gekommen, obschon er von seinem Spielzeug kein Stück dazu gelegt hatte und obgleich es nur über Feld war. Hätt' er nicht Gelegenheit gehabt, eine Schlittenfahrt zu gewinnen, die bei ihm über alles ging, es wär' aus der Negotiation nichts geworden. – Zu Benjamins Ruhme wird bemerkt, daß er seiner Schwester die Erlaubniß gegeben, sich seines Spielzeugs, dessen Eigenthum er sich aber ausdrücklich vorbehielt, zu bedienen. Es war indessen nicht Spielzeug für Mädchen, die am liebsten eine Wiege, eine Puppe und so etwas lieben.[22] Benjamin ward, weil er als ein Knabe mit Spielzeug angemeldet wurde, vorgelassen. Der ehrliche Benjamin erweckte sogleich ein Händeklatschen, da er nur ins Zimmer trat; denn man glaubt' einen großen Kram, und es war nur ein Arm voll. Ursache genug, daß so gleich scrutinirt und Benjamin bei diesem Verhör nach Landesmanier mit dem Stock hochadlich bedroht wurde. Benjamin ließ es nicht zur peinlichen Frage kommen, sondern gestand alles haarklein. – Meine Schwester, sagte der bedrängte Benjamin, hat an allem Unheil schuld. Kurz, es blieb kein Wort auf seinem verzagten Herzen. – Benjamin war zu dieser Zeit noch nicht zum Darius gediehen, und wer kennt' ihn nicht vom Finkennest?

Der Teufel, dachte Herr v. **, wenn es nur nicht ein satyrischer Ball ist, den der alte Herr auf mich schlägt, und hatte Lust, ihn auf den jungen Herrn zurückzuschlagen und den armen Benjamin mit seinem christlichen Spielzeuge dem Judenjungen zuzugesellen. Da aber Benjamin, der aus Seelen- und Leibesangst ächzte, kniefällig bat, seinem Vater nichts von allem, was der gnädige Herr gesehen und gehört hatte, zu entdecken, weil Herr Hermann von dieser Sache nichts, gar nichts wußte, und ihn an einem ganz andern Ort glaubte, so fiel dem Blutigel zu guter Zeit ein, daß der alte Herr freilich nur von hinten mit einem Cavalier gescherzt haben würde.

Der Teufel, dacht' er wieder (man sah es ihm ordentlich an, daß er jeden Gedanken mit dem Teufel anhob), der alte Herr würde nicht den Sohn geschickt haben! – Die Sonne ging wieder in seinem Angesicht für Benjamin auf. Der Teufel, sagt' er, deine Schwester muß ein feines Mädel sehn! Die Sache gab zu vielen satyrischen Fragen, Benjamins Schwester betreffend, Anlaß. Er fragte nach ihrem Alter und ob sie denn eine solche Neigung zu Juden hätte? Der Schluß war, daß nur ein Stück Spielzeug zurückbehalten wurde, welches sich der Junker Fritz sogleich zugeeignet[23] hatte. Der Judenknabe ward losgelassen: – Benjamin aber mußte, dieser Großmuth wegen, um der hochadlichen Herrschaft zur Weihnachtszeit ein Vergnügen zu machen, dreimal um den großen Tisch hinken, und alles wollte vor Lachen niedersinken. Eine natürliche Polonaise! schrie alles und lachte, was es konnte; nur der hinkende Benjamin nicht. Der Junker Fritz gab sein Spielzeug der gnädigen Mama zu halten und versuchte dem Benjamin nachzuspotten, da er aber bei einem Haar ein adliches Bein gebrochen hätte, so blieb es bei einemmal, und Benjamin sah nach dem armen Judenknaben, der blaß wie eine Leiche stand. Der Tod hätt' ihn bald befreit, wenn Benjamin dem Tode nicht zuvorgekommen wäre. Benjamin bot dem Judenknaben, sobald sie aus der adlichen Gesellschaft im Freien waren, von seinem, oder besser, von seiner Schwester heiligen Christ an, um sich dafür Essen zu kaufen. Der Judenknabe verbat es aus Religionseifer und blieb lieber hungrig und durstig, als daß er sich für dieses christliche Spielzeug labte. Benjamin hatte sich bei dieser Gelegenheit die Schlittenfahrt so verekelt, daß er nie ohne Herzensangst daran denken konnte. Dieses Vergnügen hatte für ihn keinen Werth mehr. Er hinkte zu Haus' und dankte Gott, daß niemand darüber lachte, als wie er dreimal um den großen Tisch hinken mußte.

Obgleich Benjamin das Spielzeug bis auf ein Stück, so der Junker Fritz behalten hatte, zurückbrachte, indem er wegen des übrigen dreimal um den Tisch hinken müssen, so ward doch diese Begebenheit so bekannt, daß Minchen darüber viel ausstehen und die bittersten Thränen weinen mußte. (Ich habe Ursache, aus der Erzählung des Herrn Candidaten zu vermuthen, daß der Herr Vater Minchen selbst im Literateneifer reichlich und täglich beschämt haben wird.) Man zog Minchen unter ihres Gleichen mit dem Judenknaben auf, und sie nahm es sich unendlich zu Herzen. Ich habe, sagte sie in ihrer Unschuld zu Benjamin, den Judenknaben[24] nicht gesehen, und will es auch nicht. – Der Spott zehrte sie so ab, als das Gefängniß bei Wasser und Brod den Judenknaben. Sie fiel in ein Fieber, und nun ging der alte Herr in sich, welcher mit Beihülfe des Doctor Saft wieder Seel' und Leib ins Geleise brachte. – Der alte Herr bemerkte, daß sich die Liebe zur Schlittenfahrt beim Benjamin wieder gefunden und daß Minchen noch bis auf den heutigen Tag bleich im Gesicht wie gewässerte Milch würde, wenn man das Wort Jude ausspräche, wie –


(Der Herr Candidat legte seine Pfeife hin und kam mir dicht ans Ohr, da er mir diese Pille eingab.)


Ihr Herr Vater über den Ausdruck Melchisedech.

Diese Zugabe setzte mich nicht wenig in Erstaunen, und ich machte die Bemerkung, daß jeder Mensch, der unschuldigste nicht ausgenommen, ein Wort hätte, wobei ihm nicht wohl zu Muthe würde, es sey Melchisedech – Judenjunge – ich zum Exempel – –

Gott, muß man denn, rief ich aus, noch ehe der Herr Candidat geendigt hatte, Gott, muß man denn ein Fieber ausstehen, durch den Dr. Saft gerettet und mit einem Judenjungen gepaart werden, wenn man Gutes thut? Der alte Herr setzte noch hinzu: Und dreimal um den großen Tisch hinken!

O Minchen, welch eine Seele hast du (dieß fühlt' ich nur!), wie glücklich bin ich, daß sie mein ist! – Ich war außer mir.

Bei dem Alexanderspiel hatt' es Minchen in der ersten Zeit übel aufgenommen, daß ihr Bruder Darius immer geschlagen wurde. Laß mich den Darius machen, sagte sie zu Benjamin. Du wirst sehen, wir gewinnen. Benjamin aber entschuldigte sich sehr weise mit der Geschichte, welcher er nachgeben müßte, obgleich ich auch beim Ringen, eh' er Darius und ich Alexander war, jederzeit bei all seinem Schweiße des Angesichts Ueberwinder war. Nachdem sie größer war, setzte der Herr Candidat hinzu, ließ sie sich gern schlagen und gefangen nehmen. Sie sah es unfehlbar[25] selbst ein, daß es die Geschichte so mit sich brachte. Wie viel Mühe hatt' ich, nicht überlaut zu rufen: Mine! Mine! liebe Mine! Der alte Herr bemerkte, daß Minchen für ein Frauenzimmer zu viel Herz hätte, und rechnete es ihr zum Fehler an. – Entweder, sagt' er, ist die Rolle daran schuld, die sie bei den Kriegen als älteste Prinzessin Tochter des Darius übernahm, oder sie kennt keine Damen vom Stande. – Mag sie sich doch, fuhr er fort, der Literatus, der sie zur Frau macht, besser ziehen. Sie fürchtet sich vor keiner Maus und keinem Frosch, und wenn die Spinnen den Weg verwirkt haben, zieht sie das Gewebe wie einen Vorhang in die Höhe mit bloßen Händen. – Noch bemerkte der Herr Candidat, daß Mine in ihrer Jugend, obschon sie wegen des Finkennestes einmal rühmlichst vom Baum gefallen, doch nicht nachgelassen, wiewohl nur auf der Erde, zu hüpfen und zu springen. – Je größer sie aber wurde, je ernsthafter, setzt' er hinzu. Nur sehr, sehr selten wandelt ihr jetzt, fuhr er fort, das Hüpfen und Springen an, weit öfter aber das Weinen – welches nach dem Tode ihrer Mutter ohn' End' und Ziel ist, und das (der alte Herr zog selbst den Mund zur Thräne in Ordnung, indessen wollt' es die Pfeife nicht zugeben) – und das, sagt' er, so schöne Thränen, und schien nicht undeutlich zu verstehen zu geben, daß zwischen Thränen und Thränen schön und häßlich stattfinde. – Was mich wunderte, war, daß er selbst fühlte, Minchen sänge vortrefflich. Was das Spielen betrifft, fuhr er fort, so hat sie ihre eigene Manier. Freilich dacht' ich, den steinigen Acker versteht sie nicht auszudrücken, auch nicht die fünf Gerstenbrode und ein wenig Fischlein. Da der Herr Candidat, außer ihren ersten Jugendjahren, nichts von Minchen zu sagen wußte, was mir nicht weit genauer und richtiger bekannt war, so lenkt' ich ihn auf die Universitäten, allein ich fand ihn nicht bewährt. Er sagte davon weniger, wie mein Vater von seinem Vaterlande, und dieß war wohl natürlich,[26] da mein Vater gewiß ein Vaterland hatte, der Herr Candidat aber schwerlich auf irgend einer Universität gewesen seyn wird. – Des Herrn Candidaten frühere Spargel, Pfeife in der freien Luft und Wein bei der Quelle waren bei dieser Gelegenheit ein Vademecum von Studentenstreichen, womit er meine Fragen nicht befriedigte. Ich brach also ab, ohne ihm, so schlecht er auch beim Examen bestand, den Candidatentitel zu entziehen. Ich weiß nicht, ob ich schon wo bemerkt habe, daß er kein Curländer von Geburt war, und daß man ihm seine Literatenwürde aus der ersten Hand nicht widerlegen konnte.

Ich merkte aus meiner Munterkeit, daß ich diese Nacht Minchens wegen ebenso wenig schlafen würde, als ich die vorige Nacht des neuen Bettes halber geschlafen; indessen sah ich dem Herrn Candidaten, meinem sehr werthen Herrn Collegen, der seine Bouteille Wein ausgetrunken und seinen Teller mit Tabak bis auf eine halbe Pfeife ausgeraucht hatte, an, daß er schlaftrunken war. Wein und Tabak hatten hiebei, wie es mir vorkam, nicht den mindesten Einfluß. Er fing mit mir zu complimentiren an, in welchem Bett ich schlafen wollte, und verlangte durchaus das Bett, wo das Depositum lag, weil das, so ich ihm bestimmt hatte, und in welchem mein Vater geschlafen, mit einem Gesimse war. Vorhänge konnten in dem Hause des Herrn v. G – an dem Bette nicht seyn. Ich glaube, sagte der Herr Candidat, da wir über diesen Umstand sprachen, Herr v. G – hätte, wenn er Adam im Paradiese gewesen, sich keine Schürze von Feigenblättern gemacht. Der Herr v. W. brachte sich, wenn er zum Herrn v. G. kam, seine seidenen Vorhänge mit. Unfehlbar wird wohl die Farbe der Vorhänge nach Beschaffenheit des Festes gewesen seyn. Mit Zuverlässigkeit weiß ich's nicht. – Da ich den Herrn Candidaten versicherte, daß ich in diesem Bette schon eine Nacht schlaflos zugebracht und den Tribut bezahlt hätte, so bat er sich, wenn es, ohne mir etwas zu entziehen, geschehen[27] könnte, ein Kopfkissen von den meinigen aus. Das war eine neue Verlegenheit für mich wegen des letzten Willens, den ich seinem Aug' entziehen wollte. Er stand an meinem Bett und wollt' aus Bescheidenheit und Dankbarkeit das Kissen selbst nehmen; ich hatte viele Kunst nöthig, ihm das unterste in die Hand zu spielen. Kaum war er im Bette, so schlief er, wovon er durch sein Schnarchen untrügliche Beweise gab. Ich widmete Minchen diese Nacht, und wenn ich schlummerte, sah ich den Judenjungen und das Finkennest und den Milchtopf, alles in Lebensgröße. – Gegen den Morgen schlief ich fester ein, indessen sagt' ich dem Herrn Candidaten den ersten guten Morgen, weil ich ihn aufwachen hörte, und fuhr mit sechsen aus meinem Bette. Er dankte für den guten Morgen, allein er blieb bei dem Dank, wie's sich eignete und gebührte, im Bette. – Nach seinem schönen guten Morgen war sein erstes Wort, daß ich zweimal Minchen gerufen hätte. Ich weiß nicht, fügt' er sehr höflich hinzu, ob es meine Tochter ist? Gewiß, erwiederte ich, und begriff es selbst nicht, wie's zuging; ich war beim Wörtchen gewiß nicht im mindesten verlegen; vielleicht kam es, weil der alte Herr noch im Bette war. – Wie hätt' ich Minchen verläugnen können! Wir haben gestern, fuhr er fort, viel von ihr gesprochen; der Herr Candidat werden es verzeihen, daß ich Sie so lange von meiner Tochter unterhalten. Ich konnte kein Wort hierauf antworten – unfehlbar wollte der Herr Candidat einen völligen Herzensaufschluß, allein wie sollt' ich den bewilligen? Der alte Herr Candidat war noch immer im Bett, und, wie's mir vorkam, auf einem Häufchen. Er schien nicht in Lebensgröße zu liegen und so lang er war; er wußte sich nicht nach seiner Decke zu strecken.

Damit meine Leser nur ja nicht auf den Gedanken fallen, daß ich noch viele Tage in – – geblieben und ihnen all diese Tage meines Aufenthalts – – ebenso langweilig, wie bisher, erzählen[28] werde, so will ich nur kurz und gut bemerken, daß der folgende Tag zu unserm Aufbruch bestimmt war. – Hoffentlich wird ihnen diese Anzeige eine fröhliche Botschaft seyn.

Der junge Herr v. G. nahm mich wegen der Jagd in Anspruch. Ich hatt' ihm darüber mein Wort gegeben und sogar den Commandostab hiebei anvertraut. Ohne Murren nahm ich also seinen Antrag als eine Ordre an, Vormittags diese Jagd anzustellen. Die Wahrheit zu sagen, ich wollt' ihn auf der Jagd womöglich von der Jagd abbringen und diesen Jägertrieb beschränken.

Ich war in dieser ritterlichen Uebung wenig erfahren, obgleich ich ein Auge zum Zielschuß auf ein Haar hatte, ohne mir durch Puff, Paff und durch das Exercitium mit der Tabakspfeife diese Geschicklichkeit erzielt, oder ihr auch nur nachgeholfen zu haben. – Warum willst du, sagt' ich, ein so blutiges Andenken zurücklassen, eben da du von hinnen ziehst? Mein Recht nicht zu vergeben, erwiedert' er. Du glaubst es nicht, man muß die Bären und Wölfe im Respect erhalten, wenn es auch nur durch einen Schuß ist; die Bestien machen unser Einem sonst das Eigenthum streitig – der Hase kennt seinen Junker.

Wir hatten oft angelegt, und eben legte mein Reisegefährte an, da ich eine Menschenstimme hörte: Rett'! Rett'!

Herr v. G. kam nicht aus der Stellung; ich lief und schrie: wo? wo? Hier! hier! Wo? wo? Hier! hier! – und dann wieder: rett! rett! und mitten drunter mit einer erbärmlichen Stimme: Lorchen im Wasser! – Auch dieß brachte den Herrn Bräutigam in keine andere Lage; er hatt' angelegt. – – Noch viele Rett's! Rett's! und viele Hier's! Hier's! und noch mehrere Wo? Wo? Ich rief wo? bis ich sah – ich sah die Begleiterin der Fräulein v. W. jämmerlich die Hände ringen. Hier! hier! rief sie noch zu guter Letzt. – O Gott! matt! matt! Die Wasser[29] über sie! – Ich warf meine Flinte weg und diese ging los. Luise fiel in Ohnmacht. Das wird sich geben, dacht' ich und sprang ins Wasser und brachte das liebe kleine Geschöpf heraus. Die Angst hatte ihre kleinen Hände gelähmt. Das Wasser war ihr mehr an die Seele als an den Leib gegangen – jetzt war sie – frisch wie ein Fisch worden, würde meine Mutter, des Reims wegen, gesagt haben.

Luischen, sagte sie, da sie ihre Begleiterin wie todt liegen sah. Ich nahm einen Hut mit Wasser, um Luischen ins Seyn zurückzubringen, allein das Wort ihrer Pflegebefohlenen: Luischen! hatte sie schon auferweckt. Ich kam mit meinem Hut voll Wasser zu spät, und goß dieß Wasser, welches zum Schlagwasser bestimmt und eingeweiht war, so andächtig aus, als meine Mutter das Restchen vom Taufwasser ausgegossen haben würde, welches nach ihrer Meinung ein paradiesisches Grün befördert. – Wir wollen, sagt' ich zu Luisen, unser Schäfchen aufs Trockne bringen. Es lief Wasser von ihr herab, wie nach einem starken Regen von den Dächern. Luise wollte sie schelten, daß sie einem Steige zu sehr getraut hätte, allein Luise sah wohl ein, daß das Wiedervergeltungsrecht zu Hause nicht ausbleiben würde. Es ward also verabredet, daß sich das Fräulein v. W. ganz sauber und schön ankleiden und darauf erst ihrer Mutter den Vorfall erzählen sollte. Wissen, sagte sie, muß sie's. Mich, bat ich, lassen Sie aus dieser Geschichte. Sie? antwortete die Kleine und reichte mir die Hand. Ich wußte nicht, ob dieß Sie? Ja oder Nein war. Es sprach das liebe kleine Mädchen Sie ganz besonders aus. – Ich könnt' es ihr zur Noth noch nachsprechen! – Während der Zeit kam mein Reisegefährte, und ohne sich nach seiner Braut zu erkundigen, macht' er mir Vorwürfe, daß ich ihn mit meinen Wo' s und Luise mit ihren Rett's und Hier's gestört hätte. Bruder, sagt' ich, das Wort Rett' ist das deutsche hohe Nothwort. Wenn es ein Sterbender[30] hört, muß er sich noch aufrichten. – Nur keiner, fiel er ganz gelassen ein, der angelegt hat, und was hast denn du getroffen? fuhr er fort. Dieß edle Geschöpf, sagt' ich. Er ward von allem unterrichtet und versicherte hoch und theuer, daß, wenn er nicht angelegt gehabt, er gewiß ebenso wie ich, gelaufen und die Flinte weggeworfen haben würde, so unverantwortlich es gleich wäre, Pulver und Schrot, diese Gabe Gottes, umkommen zu lassen. Luise lachte herzlich. – Die liebe Kleine sah mich bloß lieblich an. Beide wußten sich nicht darein zu finden, daß Pulver eine Gabe Gottes sey. Der junge Herr v. G. konnte nicht läugnen, den Namen Lorchen gehört zu haben, indessen hatte er angelegt, das das wollte mehr sagen als Lorchen. Es ist wahr, durchs Ohr kommt weniger Mitleiden ins Herz, als durchs Auge. Man kann eher seine Stimme als sein Auge verstellen, und wen siehst du, wenn du jemand ins Auge siehst? – Dich selbst im Kleinen. Du bist in gewisser Art gegen dich selbst mitleidig; allein hier ist nicht von mehr oder weniger die Rede, sondern von Menschenstimme und von einem Jäger, der angelegt hat.

Das kleine Fräulein und ihre Begleiterin schlichen sich nach Hause, recht als ob die Frau v. W. sie hier schon beim Wasser bemerken könnte.

Mein Reisegefährte unterrichtete mich in noch einigen Jägerkunstwörtern, und da ihm eben ein Hase aufstieß, den er traf, war unsere Jagd zu Ende. – Ich ließ mir seinen Unterricht mit vielem Eifer gefallen, um ihn desto mehr zu meiner Predigt vorzubereiten, die ich überdacht hatte und noch überdachte. Gewiß war mein Reisegefährte vergnügter über seinen Hasen, als ich über die Ehre, seine kleine Braut gerettet zu haben. Er ließ mich merken, daß im Hofdorfe ein schmuckes Mädchen wäre, sowie Fräulein v. W., wie er sich ausdrückte, in diesem Jammerthal nicht werden würde, und wenn Herr v. W. nicht ein Gut hätte, das er ihm gleich,[31] ohne sich selbst zu entblößen, nach ritterlich überwundenen akademischen Jahren überlassen könnte, so würd' er, außer dem schmucken Mädchen im Hofdorfe, schon eine Frau finden. Ich sprach viel von der guten Gemüthsart der Kleinen und der edlen Gemüthsart ihrer Mutter; allein dieß schien ihm gegen das Gut, das er nach überwundenen Universitätsjahren zu bejagen gedächte, eine unbedeutende Kleinigkeit zu seyn.

Obgleich der Vorfall mit Lorchen mir eben keinen glücklichen Erfolg über eine Predigt erwarten ließ, die ich meinem künftigen Kirchenpatron zu halten entschlossen war, so wollte ich doch nicht alle Hoffnung aufgeben. Meine Leser wissen schon, daß ich während dem Anlegen auf die Bekehrung meines jetzigen Reisegefährten und künftigen Gönners gezielt hatte, und wer hält nicht gern eine Predigt, die er im Concept hat?

Bruder, fing ich an, die Spinne fängt Fliegen.

v. G. Der Mensch Bären, Wölfe, Hasen und so weiter.

Ich. Der Mensch, Bruder – aber leider zwischen Mensch und Mensch ist Unterschied. – Du würdest kein Scharfrichter seyn, nicht wahr?

v. G. Warum nicht? wenn dem Delinquenten die Augen verbunden sind.

Ich. Aber Menschenblut. – Dein Blut bei kaltem Blute sehen; ich kann's nicht, wenn Ader gelassen wird. – Mich dünkt, ich sehe den Menschen mehr als nackt, wenn ich sein Blut sehe – das der liebe Gott zweimal verschlossen hat. – Im Kriege hat niemand kaltes Blut als der Oberfeldprobst und seine Jünger. – Wir haben schon über Krieg und Jagd geredet; allein es ist auf kein gut Land, sondern auf steinigen Acker gefallen, den der alte Herr in Musik gesetzt hat. – Du bist zu edlern Geschäften da.

Er. Gelt! Lorchen aus dem Wasser zu ziehen?

Ich. Und wenn's die schmucke Hofdirne gewesen wäre?

[32] Er. Bruder, ein ander Ding! Ich weiß auch, wenn der Mensch selbst schreit, der in Noth ist – hol' mich – Hätte Lorchen selbst geschrien und nicht schreien lassen, ich wäre gelaufen, auch wenn ich eben angelegt hätte.

Ich. Lorchen bei Seite.

Er. Schön.

Ich. Ein Jäger und Student?

Er. Das sollt' nicht passen?

Ich. Hast du den Plinius übersetzt?

Er. Nein, diese Ehre habe ich nicht gehabt!- Das sollte mein künftiger Schwiegervater, Gott hab' ihn selig! hören!

Ich. Des Plinius Brief an seinen Cornelius Tacitus ist für dich. – Ridebis, et licet rideas, hebt er sich an. Ego ille, quem nosti, apros tres et quidem pulcherrimos cepi. Ipse inquis? und der Schluß: Proinde quum venabere, licebit, auctore me, panarium et lagunculam, sic etiam pugillares, feras. Experieris, non Dianam magis montibus quam Minervam inerrare. Vale.

Er. In Deutsch?

Ich. Verstehst du nicht Latein?

Er. Hie und da erjag' ich ein Wort. Den Plinius hab' ich nicht übersetzt; es soll den Mund zu sehr spitzen, sagt mein Vater.

Ich. Plinius hat drei, und was noch mehr ist, recht schöne wilde Schweine erjagt.

Er. Das ist mein Mann! – Schoß er?

Ich. Plinius?

Er. Uebereilt, Bruder! freilich – das Pulver ist spätere christliche Erfindung.

Ich. Er jagt' und studirte.

Er. Siehst du!

Ich. Bei der Jagdtasche und Hirschfänger, um in unserer[33] Mundart zu reden, hatte er Bleifeder und Schreibtafel, und was noch mehr ist, er versicherte seinen Freund –

Er. Hoffentlich ein Jagdspötter, wie du.

Ich. Daß Diana und Minerva Geschwisterkind wären und zuweilen auf Jagdbergen sich verlören, aber!

Er. Aber! beim Plinius ein aber? –

Ich. Ein zu spitzer Mund. – Er fing Worte, wie er Wild fing – vielleicht verdarb ihn die Jagd.

Er. Mich soll sie nicht verderben, weder Herz noch Styl. – Eins bekenn' ich – ein Hund gilt mir für zwei Bauern. Hunde sind aber auch Geschöpfe, die wenigstens Wackers verdienten zu seyn (Aufseher über die Bauern). Wir brachen gestern zu schnell ab von den Hunden. Es gibt Hundsinseln, warum nicht festes Land von der Art? Mein Vater hetzt nicht gerne, das hast du wohl gestern beim Schuß gehört, wie man die Hunde losließ. Dein Vater hingegen – »Die Sternseher haben diesen Namen in den Himmel versetzt. Die Dichter schildern uns die Diana in Gesellschaft einer Koppel Hunde.« Das ist ein Weib! »Die griechischen Damen hatten schon Hündchen.« Es ist nur zu wenig für die Hunde, sonst wäre der Gedanke was werth; Gott wollte nicht, daß ein Mensch dem andern aufwarten sollte; drum Hunde, die sind geborne Lakaien und Kammerdiener. Sie bieten sich gleich zur Miethe an, wo sie einen Menschen sehen. Ein Mensch, zu dem kleine Kinder und Hunde kommen, ohne daß er sie lockt, ist ein guter Mensch. Siehst du, hab' ich nicht von gestern behalten?

Ich. Trefflich! allein warum nicht noch eins von gestern Mittag? Jener Philosoph der alten Welt, der aus Gefälligkeit für die gnädige Frau des Hauses ihrem Schooßhündchen Schmeicheleien vorsagte! Ei der! da er das Hündchen in die Höhe hob, um es zu küssen, p – es ihm in den Bart und die Gesellschaft[34] lachte, und der Philosoph hatte nicht das Herz, seinen Bart zu trocknen.

Er. Das erzählte dein Vater der Frau v. W. zum Munde, die gestern bitterbös auf die Hunde war; wer weiß, ob's wahr ist?

Ich. Zwischen wahr und wahrscheinlich, in Rücksicht der alten Welt, kein Unterschied!

Er. Wahr oder nicht wahr! Zu meinen zwei Flinten, einem paar Pistolen und dem Jagdmesser wirst du mir doch ein paar Hunde erlauben? Eine Flinte, Bruder, ist der Hunde Fahne. Es sollten viel, viel mehr als ein Paar, bei der Fahne seyn; da du aber kein Freund von Hunden bist –

Ich. Bruder! die Wissenschaften lieben Stille, in ein weiches Herz ziehen sie ein und machen Wohnung daselbst. Waldhörner sind nicht ihr Instrument. Ich soll dein Pastor werden. Du, und nicht der Wacker, sondern der letzte deiner Bauern, sind gleich vor Gott und – –

Da sah man uns kommen. Ich ward, weil ich leer kam, ausgelacht; über Tafel aber, da die Frau v. W. die Geschichte ihrer Tochter erzählte, bestand Herr v. G., der jüngere, schlechter als ich. Herr v. G. beschämte seinen Sohn. Wer wird seine Braut um einen elenden Hasen überlassen, die Erstgeburt um ein Linsengericht? So seyd ihr Jäger alle. Ich bin auch ein Jäger, das weißt du, aber – Frau v. G. entschuldigte ihren Sohn, ich weiß nicht mehr, womit. Frau v. W. dankte mir herzlich, und ihr Gemahl schalt aus Höflichkeit auf seine Tochter, um dem jungen Herrn v. G. Genugthuung zu verschaffen. Meinetwegen war er in erschrecklicher Verlegenheit; denn so sehr dieser Vorfall zu einem neuen Feste Anlaß zu geben schien, so blieb es ihm doch bedenklich, weil ich nicht von Adel war, und wie hätt' ich mir ein ander Schicksal, als der Mann mit dem einen Handschuh, versprechen können, der a dato nach sieben Tagen sterben wird. –[35] Er kämpfte indessen, weil es seine Tochter betraf, meinetwegen auf eine unbeschreibliche Art, und endlich kam es dahin, daß er mit vielen Complimenten sich bedankte und diese Begebenheit an den Rand zu verzeichnen sich verbindlich machte, wie denn auch meine Gesundheit bei Tafel von ihm ausgebracht wurde. Es war eine unaussprechliche Höflichkeit, mit der mir Herr v. W. zu verstehen gab, daß beim: was ist geschehen? die Frage: wer thats? nothwendig sey.

Höflichkeit und Festlichkeit scheinen und sind zuweilen wirklich Antipoden; allein unser Herr v. W. hatte diese Eigenschaften so zusammen vereinigt, daß sie wie eins waren. Beide stammen vom Hofe: der Geringere ist höflich aus Falschheit oder Furcht, der Vornehme aus Stolz, und dieß ist auch die rechte Quelle der Festlichkeit. So wie sich eine große freie Stadt zum Hofe verhält, so die Urbanität, die Städtlichkeit zur Höflichkeit.

Wenn diese Bemerkungen zur Erläuterung des Charakters des Herrn v. W. etwas beizutragen im Stande wären, so würde es mir lieb seyn. – Was mich bei der Frage: wer that's? betraf, so war ich hiebei verlegener, als bei dem Sprung ins Wasser. Ich konnte nichts mehr, als meinen Reisegefährten entschuldigen. Der herzliche Blick der Frau v. W. und das frohe Lächeln der Kleinen war mir mehr, als zehn Feste des Herrn v. W. Dieser Vorfall inzwischen brachte uns eine geraume Zeit nicht aus dem Zank. Ein Vorwurf vom Herrn v. G., dem ältern, dann eine Entschuldigung von seiner Gemahlin und vom Herrn v. W., der es mit keinem verderben wollte. Beiläufig oder am Rande, wiederholte er seinen Dank, wie Frau v. W. ihren Blick und das kleine Fräulein ihr Lächeln.

Die große Achtung, die Herr v. G., der ältere, gegen meinen Vater äußerte, bewies zwar die Redlichkeit seiner Aussöhnung, allein sie machte mir ihre zehnjährige Trennung zugleich unbegreiflicher.[36] Es ward vieles wiederholt, was mein Vater gesagt hatte, und alles mit einer, dem Herrn v. G. eigenen Wendung, so, daß es wie neu aussah. Sein plein good sense, sein gesunder Menschenverstand, wußte gleich ein Exempel, wenn eine Regel gegeben ward; und vielleicht verhielt er sich gegen meinen Vater, um den Vergleich ins Kurze zu ziehen, wie Regel und Erläuterungsbeispiel.

Wir haben heut Ragout, eingeschnittenen Braten, sagte Herr v. G. Alles von gestern. – Wir wiederholen die Predigt und fragen sie uns ab.

Wenn je ein Ausdruck auf meinen Vater paßt und der Wahrheit angemessen ist, so ist es der von einer Predigt. Dieß Kleid war wie auf den Leib gegossen, konnte man sagen, um von der Bemerkung, daß Worte Kleider der Gedanken wären, Gebrauch zu ma chen. Wer kann aber meinem Vater den Pastor, und meiner Mutter die Pastorin verdenken? Die Predigt und den Gesang!

Herr v. G. erklärte seiner Gemahlin, was naiv und was Laune sey, worüber sie zuweilen eine naive und launige Unterredung gehabt. Laune, sagte er, ist der körnige Ausdruck eines naiven Gedankens. Naivetät ist eine Satyre auf die Kunst; es bestehe diese Satyre in Gedanken, Geberden, Worten oder Werken. – Er belehrte sie, daß sie sich nicht ferner Laune zueignen könnte. Wer Laune hat, fügte er hinzu, muß unterm Barte lachen, wenn von einer guten Laune die Rede ist, obwohl bei jeder Laune wenigstens ein Zug vom Lachen unterm Barte, zur Ehre des Lachens, sich hervorschleicht, oder durchbricht, wenn es gleich stockfinster auf dem Gesicht ist. – Unterm Barte lachen, sagte die Frau v. G. mit einem Veränderungszeichen.

Naiv aber, meine gnädige Frau, sind Sie – der Herr v. G. bückte sich gegen die Frau v. W.; sie wieder – ihr Mann aus Höflichkeit auch; die Frau v. G. hatte heut ihren guten Tag. –[37] Ein launiges Weib, fuhr Herr v. G. fort, würde ein Weib mit einem Barte heißen, und also, setzte er hinzu – –

Daß es verschiedene Arten von Laune gibt, sahen wir gestern, sagte Herr v. G. Nachdem die Feste sind, erwiederte Herr v. W. Je nachdem, fuhr Herr v. G. fort, je nachdem ein kluger Mensch Dinge ansieht, je nachdem sehen sie ihn wieder an. Die Vorstellung von Glück und Unglück kommt nicht von den Dingen in der Welt, sondern von der Gemüthsart der Menschen. Der Standpunkt thut bei Seel' und Leib viel, sehr viel! alles! – Die misanthropische Laune, wollte er fortfahren, da ihm wieder sein Sohn und das Fräulein Lorchen einfiel. – Dießmal aber, wie mich dünkt, zum Vortheil meines Reisegefährten.

Es ward von der Don-Quichoterie und den Windmühlen und verfluchten Schlössern in der Liebe gesprochen. Jede Lüge ward bemerkt, hat was Richtiges in sich, sonst würde sie kein Mensch anhören und ausstehen können. (Meine Mutter nahm hieraus den Beweis, daß es am Ende Gespenster gäbe.) Die Feenmährchen wurden anatomirt und die Naturtheilchen abgesondert.

Wo ist, ward gefragt, ein feuerfangender Jüngling, der nicht bis ins einundzwanzigste Jahr wünscht, daß der Vater seiner Schönen abbrennen möchte, um die Geliebte aus dem Feuer zu retten? Es sind ihm diese Lebensgüter (wie meine Mutter singen würde):


Eine Hand

Blanker Sand,

Kummer der Gemüther.


Nackt, wie die Tugend ist, will er seine Fidu cia; allein ist dieß der Weg zur guten Ehe? Dieß war die zweite Frage.

Herr v. G. behauptete in dienstlicher Antwort, zum Wohlgefallen der Frau v. W., daß man heirathen müßte, um einen getreuen Gehülfen oder Gehülfin zu haben, und eben hiedurch entschuldigte[38] er in gewisser Art seinen Sohn, welches ihm die Frau v. G. auf eine naive Weise zu verstehen gab. Um sich herauszuhelfen, sagte er, von meinem Vater gehört zu haben, daß man sich auch in die Tugend verlieben könnte. Man muß aber, wie der Pastor bemerkte, nicht aus Neigung, sondern aus Urtheil des Verstandes tugendhaft seyn, nicht, weil die Tugend hübsch ist, sondern weil es die Tugend ist. Man muß sie lieben, wie sein Weib, und nicht wie sein Mädchen. – Ein Tugendverliebter wird kalt, wie jeder übertriebene Liebhaber.

Aber, fiel die Frau v. G. ein –

Ich weiß dein Aber, fuhr Herr v. G. fort, die Damen wollen Neigung. – Sie glauben, daß eine unsichtbare höhere Macht ihr Band geschlungen habe. Neigung ist ihnen der Himmel, in dem die Ehen geschlossen werden.

Frau v. W. war auch einigermaßen fürs Aber und es erinnerte sich der Herr v. G. zu rechter Zeit, daß mein Vater behauptet hätte, wir Menschen sprächen immer von Neigung, auch selbst da, wo Urtheil des Verstandes entschieden hätte. Es scheint, daß der Mensch seiner Vernunft nicht recht traut. Bei einem Hauptargument hat er noch verschiedene ad hominem, setzte Herr v. G. hinzu, ohne besonders zu bemerken, ob es sein Eigenthum, oder von meinem Vater herkäme. Es schien, als ob er vieles von meinem Vater jure antichretico besäße.

Herr v. G. brach sich sehr den Kopf über die Extreme, von denen ihm mein Vater besondere Dinge gesagt hätte. Zwei Extreme sind zwei Enden, wiederholte der Herr v. G., als wenn er zu sich selbst spräche. Zwei Enden, die man den Augenblick verbinden kann. So war der Teufel Gottes Freund. Wollust und Nothdurft sind Nachbarskinder. Schwindsucht und Wassersucht, Schlaflosigkeit und Schlafsucht, Licht und Schatten, Leben und Sterben, himmlische erhabenste Weisheit und Einfalt. – Die größte[39] Wuth ist, wenn ein Mensch den andern frißt – und geschieht das nicht? Haben nicht die Menschen mehr, als Wolfshunger? Ist es mit ihnen nicht oft in dem Zwölften? Ist nicht oft ein leiblicher Bruder des leiblichen Bruders Teufel, welcher die Seelen verschlingt, als schlürfe er weiche Eier oder Austern?

Herr v. G. kam aufs Fressen zurück, und doch, sagt er (alles wie zu sich selbst) –

Die größte Liebe auszudrücken, sagt man: ich möchte dich vor Liebe auffressen. Niemand hat mehr Blasphemien gesagt, als ein Quäker. Er und ein Gottesläugner sind näher verwandt, als man glauben sollte.

Ich habe nicht nöthig, zu bemerken, daß Herr v. G. dieses lange vor sich so aussprach, daß, wenn er's auch nicht so oft treulich und sonder Gefährde angeführt, jeder doch theils aus seinem Ton, theils aus seinem Kopfschütteln gesehen haben würde: es sey nicht sein, sondern meines Vaters.

Dieß! dieß! dieß! Herr v. G. sagte dreimal dieß, wie meine Mutter dreimal das Wir im Glauben sang, dieß ist mir etwas am Pastor, das ich noch bei keinem Menschen sonst, er sey Pastor oder nicht Pastor, gefunden habe. Es ist was Seel' und Leib Eigenes, was Theosophisches, wie soll ich's nennen? Unser Freund Pastor hat den heiligen Busch im Brande gesehen. – Rechnet man dazu, daß er die Bibel nicht in schwarzem Saffian gebunden hat, sondern in weißem Pergament, selbst – ohne goldnen Schnitt, daß er sie nicht als Medicin, sondern als täglich Brod braucht, so ist der gute Pastor ein ganz besonderer Pastor. Seine andern Seiten, daß er z.B. die Glatze nicht mit Puder bedeckt, daß er kein Jaherr ist, daß sein Ausdruck nicht Scheidemünze, nicht Gang- und Gebemünze, oder Courant, sondern aus der Sparbüchse genommenes Geld ist, und um, mit Erlaubniß, in eine andere Figur zu kommen, nicht wie auf den Kauf gemacht, sondern wie bestellte[40] Arbeit aussieht, so, daß es von ihm heißen kann: »was er spricht, das geräth wohl!«

Daß der Pastor nicht ein gelernter Gelehrter, nicht einer des Buchstabens, sondern einer des Geistes und der Kraft ist;

daß er nichts bloß theoretisch weiß, sondern alles, alles in Blut und Lebenssaft oder Praxis bei ihm übergegangen;

daß er die meisten Dinge aus einem oft unbeträchtlichen Gesichtspunkt nimmt, und eben dadurch beim rechten Ende faßt;

daß er einen königlichen, einen Revisionsblick, der immer mit einem gewissen Glück verknüpft ist, besitzt (sein Blick trifft immer, ohne daß er zielt);

daß – und noch viele daß gehen vor sich.

Beim letzten daß erzählte der Herr v. G. eine Geschichte, die sich noch vor der Scheidung vom Tisch und Bett, also vor zehn Jahren, zugetragen hätte.

Ein Barbier schnitt mit mörderischer Hand dem – den Hals ab, nachdem er ihn zuvörderst ganz sauber und köstlich von der Bürde seines Bartes befreit und leicht ums Kinn gemacht hatte. Wär' ich Inquirent (hätte mein Vater nicht bloß gesagt, sondern behauptet), würde einer meiner Hauptfragen, sowohl im Generalverhör, als bei den Specialartikeln, seyn:

Warum der Barbier den Ermordeten zuvor sauber und köstlich von der Bürde seines Barts befreit und leicht ums Kinn gemacht, eh' er –

Der Bösewicht! setzte Herr v. G., ohne das Komma abzuwarten und meinen Vater ausreden zu lassen, hinzu, das kommt vom Aderlassen heraus! Man sollte nicht Leute an den Hals lassen, die Blut sehen können, als sehen sie süße Milch.

Der Mörder hätte bekannt, daß er mit Mordgedanken zum – gegangen. Alle Umstände bestätigten diese Aussage. Der erste Strich war in seiner Seele Mord. Warum vollbracht er ihn erst[41] beim letzten? – Nota bene. Er fand den – allein, und so blieben sie auch – die That kam nach vier Stunden erst aus.

Ich weiß nicht, sagte meine Mutter im ersten Bande, ich weiß nicht, gegen das gemeinste Volk hab' ich, bis ich bekannt bin, rückhaltende Achtung; ich glaube, das macht das Bild Gottes. Wenn meine Leser den ersten Band nicht bei der Hand haben, so war es bei Gelegenheit der Blutreinigung, deretwegen meine Großmutter mütterlicher Seits das alte Gesinde behielt, welcher blutigen Meinung meine liebe Mutter, in Rücksicht der königlichen Frau Mutter Babb, beitrat.

So ungefähr beantwortete mein Vater seine General- und Specialfrage; denn ich muß aufrichtig gestehen, daß sich der Herr v. G. darüber ungefähr so, wie über die beste Welt, ausdrückte.

Unser Pastor, fuhr Herr v. G. fort, nachdem er sich von so vielen daß losgemacht, unser Pastor besitzt etwas, was man nicht aussprechen kann, in diesem Punkte. Er ist ein Gegenfüßler von einem Lauen, und ich kenne keinen Menschen, der mehr Theilnehmer wär', als er!

Obgleich der Herr v. G. diesen Zug in meines Vaters Charakter nicht in seinem heiligen Dunkel störte, so daß er höchstens nur den heiligen, nicht aber den letzten, den allerhöchsten Vorhang, hohepriesterlich zog und in gewisser Art eben so unbegreiflich blieb, als mein Vater selbst, so muß ich doch bei dieser Gelegenheit gestehen, daß mein Vater wirklich in diesem Stück was ganz besonders Eigenthümliches besaß. Ich hab' ihn einen im Himmel Angeschriebenen, einen Verklärten genannt und als einen aus dem Reiche Gottes dargestellt, von welchem wir beten: dein Reich komme!

Ich weiß nicht mehr, wer von ihm in seinem eigenen Pastorat, da er eben den Rücken gekehrt hatte, das Urtheil aussprach, daß er, sobald er spräche, den Sprengwedel in der Hand hätte und die[42] Seele mit geweihtem Wasser besprenge, und daß er jederzeit mit gewaschenen Händen erschien, so wie man von dem alten und neuen Gebrauch, sich, ehe man in den Tempel ging, zu besprengen und zu reinigen, zu sagen pflegt: mit ungewaschenen Händen. Vielleicht übertrieb es mein Vater an vielen Orten, wie jener Jünger, der anfänglich auf die Art des Herrn v. W. mit seinem Herrn und Meister complimentirte, nachher aber auf einmal ausbrach, nicht die Füße allein, sondern die Hände und das Haupt.

Der Socinianismus ist etwas Kleinstädtisches, etwas Verlahmtes, etwas Ermüdetes, pflegte mein Vater zu sagen. Entweder Hof oder plattes Land; kalt oder warm; alles oder nichts; aut aut –

Eltern sehen sonst nicht, daß Kinder wachsen, und Kinder sehen nicht, daß ihre Eltern alt werden, weil sie sich täglich und stündlich sehen; wenn es aber ein Fremder bemerkt, dann reißt sich ihr Auge auf. – Mir werden meine Leser den Vorwurf nicht machen, und wenn sie mit mir in Rücksicht dieses Charakters nicht zufrieden sind, so gehört es nicht auf meine, sondern auf die Rechnung meines Vaters. – Wer mir aber den Einwand entgegensetzt, daß ich meine Charaktere nicht frisirt und gepudert und völlig vom Haupte bis zum Fuße geschmückt und sein angethan präsentire, hat es in den Tod vergessen, daß ich eine Geschichte erzähle. Schon im Roman muß man seine Leute kennen, der Natur nachfolgen und den Menschen sich öffentlich ankleiden lassen. Man muß den Menschen im Seelenkamisölchen, in der Federmütze, wenn er ein Gelehrter, und mit einem seidenen Tuch, künstlich russisch um den Kopf gebunden, wenn er ein Edelmann ist, darstellen – in naturalibus. Jeder Mensch hat seine Art sich anzukleiden und zu erzählen, und diese beide Arten stimmen mit einander so überein, daß, wenn ich jemanden sich ankleiden sehe, ich sagen will wie er erzählt, und umgekehrt, wenn ich ihn erzählen höre, will ich sagen wie er sich[43] ankleidet. Die Art sich auszukleiden, kann den Kenner vielerlei lehren, und unter andern auch, wie der sich Entkleidende sterben werde. Hievon ein andermal.

Eine Erzählung, der man das Studirte, das Geflissene, das Geordnete ansieht, ist unausstehlich. – So wie es in der Welt geht, so muß es auch in der Geschichte gehen. – Bald so, bald so. – Der Hörer, der Leser, mag sich hieraus ein Miniaturstückchen auf theophrastisch, brüyerisch zeichnen, wenn er will.

Belege zu dieser Bemerkung die Menge in meinem Lebenslauf, und um meine Leser auf der Stelle zu überzeugen –

Herr v. G. erzählte, daß mein Vater nicht die mindesten Wirthschaftskenntnisse besessen hätte, da er Pastor geworden.

Jetzt weiß er so gut, wie Einer, wann Zeit zu säen und Zeit zu ernten ist, wann man dreschen, malzen, Haus-, Acker-, Garten- und Fischergeräthe bessern muß. Er versteht sich auf die Eisfischerei, auf die Nachtfröste, Holz- und Mistfuhren, Flachs- und Haufbrechen.

Wie er anzog, wollte der gute Pastor, fuhr Herr v. G. fort, den Pastoratsbauern seine Schwäche nicht verrathen, und was that er, eh' er durch Gesicht und Ohr so weit gebracht war als er jetzt ist? Er visitirte sein Inventarium. Das Register in der Hand, fragte er:

Neun Braune? Ja.

Neunzehn Schimmel? Ja.

Acht Füchse? Ja.

Dreißig Kühe? Ja.

Wer hier nicht den Pastorem loci findet –

Herr v. G. war, mit Ehren zu melden, ein großmächtiger Wirth. Er las, versuchte, fehlte und verstand zuletzt seinen Boden, als wenn er mit ihm sprechen könnte. Er benutzte, im Ganzen genommen, seine Aecker auf eine Art, welche ihm den Neid seiner[44] hochwohlgebornen Brüder zuzog. Der gemeine Mann sagte: er hätte den Alp. Die Frau. v. G. nannte die ökonomischen Bücher, die er sich mit vielen Kosten verschrieb, »Wurzelbücher,« und wußte sehr genau, wann und wo er durch Versuche verloren hatte. So war der Herr v. G., um seinen eigenen Ausdruck zu adoptiren, eine Erdscholle, ein glebae adscriptus; allein er war selbst auch dieß als v. G. Wenn ich Ihnen mit dem Ausdruck einen Dienst erweisen kann, gnädige Frau v. G., er war ein Wurzelmann. – Die Blätter fallen im Herbst in der Trübsal ab.

Obgleich wir ein Trauerfest hatten und der Herr v. W., sein Waffenträger und Herr v. G. sehr höflich gegen einander waren, welches gemeinhin bei Trauerfesten zu seyn pflegt, so konnte doch Herr v. G. nicht umhin, wiewohl ohne ihnen diese Saladiere anzubieten, gelegentlich anzumerken, daß derjenige, der nicht bezahlen könnte, sehr höflich wäre, welches gestern mit alten Männern, wenn sie junge Weiber zur Ehe hätten, bewiesen sey.

Wie denn Herr v. G. sich wider alle Geburtstags-Glückwünsche erklärte. – Wer wird, sagte er, gratuliren, daß man schwächer geworden? Zum Geburtstage muß man nur bis zum dreißigsten, und da in der Weichlichkeit der Jünger immer stärker als der Meister ist, nach unserm Weltlauf bis zum fünfundzwanzigsten, einundzwanzigsten und wohl neunzehnten Lebensjahre Glück wünschen – es wäre denn, daß man auf die andere Welt Rücksicht nehmen wollte, nach der aber in gesunden Tagen wenig Nachfrage ist.

Noch eins! Mein Vater hätte gesagt, sagte Herr v. G., wer einen Brief schreibt, muß glauben, er schreibe ihn an die Welt, und wer ein Buch, ich sage ein Buch, schreibt, schreibe es an einen guten Freund, wenn man nicht in beiden Fällen alltäglich seyn will.

Ich ergreife dieses noch eins als eine erwünschte Gelegenheit,[45] um meinen Leser auf Ehre zu versichern, daß ich dieß noch eins nicht aus den Augen gelassen und dieses Ganze an Einen gerichtet habe. Ich habe dieses Einen in dem ersten Bande erwähnt, und es ist eben derjenige, der mich auf der einundzwanzigsten Seite besuchte und dem ich auf eben der Seite (ich rede von der ersten Ausgabe, denn wer steht mir dafür, daß es zu mehreren kommt) eine glückliche Reise gewünscht habe.

Wie viel liegt in dem Worte Einer? Wer es fassen kann, der fass' es, und wer's nicht kann, wird auch schwerlich begreifen, was eigentlich Einheit in einer jeden Schrift ist, welche da seyn muß, die Schrift wandle gleich im finstern Thal, sie gehe gleich durch Dick und Dünn, durch Licht und Finsterniß. Eine Schrift, welche dieses Ziel nicht hat und nicht an Ort und Stelle kommt, ist eine Mißgeburt. – Je weiter man es gebracht hat, alles zu Einem einzulenken und kein Rad zu viel und keines zu wenig in seinem Buche zu uhrmachen, desto mehr Ganzes ist da. Man sagt: Ein Apostel Paulus, Ein Rath, Eine christliche Gemeinde wolle mit gebührender Andacht verlesen hören. – – Gott schuf nur einen Menschen! sein Bild! und wenn ihr Herren Präadamiten in die Kreuz und in die Quere euch dagegen bäumt. In dem Gedanken: Ein Mensch und sein Weib von ihm genommen, liegt was Göttliches, was Großes! was – Ein System, wenn es so ganz da liegt, so ganz, wie Thier und Mensch, ist Arbeit eines Halbgottes. Wo ist ein System dieser Art? Wenn es ja fertig werden kann, wird es das Werk eines Deutschen seyn. – Im System geht man vom Ganzen zu den Theilen. Man sieht den Menschen ganz. Ein Blick ist genug hiezu, und sodann anatomirt man ihn. – Sonst geht man von den Theilen zum Ganzen. Ein System heißt nicht Compendium und ist nicht ein auf Draht gezogenes Gerippe. Seht die Welt! Sie ist ein Mensch im Großen. So ganz wie ein Mensch. Gott sieht sie, wie ich[46] meinen Haushahn, meinen Phylax, meinen Leopold; wir aber finden sie so in Unordnung, daß es Kunstrichter gegeben hat, die dem lieben Gott gern was ins Ohr darüber gesagt hätten.

Wo das, was ich verstehe, gut ist, da leg' ich beide Hände auf den Mund, wenn ich an etwas stoße, das ich nicht verstehe.

Mein Einer, an den ich dieses Buch geschrieben, ist mein lieber getreuer – – den ich auch getreu lieben werde bis in den Tod. Dieses ganze Buch ist eine Dedikation, eine Zuschrift, in Rücksicht auf ihn, ein Brief mit einem cachet volant, sub sigillo volante (unter offenem fliegendem Siegel); allein kein Wunsch ist sehnlicher, als daß meine Leser hiebei nichts verloren, sondern vielmehr reichlich gewonnen haben mögen.

Mitten in diesen und andern Wiederholungen kam ein Brief von meinem Vater an den Herrn v. G. und an mich?

Nichts an mich, zum offenbarsten Beweise, daß mein Vater nicht fürs Schreiben war.

Auch der Brief an den Herrn v. G. war kurz und enthielt nur eine Anweisung, einen Fingerzeig wegen der Beilage. Unser Bekannter, der das erste- und letztemal, da er eine Flinte losdrückte, oder vielmehr, da sie ohne sein Vorwissen und Mitwirkung in seiner unerfahrenen Hand losging, seinen Sohn erschoß, hatte seine Lebensumstände eigenhändig verfaßt und sie seinem Tröster, meinem Vater, in die Hände gelegt. Der Herr v. G., den der Alte mit dem einen Handschuh aufmerksam gemacht, hatte meinen Vater beschworen, ihm den Erfolg von dem Trostamte, welches dieser Unglückliche in seiner Seelenangst aufgefordert hatte, zu berichten.

Ein kurzer Brief, sagte Herr v. G., da er den Brief meines Vaters entfaltete, der, wie ich bei Gelegenheit des Conversus bemerkt habe, fürs Mündliche war. Dieß gab Anlaß, von meines Vaters Weise, kurz zu schreiben, nach seinem Beispiel ein langes[47] Gespräch zu halten, das Herr v. G. auf eine mir unvergeßliche Weise beschloß. Die Sprache Gottes! Gott sprach, hauchte nur auf, und es ward. Gott ist auch Schriftsteller worden, fuhr Herr v. G. fort. Das Wort Fleisch. – Es ist viel von Gottes Wort zu sagen. Ein Ausdruck, den alle Welt im Munde führt, und doch ein tiefer, tiefer Ausdruck!

Eine lange Beilage, sagte Herr v. G., nachdem er den kurzen Brief durch und durch geblickt hatte. Er las ihn nicht, er blickt' ihn auf. Die Beilage ward wörtlich abgelesen. Einige Stellen hatten Thränen überschwemmt, und sie schienen wie verwüstete Wiesen, die das ausgerissene Wasser zerstört hat.

Hier ist ein wohlgemeinter Auszug. Es war der – – der einzige Sohn eines Amtmanns. Seine Mutter, die Tochter eines Literatus. Seine Eltern starben in Ketten. Der ungnädige Herr Principal hatt' ihnen Defecte zugezogen, ohne sich Zeit zu nehmen, eine Probe bei seiner Rechnung zu machen.

Die Cavaliere, schreibt er, rechnen gemeinhin mit ihren Amtleuten ohne Probe, und sind Kläger, Richter und Henker!

Unser Bekannter hatte Gelegenheit gehabt, in seiner ersten Jugend schreiben und rechnen zu lernen, ohne daß er sich unterstehen durfte, von dieser Kunst bei der Verrechnung des Herrn v. ** in Rücksicht seines Vaters Gebrauch zu machen und ihr durch eine Probe nachzuhelfen. Er entging mit vieler Mühe der Schuldunterthänigkeit, konnte von Glück sagen, daß er frei blieb und als Bedienter sich in einem andern hochadelichen Hofe anzubringen die Erlaubniß erhielt. Er versprach Charlotten die Ehe, einer freien Person, die aber weder reich noch schön war. – Sie hatten sich von dem ersten Augenblick geliebt, da sie sich gesehen hatten. Sie war verliebt und tugendhaft, das ist nicht viel auseinander, und verliebt und tugendhaft war alles, was man von Charlotten sagen konnte. Gewiß würd' unser Bekannter an ihrer Hand glücklich[48] geworden seyn. Er hatt' ihr die Ehe einmal, da es donnerte, verheißen, und so laut, wie er schreibt, daß er fast den Donner überschrien! – Alles, was Charlotte und unser Bekannter sahen, alles, was sie hörten, bestätigte ihre Liebe – denn Aufforderung hatten sie nicht mehr nöthig. Unser Bekannter hatt' eine Laube gepflanzt, welche Charlotte begoß. Sie wuchs mit ihrer Liebe um die Wette. Charlotte hatte das Glück, wie's die Leute hießen, den gnädigen Herrn in verliebten Aufruhr zu setzen. Sie war die vierte, der er ein seidenes Schnupftuch zugeworfen; allein die drei, so vor ihr gewesen, die Kammerjungfer nicht ausgenommen, waren auf einen andern Fuß genommen. Er fing an zu seufzen und Charlotten förmlich die Cour zu machen. Wenn niemand dabei war, küßt' er ihr die Hände, und das Kammermädchen seiner Frau Gemahlin Gnaden hatt' ihn auf den Knien vor Charlotten gesehen. Dieß verdroß das Kammermädchen beinahe mehr, als die gnädige Frau, welch letztere die Kunst sich zu entschädigen aus dem Grunde verstand und den Herrn Gemahl länger verloren hatte, als die Kammerzofe den Liebhaber. Indessen fand auch die entschädigte gnädige Frau unschicklich, daß Se. Hochwohlgeboren einem Dienstmädchen die Cour machten. Die Cour! auf den Knien! So was hielt sie ihrer Ehre zu nahe, und das Kammermädchen setzte hinzu: wenn Charlotte noch eine Kammerjungfer wäre!

Charlotte hätte, wenn sie den Plan der gnädigen Frau und des Kammermädchens befolgen und den gnädigen Herrn öffentlich lächerlich machen wollen, ein ziemlich großes Spiel gewonnen, allein sie wollte nicht durch's Spiel reich werden. Sie suchte Se. Hochwohlgeboren auf den rechten Weg zu bringen, er aber blieb auf dem Irrwege zu ihrem Herzen. Da sie ihn nicht los werden konnte, entfernte sie sich, wie sie stand und ging, und ließ, wie Joseph, ihre Plundern zurück, die Man ihr bei Hängen und Würgen auslieferte. Die Sache macht' Aufsehen, und Charlotte war die[49] einzige Person, die den Herrn v. ** vom Theater der dortigen Gegend bringen konnte. Sie that es, und da unser Bekannter sie selbst darum bat, kehrte sie zurück ins Haus. Solche Herren wissen sich durch Ableiter vor dem Ungewitter zu sichern. Sie wissen nicht, was eine fehlgeschlagene Liebe sagen will. Der Herr v. ** hatte sich mit weniger Mühe, ohne zu knien, versorgt, und unser Bekannter besaß Charlotten nun ohne Anfechtung. Sie war ihm jetzo theurer; denn ihre Tugend hatte gesiegt und das Feld behalten.

Es ist unaussprechlich, wie glücklich unsere Verliebten waren. Er pflückt' ihr die ersten Blumen, und die Natur schien sie recht geflissentlich für ihn, oder eigentlich für Charlotten zu verwahren. Nur ein durch Liebe geweihtes Auge konnte die Blumen finden, die er fand. Sie hingegen bracht' ihm die ersten Früchte. Er aß sie aus ihrer Hand und dann schmeckten sie ihm desto süßer.

Nach dem Auftritt mit dem Herrn v. ** schien Charlotte unserem Bekannten eine Märtyrin, und er glaubte, daß diese erhabene Idee seiner Liebe Schaden gethan haben könne. Nachdem ich sie, schreibt er, übermenschlich liebte, schien sich ein gewisses Feuer im Herzen zu legen.

Er gesteht mit allen Merkzeichen einer wahren Reue, die niemand gereut, daß sein Herz vorzüglich durch die Geschenke seines Principals den ganzen Rest von Anhänglichkeit zu Charlotten verloren. Welch ein Verlust! O Gott, welch ein Verlust! Ich ward wie ein schwankendes Rohr, schreibt er, lange vom Winde hin und her getrieben. Ein Flick Land und ein blanker Hut machten den Garaus mit mir. Ich balancirte schon zuvor. Dieß Flickwerk gab den Ausschlag. Der gnädige Herr konnte Charlottens Gutherzigkeit empfinden. Viel vom gnädigen Herrn! Er haßt' und ehrte Charlotten, wie die Teufel glauben und zittern. Sie hatte seine Beschämung oder Beschimpfung in ihrer Gewalt, allein ihre edle himmlische Seele wußte von keiner Rache. Charlottens[50] Herz hatte nicht seines Gleichen. Sie fragte nicht, ehe sie Mitleiden zeigte, ob der Unglückliche Schuld an seinem Unglück wäre? Oft dacht' ich, wenn sie weinte mit den Weinenden, und wenn es ihr genug war, Elend zu sehen, um bewegt zu werden, sie läßt, wie Gott der Herr, regnen über Gerechte und Ungerechte! – Diese edle Denkungsart vermochte vielleicht den gnädigen Herrn durch sein Geschenk die gute Sache mit Charlotten ins Reine zu bringen. Der Hut, sagt' er zu mir, ist mir zu groß. Das Land ist mir zu klein! Es ist beides sein. – Weg war ich, ja wohl weg.

Unser Bekannter verdarb sein Herz von Tag zu Tage. Je mehr Charlotte ihm sagte, daß ihm der Hut schlecht stünde (sie sah dabei auf sein Herz; er war sonst ein schöner Mann), je gleichgültiger ward er gegen sie. Er hatt' an jedem Finger eine Schöne, die sich in dem blanken Hute spiegelte und sich nach Maßgabe desselben das Tuch um den Hals zurechtzog, bis endlich Luise ihn zur heiligen Ehe bestimmte. Sein Hut war abgetragen und Luise war reich. Diese Luise ist das unglückliche Weib, das nach dem unglückseligen Schuß mehr aus Gram über den Gram ihres Mannes, als über den Verlust ihres einzigen Sohnes starb, wie ich im ersten Bande bereits bemerkt habe. Das Stück Acker, so ihm der Herr v. ** schenkte, war zur Noth eine Brodstelle, allein einen blanken Hut warf es nicht ab. Bis auf den Zuschlag mit Luisen hatte Charlotte noch Hoffnung gefaßt. Sie, die alles zum Besten zu kehren gewohnt war, verlor nicht alle Aussicht zur Besserung ihres ungetreuen Liebhabers. Vom Tage seiner Verlobung mit Luisen sank sie in Schwermuth! O Gott, sie sank tief! Dichte Wolken überzogen sie, und es war so feierlich anzusehen, als wenn schwarze Wolken den Mond beziehen. – Wer diesen Bezug nicht bemerkt hat, thue Charlotten Ehre und bemerk' ihn noch. Während der Zeit, da sich unser[51] Bekannter von Charlotten gedreht, bekam sie einen Freier, der sie herzlich zu lieben vorgab. Man konnt' an der Ehrlichkeit seiner Liebe nicht zweifeln, da er reich und sie arm war. Dieß wußte sie zu empfinden; allein sie empfand auch, daß es nicht unser Bekannter war!

Die erste Liebe, merkte Herr v. G. bei dieser Gelegenheit an, stimmt unser Herz auf ewig. Der Ausschweifendste könnte behaupten, er habe nur eine Einzige geliebt, und in Wahrheit, das könnt' ihn heilen – wenn es sein Ernst wäre, heil zu werden. Man liebt immer die erste Liebe, auch selbst wenn man am Hofe ist. In jeder neuen Theaterprinzessin ist wenigstens ein Zug von der ersten Liebe. Sie ist uns ins Herz geschrieben, im theologischen Sinn – und beweist, daß von Anbeginn nur ein Weib und ein Mann gewesen. Der arme Freier! Es war seine erste Liebe, er heirathete; allein es war keine Charlotte. Die Braut unseres Bekannten wandte sich an Charlotten; denn sie hatte zu ihrem Bräutigam mit dem abgetragenen blanken Hut kein absolutes Vertrauen. – Charlotte gab ihm mit weinenden Augen das beste Zeugniß. Sie küßte die Ruthe, womit sie gezüchtigt ward. Sie küßte Luisen herzlich. – Arme Charlotte! Ihrem beklommenen Herzen Luft zu machen, heirathete sie; allein, was ist von einer Heirath aus Verzweiflung zu erwarten? Sie machte ihren Mann unglücklich, und sie war es noch weit mehr. Sie küßt' ihn zitternd, wie eine Taube, die den über sich hangenden Mörder sieht, indem sie ihren Gatten schnäbelt. Charlotte sah den Habicht ganz allein, und mithin wußt' ihr Mann nicht, was ihr war! – Sie hatte keine Kinder, und Charlotte ward allgemein für eine Person erklärt, die schwermüthig wäre. Besonders äußerte sich dieser Trübsinn, wenn sie was Blankes sah; es müßte denn durch die Sonne vergoldet seyn, sonst konnte sie nichts Schimmerndes ohne Thränen ansehen. Ihr Silber und Zinn mußte nicht glänzend gemacht werden. Am[52] liebsten aß sie von Holz. – Man verschloß sogar Scheere und Messer eine Zeitlang. Ein Schrecken war das Einzigste, was Charlotten in's Lachen bringen konnte. Ihr Lachen hielt man für Hitze, so wie ihre Thränen für Frost, bis man mit ihrer Art bekannter ward und Messer und Scheere wieder aufschloß.

Charlotte konnte keine Kinder ausstehen; allein wenn sie heimlich den einzigen Sohn unseres Bekannten habhaft werben konnte, drückte sie ihn fest an ihr Herz. Es war rührend anzusehen. – Unser Bekannter hatte das Glück, sich zu überreden, Charlotte sey nicht seinet-, sondern ihres einzigen Mannes wegen, schwermüthig. Es war Charlottens Mann der beste Mann in der Welt, indessen ward er ordentlich gehaßt, und wenn man ihn am Ende so böse nicht fand als man ihn ausgab, kam es auf den gnädigen Herrn, man sagt' es sich in's Ohr, daß Charlotte seinetwegen so trübe geworden wäre.

Sie starb – und so froh, daß es erbaulich war, von ihrem Tode zu hören. Wer sie sterben gesehen, war bis an die Thür des dritten Himmels entzückt worden. Charlotte war aber gewiß weiter eingedrungen zur ewigen Freud' und Herrlichkeit. Wer ihre letzten Worte gehört hatte, redete von ihr mit Ausgelassenheit. – Es hatte kein Auge gesehen, es hatte kein Ohr gehört, es war in keines Menschen Herz kommen, was die Umstehenden gesehen und gehört hatten und was ihnen ins Herz gekommen. Ihr Ehemann hatte in Wahrheit die Freuden des Ehestandes nicht an ihrer Hand erfahren; allein ihr Andenken ließ ihn an keine zweite Verbindung gedenken.

Unsere Verbindung, sagt' er, war für die andere Welt, wo keine Thränen mehr von Charlottens Augen fallen werden! Sie sind getrocknet, diese Thränen, und Engelsfreude ist in ihren Augen. Halleluja! Charlotte bat ihm sterbend ab, und er ihr,[53] und alle, die Messer und Scheere verschlossen hatten, verlangten ihren Segen.

Vergib mir, sagte sie zu ihrem Manne, es wird dir alles im Himmel gelohnt werden. Am Grabe endet sich alles Elend, aller Kummer. – Dort wird das Buch meines Schicksals aufgethan, damit ich lese und verstehe, was hier kein weiser Mann zu erklären wußte. Alle Finsterniß wird dort Licht seyn. O, wie froh werd' ich seyn, den Zusammenhang meines Lebens kennen zu lernen. – Ihr Mann rang die Hände, und wenn sie ihm abbat, weint' er bitterlich. – Ehe sie ihr edles Auge schloß, sah sie sich rund herum. Bei ihrem Manne ließ sie das Auge etwas ruhen, und nachdem sie diesen Lauf vollendet, sah sie gen Himmel und ihr Auge schloß sich, als wenn man müd' ist, von selbst. Es durfte nicht zugedrückt werden. – Sie entschlief. – Wahrlich! wahrlich! sie starb in einer seligen Stunde. – Ihr Liebling, der Sohn unseres Bekannten, spielt' oft auf ihrem Grabe, das kein Kraut des Fluchens, Dornen und Disteln, entehrte, obgleich es rund herum stand. Es schien, als ob Dornen und Disteln Achtung für das Grab unserer Seligen hätten. Der Sturmwind, wenn er daherfuhr und die Kirchenlinden absplitterte und Aeste brach, schonte der Blumen auf dieser heiligen Stätte. Sie war jedem heilig, wie die Pforte des Himmels.

Ich glaube, meine Leser verlieren bei diesem Auszuge, denn das weitschweifige Original hatte Stellen, die schrecklich waren.

Unser Bekannter war durch diesen denkwürdigen Tod noch nicht auf Bußgedanken gebracht. Er konnte Charlottens Leiche sogar folgen, ohne eine Thräne fallen zu lassen!

Das nenn' ich, sagte Herr v. G., Gericht der Verstockung! Die Trostlosigkeit des Mannes unserer Charlotte bestätigte das Vorurtheil, daß er Charlotten unglücklich gemacht hätte. Man hielt es für Gewissensbisse. Die Umstände ihres Todes, die[54] unserm Bekannten, wiewohl zum größten Theil sehr unrichtig und nur beiläufig, erzählt worden, bestätigten diesen unerhörten Wahn. – Da Charlotte ihrem Ungetreuen auswich und ihn nicht anders als in ihrem Herzen sah, so unterhielt alles die Ruhe unseres Bekannten, um mich desto unruhiger zu machen (dieß sind seine eigenen Worte).

Der Herr v. G. bemerkte, daß ihm nichts schrecklicher, als ein ganz ruhiger Mensch wäre. Die Ruhe der Weisen sey so sehr, bemerkte er, mit einer gewissen seligen Unruhe, mit einer Sehnsucht verknüpft, daß man sie eine selige Unruhe nennen könnte. Ruhe ist Dekoration, wie's eine Aufrichtigkeit von der Art gibt, eine Aufrichtigkeit, die verkleideter Mord ist – und wodurch man sicherer betrügt, als durch Rückhalt.

Unsern Herrn und Meister, sagte Herr v. G., konnte nur eine gewisse Ruhe, die Folge von einem göttlichen Ruf, kleiden – seinen Aposteln kommt sie schon nicht zu – dem Sokrates nicht – wohl aber der Maria, des Herrn Mutter, und jedem Weibe, das einen Sohn hat, der seiner Mutter Ehre macht. – Solch ein Weib hat es vollendet. – Hier in der Welt sind wir in der streitenden Kirche. – Wer wird die Hände in den Schooß legen? wer sein Auge sinken lassen? Ruhe ist der Anzug der Seligen, der Vollendeten des Herrn! Von Gott kann man sagen: er sah an, was er gemacht hatte, und siehe da: Es war alles sehr gut!

Der Gang auf Vogelwild unseres Bekannten war sein letzter, ruhiger oder verstockter Gang. Der Schuß, wodurch er seinen Sohn tödtete, sprengte sein Gewissen auf. Knall und Fall paßte nicht bloß auf seinen Sohn, sondern auch auf seine Ruhe. Er führte an, daß er im Schuß den nämlichen Knall gehört hätte als im Donnerschlag, den er überschrien und den er zum gerechten Zeugen für seine ehrliche Liebe zu Charlotten aufgerufen! Die Molltöne hatten sein Herz nicht erweichen können, so wie[55] göttliche Wohlthaten die wenigsten Menschen zu Gott lenken. Es mußte einschlagen, und nun fielen die Schuppen von seinen Augen. Der Schuß schleifte seine ganze Festung.

Da stand er und trauerte wie ein Baum, dem ein brausend wüthender Angriff des Sturms alle seine Blätter auf einmal raubt und ihn schnell ganz nackt auszieht. – Nun war ihm Charlottens Grab die einzigste Zuflucht; hier sah er Charlotten und seinen Sohn, der auf diesem Grabe oft gespielt hatte. – Was für ein schreckliches Licht war ihm aufgeblitzt! Gott ist gerecht, schrieb er, und alle seine Gerichte sind gerecht! Seine Ausdrücke waren brennend. Sie gingen durch Mark und Bein. Wie gern hätte er sein verpfändetes Wort eingelöst. Sein Weib war ihm unerträglich und er sich noch unerträglicher, weil sie's ihm war. Sein einziger Umgang war mit dem Manne seiner Charlotte, der ihm alles haarklein erzählen mußte, was unser Bekannter, nachdem er zur Erkenntniß der Sünden gekommen war, besser verstand als sein Freund. Die Laube, welche er gepflanzt und Charlotte begossen, war ihm fürchterlich finster geworden; indessen ging die Sonne keinen Tag unter, wo er sie nicht besuchte. Er suchte Charlotten drin und weinte. Er, der ehemals mit dem Frühling um die Wette blühte, konnte, außer dem Herbste, keine Jahreszeit ausstehen. Abgefallenes Laub sah er lieber, als eine Rosenknospe, und wenn er einen verdorrten Baum fand, setzte er sich unter ihn; er war ihm der liebste.

Gott hat mich verstoßen, seufzte er zuweilen, und niemand konnte ihn seufzen hören, ohne ihn herzlich zu bedauern – das brachte einen neuen Seufzer hervor. Wenn er zum Nachtmahl ging, weinte er so, als wenn er unter den Kriegsknechten gewesen wäre und jetzo öffentliche Kirchenbuße thäte. Er war stets zerschlagenen, zerrissenen Herzens. Sein ganzes Leben war eine immerwährende Litanei, ein ewiges Kyrie eleison. Froh würde er seiner[56] Erlösung entgegengegangen seyn, wenn nicht Charlotte und sein Sohn im Himmel gewesen. – Seinen Sohn durfte er nur vor den Menschen bekennen; desto mehr litt er, daß er Charlottens Namen verbeißen mußte. In der Stille nannte er ihn tausendmal in einem fort. Er zitterte vor dem Tage seines Todes und das Leben war ihm auch unerträglich. O Gott! es muß ein schrecklicher Zustand seyn, wenn man nicht leben, nicht sterben kann. Am Ende war ihm doch das Leben das unerträglichste. Er sehnte sich, vom Fegfeuer dieses seines Lebens und von allem Uebel befreit zu werden – und wenn ihn eine Furcht vor dem Himmel ergriff, wo er seinen Sohn, Charlotte und Luise finden würde, schlug er seine Hände gen Himmel: Vergib! war alles, was er sagen konnte.

Sein Morgen- und Abendgebet war:


Von allem Uebel mich erlös';

Es sind die Tage bitterbös;

Erlös mich von dem ew'gen Tod

Und tröst' mich in der letzten Noth.

Bescheer' mir, Herr! ein sel'ges End';

Nimm meine Seel' in deine Händ'!


Und so beschloß er auch seinen Aufsatz, den meine Mutter nicht der Sache angemessener beschließen können.

Charlottens Mann sollte ihm nach seinem Testament im ersten Paar folgen und alles erben, was er nachließ. Folgen will ich ihm, sagte dieser Unglückliche, was soll mir aber sein Gut, da ich seit Charlottens Tode nicht mehr lebe?

Dieß war der Schlüssel zu der Seelenangst unseres Bekannten. Sein Sohn war nur der erste Eingang. Charlotte war das Thema.

Er hatte, wie mein Vater in seinem Briefe bemerkte, sich auch darum Vorwürfe gemacht, daß er diesen innern Gram seinem[57] Weibe und dem Manne Charlottens und seinem Beichtvater, meinem Vater und seiner Beichtmutter, meiner Mutter, verheimlicht; allein mein Vater absolvirte ihn deßfalls, weil er eben durch diese Verschwiegenheit gebüßt. Er rief nicht bloß: ich soll meinen Georg sehen, sondern auch: ich soll Charlotten sehen; und er wollte nicht bloß von meinem Vater eine Anleitung, sich gegen seinen Sohn, sondern auch gegen Charlotten, zu führen. – Diese Umstände waren so verwandt in seinen Empfindungen, daß bei ihm alles eins war, Charlotte und sein Sohn.

Den Ehemann Charlottens überfiel eine ordentliche Art von Eifersucht, da ihm unser Bekannter im Himmel zuvorkam; allein mein Vater heilte ihn.

Er hatte sich feierlich erklärt, nichts von dem Nachlasse des Bekannten sich zuzueignen, und da ihm mein Vater die Folgen hievon vorstellte, versprach er zu nehmen und zu geben. Mit der Linken nahm er und mit der Rechten wandte er dieß Erbtheil bis zum letzten Dreier den Armen des Kirchensprengels zu. »Dank für die Anweisung,« sagte er zu meinem Vater; »das sind die rechten Erben.«

Das letzte Wort unseres Bekannten war ein mit gefalteten, gen Himmel gehobenen Händen, bei denen er aber sein Gesicht, als wenn er sich vor dem Donner fürchtete, wegwandte: Gedenke mein! Er hielt sich für einen vierfachen Mörder – seines Sohnes, seines Weibes, Charlottens und ihres Ehemannes.

Herr v. G. war dieser Geschichte wegen äußerst bewegt, und Herr v. W. fing den heiligen Abend zum Freudenfest dießmal später an, um das Trauerfest, das ohnehin früher seinen Anfang genommen, hiedurch recht vollständig zu machen.

Ich habe mich, wie meine Leser schon wissen, bei dem Auszuge kurz gefaßt, und wenn ich die Anmerkungen, welche vorfielen,[58] hinzufügen sollte, würde die Stütze vollends größer als das Gebäude geworden seyn.

Die Frau v. W. hatte die Hände gefaltet, als wenn Hausgottesdienst gehalten würde, und ihre Thränen fielen gerade herab, ohne daß sie, ihr Kleid zu schonen, etwas untersetzte, wie man Regenwasser auffängt. – Sie flossen von ihrem Kleide wie Thautropfen von Blumen. – Die Frau v. G. weinte in ihr einbalsamirtes Schnupftuch.

Es freute den Herrn v. G., diese Bewegung an ihr wahrzunehmen, da unser Bekannter kein Edelmann war. Während dieser Vorlesung und der Nutzanwendung, die Herr v. G. aus seinem guten Herzen schüttete, fiel mir alle Augenblicke Mine ein. Gern hätte ich ihr gesagt, was ich bei dieser Geschichte empfunden, und siehe da, ihr Bruder Darius Benjamin! – Mir ist es oft begegnet, daß das alles, was mir von der Liebe ahnete, auf ein Haar eintraf, und dieß bestätigte meine Idee, daß eine unsichtbare Hand mit meiner Liebe sey, so wie sie's mit jeder reinen Liebe ist.

Benjamin hatte einen verstellten Auftrag an seinen Vater, der unaufhaltsam böse war, daß sich Benjamin unterstanden, ihn hier aufzusuchen. Es fiel ihm gar nicht ein, daß das Schneiderhandwerk für den Sohn eines Literatus noch das allerschicklichste sey, daß Gott der Herr selbst nach dem betrübten Sündenfall dieses geschenkte Handwerk eingesetzt und die ersten Röcke verfertigt, daß sein Sohn auf Prima säße und künftige Ostern Student werden würde. Noch böser würde der alte Herr gewesen seyn, wenn Benjamin nicht sein Ehrenkleid angelegt und die Haare in Verse gezwungen hätte, so nannte meine Mutter die damalige Art in Curland, Locken im eigentlichsten Sinn – anzunähen. Dem Benjamin war diese Frisur die natürlichste.

Während der Zeit, daß der alte Herr dem Benjamin seine[59] Herausnahme, ihn hier aufzusuchen, verwies, winkte Darius seinem Freunde Alexander, daß er aus einer ganz andern Ursache hergekommen, die er in der Tasche hätte. Benjamin sollte sogleich fort. Hermann stand Schildwache, damit niemand den Primaner sähe, und befahl seinem Sohn, vom Fenster zu gehen. Der arme Junge mußte sich lange kehren und wenden, bis er ein Plätzchen fand, wo man am wenigsten entdecken konnte, daß Benjamin, des alten Herrn Sohn, hier wäre. Ich würd' ihn nicht von dieser Wache weggebracht haben, wenn ich nicht mit Benjamin wie du und du umgegangen. Dieß brachte den Herrn Candidaten von der Thür, und vielleicht fiel ihm zu rechter Zeit ein, daß er selbst zu Hause Fingerhut, Bügeleisen, Nadel und Zwirn (wiewohl unter ein Paar Schlössern verwahrt) hätte. – Er löste sich von der Schildwache ab, und Benjamin und ich waren allein.

Mir war von jeher angst und bange über Benjamin, wie meine Leser es selbst wissen, weil er das Geschlagenwerden schon gewohnt war. Das Finkennest und der Judenjunge hatten diese Angst und Bangigkeit wieder aufgefrischt, die der Gedanke, daß Minchen Benjamins Schwester war, zum größten Theil widerlegt hatte. Benjamin war schon bei der väterlichen Belagerung ungewöhnlich beherzt. Er hatte nicht Ruh' noch Rast, mich von seiner Schwester zu grüßen und mir ihren Brief, das Handgeld, so er, als unser Vertrauter, genommen, zu überreichen. Hier ist er. Ich hatte nicht Zeit, den Benjamin in seinen neuen Posten einzuführen. Ein Brief von Minen! – wie könnt' ich das? Ich bespart' also das Introductionsgeschäft auf eine gelegenere Zeit.


* * *


Gottlob! daß du noch in Curland bist, und gottlob! daß ich noch von dir Abschied nehmen kann. Gottlob! gottlob! – Ich bin sehr darüber bekümmert, daß es so unordentlich bei unserm letzten Gespräch herging. In Wahrheit, ich weiß kein Wort von[60] dem, was du mir zu guterletzt gesagt hast; oder hast du mir nichts zu guterletzt gesagt? nichts? – Was noch ärger ist und was mich noch mehr bekümmert, darf ich dir nicht sagen. Du wirst es leider zu sehr, zu sehr wissen und dir darüber Gedanken machen! Ich fühl' es, daß ich selbst, daß ich dir auch kein Sterbenswort gesagt – nichts zu guterletzt – und doch liegt's auf meinem Herzen wie ein Berg. O, lieber Junge, verzeih' mir! – Es war alles so geschwind, ich sah dich nicht gehen; du bist auch nicht gegangen, du bist verschwunden. – Vielleicht hingst du schon lange, lange nicht mehr an meiner Hand, eh' ich dich mißte, eh' ich wußte, daß ich allein war. Allein! großer Gott, ich allein! Gin schreckliches Wort – allein! O wie betrübt bin ich! wie sehr betrübt! und am meisten, daß wir einen so schnellen Tod sterben. Wir beten:


Für einen bösen schnellen Tod

Behüt' uns, lieber Herre Gott!


Ich habe bis hieher geglaubt, es sey gut, schnell sterben, wenn es nur nicht ein böser Tod ist, denn du hast es mich gelehrt; allein nimm deine Lehre zurück; ein schneller, dünkt mich jetzt, ist immer ein böser! Leib und Seele, denk' ich, wissen nicht, wo sie geblieben, wenn es zu schnell geht, so wie ich von dir nichts wußte. – Junge! die ganze Zeit über und noch diesen Augenblick seh' ich mich nach dir um, allein du bist nicht mehr. – Gott segne dich und behüte dich! Dich! Dich! Dich! Mir ist so, mein Lieber, als wenn dieser Brief der letzte sey, den du, eh' ich sterbe, von mir lesen wirst; der letzte, dünkt mich, ohne zu wissen, warum? Diese Ahnung fährt mir kalt durch alle Glieder und läßt ein Zittern und Beben zurück, ein Zittern und Beben, daß ich die Feder nicht halten kann, auch die Gedanken nicht. – Lieber Junge! wie kann mir so was ahnen? Ich bin noch nie ohnmächtig gewesen, allein, wenn dieser ganze Brief nicht schon eine wirkliche Ohnmacht ist – so ist mir so, als sey eine in der Nähe. – Unser Briefplan, Lieber! wird[61] eine Abänderung leiden. – Benjamin kann dir mündlich die Ursache sagen. Es sind ihrer viel. Benjamin ist mein Bruder; mein Geliebter, mach ihn, wenn er dir diesen Brief abgibt, zu dem deinigen. Weih ihn dazu ein, damit es Eindruck bei ihm mache! – Wir haben beide, Benjamin und ich, lange, lange überlegt und ganze Seiten in Gedanken ausgestrichen und links und rechts versucht – das beste ist und bleibt, daß du deine Briefe nicht an Benjamin überschreibst und – sondern – sondern – – – Benjamin kennt ihn vollständig. Es bleibt, daß du die Briefe an – – – meinem Vater zur Abgabe empfiehlst. Die meinigen wird Benjamin durch seine Ueberschrift an dich verkleiden, wenn er und ich wissen, wo du zu finden bist. Du schreibst den ersten. Er an sie. So bleibt's, so und anders nicht. Findest du diesen Plan ganz oder zum Theil unrecht, ändere, das heißt, bessere; anders änderst du nicht, das weiß ich. Von Benjamin erwart' ich deinen Entschluß, und da ich deine letzten Worte bis in den Tod vergessen habe, schreib mir andere letzte, im Fall du die ersten letzten selbst vergessen hast – und hast du keine Gelegenheit, zu schreiben, lehre sie dem Benjamin auswendig, damit er sie mir ja unversehrt überbringe und sie mir eine Feuersäule werden und eine Wolkensäule, je nachdem ich's bedarf. Bald zittere ich, bald wüthet ein mächtiges Feuer in mir. Sommer und Winter, dicke Nacht und Sommermittag. Das ist wohl die Liebe, Herzensjunge, sonst wüßt' ich nicht, was es seyn könnte. O Junge! wie sehn' ich mich nach deinem: zu guterletzt, zu guterletzt, zu guterletzt!

Es bleibt mit der Aufschrift und mit allem. Außer dem Briefe, den mir, wenn das Glück gut ist, Benjamin jetzt bringt, schreibst du mir den ersten. – Alles übrige wird dir Benjamin sagen.

Wenn du es nicht selber endlich fürs Beste gehalten hättest,[62] dem Benjamin den Vorhang unserer Lliebe aufzuziehen, ich wäre vergangen in meinem Elend. Der Brief, den Benjamin von dir mitbringt, wird nicht gerechnet. Er an sie zuerst, wenn du an Ort und Stelle bist, wo dich Gott hingeleiten wolle durch seinen heiligen Engel, dem ich, wie dir, eine glückliche, glückliche Reise wünsche. Ich häng' an einem deiner Blicke, ich weiß aber nicht, ob es der letzte war. So hing ich nie an deinem Mund, so fest nie, als an diesem Blick. Was ist aber in deinem Auge? Schwermuth, tiefe Schwermuth? Um wen trauerst du, Lieber, um wen? Kannst du um wen anders trauern, als um deine Mine? Ist sie todt, deine Mine? Hat sie ausgekämpft den schweren Kampf, die Dulderin? Mir liegt der Spruch so tief in der Seele: sey getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben; daß die Krone des Lebens vor meinen Augen schimmert. – Liebe und Andacht, pflegtest du zu sagen, sind zwei Lieder auf eine Melodie. Ist denn die Liebe nicht, wie die Seele ewig? Wo bist du, mein Geliebter? Denke mein! denke mein! – Geschwind, wie der Gesang des Vogels durch den Wald läuft, geschwinder bist du entflohen. – Am Abend duftet was man pflanzt am lieblichsten, und die Seele duftet eben so lieblich, wenn sie der Tod überfällt. Ich weiß nicht, was ich schreibe, du wirst es aber wissen, was ich schreiben wollte. Ich bitte Gott, daß er's dir eingebe, wenn du es nicht von selbst wissen solltest. Wir sind eins, lieber Junge, du und ich! – Vergiß nicht, mit Benjamin einen andern Weg zu bahnen, wenn der meinige nicht gut ist; du mußt alles bis auf ein Haar abreden, wenn du meinen Vorschlag nicht annimmst. Benjamin wird dir die Ursache zur Abänderung sagen, ich kann es nicht, ich weiß sie nicht mehr, ich weiß nichts, nichts mehr, als daß ich dich liebe und dich lieben werde im Glück und im Unglück, im Leben und im Sterben, bis vor Gottes Angesicht! O, wie wohl ist mir, da ich daran denke! wie wohl![63]

Da ist er wieder, dein Blick! – Warum so finster? Ist denn der Tod so bitter? Lebe wohl, das weiß ich noch, daß ich es dir, daß du es mir sagtest. Aber das Letzte? – ich kann nicht mehr. Lebe glücklich und wohl, und Gott segne dich und behüte dich, er lasse sein Antlitz leuchten über dir und sey dir gnädig! – Ich leb' und sterbe dein.

N.S. Am Ende hab' ich wieder nicht recht Abschied genommen. Gott segne dich – ich bete lange für dich und werde jeden Morgen und jeden Abend, und vor Tisch und nach Tische für dich beten. – Ich werde mir manches Gebet entziehen und es für dich thun. – Der liebe Gott sey mit dir und gebe dir noch einen Engel zu, da du auf Reisen gehst – und wohl ein Paar nöthig hast. – Du schreibst bald! und bald kommst du wieder, und wenn ich nicht todt bin, bist du bald ganz der Meinige. Wie Gott will! Er, der Gnädige, sey dir gnädig, der allein Gnädige sey es dir! Amen! Amen! Amen! Ich bin auch im Tode dein, und ewig dein! und ewig, ewig, ewig dein, dein, dein, dein! – Ich weiß nicht, wie mir ist! Der Tod wird uns nicht scheiden. Wir sind und bleiben eins. – Der Tod nicht? Was ich schreibe! Sind wir nicht schon geschieden? bist du nicht fort? Und wenn ich stürbe, wer wird mir das Auge zudrücken, das nach dir noch starr offen stehen wird? Sonst hat es nach nichts zu sehen in diesem Jammerthal, nach Vater nicht, nach Mutter nicht, nach der ganzen Welt nicht. Du würdest es mit einem sanften Kuß schließen, wie die Abendluft eine Lilie, das würdest du, mein Einziger, wenn du geblieben wärst. Dieß, dieß trübt mich bei deinem Abschiede; du würdest meine Leiche mit Thränen salben, wenn du geblichen wärst. – Ich würd' in deinem Arm sterben, wenn du geblieben wärst. – O wie mir ist! Verzeih', Geliebter! ich weiß nicht, was ich schreibe – und werfe Blicke hin und her auf diesen Brief, und fast möcht' ich ihn zurückhalten, wenn ich[64] nicht schreiben müßte des guterletzt und des neuen Vorschlags wegen. Schreib mir doch, was dir ahnt, und Gott sey mit seiner Gnade bei und über dir! Amen, jetzt und in Ewigkeit Amen, in Ewigkeit Amen!


* * *


Ich hatte diesen Brief nicht ohne die heißesten Thränen lesen können. Alle Augenblicke drückt' ich ihn an meine Lippen und dann, als ob dieß viel zu wenig wär', und dann wieder an mein Herz, das ihm entgegenschlug. – Benjamin hatte des Vaters Posten eingenommen und war auf die Wache gezogen, wie er mir nachher erzählte; denn gesehen hatt' ichs nicht, ich wollt', ich mußte schreiben. – O wie war mir! – als schrieb' ich ein Todesurtheil, als schrieb' ich mit Blut – so angst und bang! und dann wieder so vergnügt ums Herz, daß das Blut über und über stürzte, und dann wieder so sanft als im Junius, wenn es geregnet und jede Blume wonnetrunken ist und sich noch auf ihrem Rücken für den schwülen Mittag des künftigen Tages einen großen, großen Tropfen aufgespart hat. – Alle Jahrszeiten in einer Viertelstunde – ich weiß nicht, was eigentlich mit mir vorging. Nur das weiß ich, daß Benjamin einigemal zu mir kam, eilfertig, um seinen Posten nicht kalt werden zu lassen, und mich in seine Arme nahm und mir die Arme küßte, meine Thränen waren ihm zu heilig, um ihren Lauf zu hemmen um sie mit den seinigen zu mischen. Kein Wasser, sagt' er, zu diesem Wein – der gute Benjamin! Und dann fing er wieder an: Ich werd' ihr alles sagen! alles! Er schrie: alles und jedes, bis er's merkte, daß er zu laut gewesen, und nun seufzt' er wieder: alles und jedes! Ich brach die Hände, daß es rührend war. Das nicht, erwiedert' er. Warum ringst du? Zwar ist's, als säh' ich den Engel und Jakob ringen! so schön ringst du! so schön ringt nur Lieb' und Pflicht! Das nicht, sagt' ich, Benjamin! das nicht! – Mein zu guterletzt ist Segen[65] von Gott, dieß Ringen zu dem Allmächtigen ist Sorge für sie! Mehr sag' ihr nicht, mehr nicht von diesem zu guterletzt, als was sie tragen kann. Ich weinte herzlich und Benjamin weint' auch. Wir waren beide sehr bewegt – und ich wett' es, wäre gekommen wer da wollte, er hätte mich um keine Thräne gebracht, nicht um eine einzige.

Ich billigte den Plan, ohn' ihn zu überdenken, denn wie konnt' ich das? Benjamin wäre nicht die Nacht geblieben, um alles nicht. Warum? Das sollten meine Leser rathen. Seines durch ihn beschämten Vaters halben? Nein, geliebtester Leser! Nein! – Minens wegen. Mehr braucht' ich nicht zum Beweise, daß er meines Vertrauens werth sey. Ich vergaß seine Rolle beim Finkenneste, beim Judenjungen und als Darius; ich dachte nur daran, daß er Minchens, ihret-, bloß ihretwegen, nicht die Nacht bleiben wollte. – Dein Plan ist gut, weil du ihn gemacht hast, sagt' ich ihm, du siehst, ich kann nichts überdenken. – Es kam mir alles übern Hals, Minens Brief, der Mann mit dem einen Handschuh und die Geschichte unseres Bekannten. Wenn ich ein Bösewicht wäre, sagt' ich zu Benjamin, wie könnt' ich diese Geschichte wissen und Minen untreu seyn? Ich empfahl Benjamin die Laube, welche der Ueberwundene gepflanzt hatte, die jetzt fürchterlich finster war. So finster und zehnmal finsterer sey es um meine Seele, wenn ich Minen vergesse! – Erinnern Sie sie, Benjamin, an die kalte Hand ihrer Mutter! – Ich liebe Minen sehr, sehr!

Da sank ich abgemattet nieder und erholte mich erst nach einer Viertelstunde.

Was ich mich freue (fing Benjamin an, hielt beide Hände gefaltet und hüpft' auf seinem Posten immer auf einer Stelle).

Ich. Warum?

Benjamin. Weil Mine so glücklich ist.

[66] Ich. Ich bin es mehr Bruder! weit mehr!

Benjamin. Gott gebe, daß Sie's ganz werden mögen!

Ich. So sage du! oder –

Benjamin. Kann ich?

Ich. Warum nicht?

Benjamin. Literatus und Schneider! Alexander und Darius?

Ich. Beides Könige, beides Menschen! Wenn du keine Schwester Mine hättest, müßtest du mich du nennen.

Benjamin. Sehr gütig!

Ich. Gerecht, Bruder! Wenn ich tausendmal Superintendent wäre! Was wär' es? Nannten wir uns nicht du als Kinder im Stande der Unschuld? Wenn du nicht einen natürlichen Ekel gegen das liebe Latein gehabt hättest, du würdest wissen, daß man in Latein alle Welt du nennt. Duzen wir nicht Gott den Herrn, ohn' ihm mit diesem Wort zu nahe zu kommen? Und was unter uns für Umstände? Bruder Benjamin, das heißt, Minens Bruder.

Benjamin. Nun du! du! du! du! ich muß es nur einigemal hinterher sagen, damit ich in die Gewohnheit komme; ja du bist ein Mensch, ein ganzer Mensch!

Ich. Ich hab's angefangen zu seyn, und mit Gottes Hülfe will ich's vollenden.

Benjamin. Bleib Minen gut.

Ich. Das bitt' ich dich! ich bin ihr näher als du!

Benjamin. Sie ist dir schrecklich gut, schrecklich. – Es ist ihr Ausdruck.

Ich. Ich ihr auch – schrecklich, Bruder!

Benjamin. Schrecklich, das heißt: Euer Ziel ist noch fern.

Ich. Das heißt, wir haben noch viele Berge zu steigen, viele! Grausam aber soll, wie ich zu Gott hoffe, unsere Liebe nie werden, das heißt, hocheifersüchtig. Eifersüchtig ist jede, jede Liebe.

[67] Benjamin. Minens wegen eifersüchtig?

Ich. Du bist mein, Mine! ich bin dein! Mein, dein! Mein, dein! Mein, dein! O Bruder, was ist die Liebe? Ruhm, Reichthum und andere Narrenspossen gehen alle durch Menschenhände, ich fühl's, Bruder! Die Lieb' allein kommt aus der Hand der Natur. Sie ist roh, sie ist Obst; denn beinah' alles andere ist gekocht und gebraten! Bruder! Bruder! ich gehöre Minen, ganz und gar gehör' ich ihr! ihr! und wenn sie mich zurückgeben wollte! O Gott, wie unglücklich reich würd' ich seyn! verdammt, verflucht reich; ich verlange mich nicht. – Wie gut bin ich bei ihr aufgehoben – bei ihr wie gut versorgt!

Benjamin. Fass' dich, Bruder, sonst sinkst du wieder.

Ich. Laß mich! Mine ist mein! – lebend und sterbend! O wie süß, wie süß werd' ich in ihrem Arm sterben! sterben, Bruder! hörst du, sterben! – Dann komm' ich aus einem Engelsarm in den andern.

Benjamin. Fass dich, Alexander! fass' dich!

Ich. Lass' mich nicht fassen! ich bitt', ich beschwöre dich! laß es mich nicht! Fassen ist gut, sich nicht fassen, ist auch gut. Kann sich die Liebe fassen? Ich glaube, man liebt nicht mehr, wenn man sich faßt. – O Bruder, das Menschengeschlecht wird nicht aussterben; allein die Liebe liegt in den letzten Zügen, die rechte Liebe, die rechte. – O Liebe! Liebe! du bist stark! singt meine Mutter.

Benjamin. Die deinige ist stärker, als Alexander. – Gott helf' meiner Schwester die ihrige tragen!

Ich. Gott helf ihr! – aus der Höhe! – Gib du ihr auch die Hand, wenn sie sie nöthig hat. – Greift sie nach beiden, gib ihr beide. – Du bist link, ehrlicher Junge, gib ihr deine Arme! Stütze sie! – O Jammer, daß du so weit von ihr entfernt bist![68] Wenn sie so ist, wie sie war, da sie den Brief schrieb, den du brachtest – den himmlischen Brief! O Bruder! hilf ihr! hilf ihr!

Benjamin. Gott helfe mir, um ihr zu helfen!

Ich. Warum bricht die Wolke? warum? weil es nicht zur rechten Zeit regnet. Will Minens Herz brechen, bring' sie zu Thränen! zum sanften, sanften Regen! – Warum weinst du jetzt, Benjamin?

Benjamin. Wer kann dich duzen, und dann dich hören und nicht weinen?

Ich. Weine nicht, Benjamin! wein' ihr aber vor, wenn sie verzweifelnd die Hände ringt; wenn sie verzagt, sag ihr, sag ihr mit Ueberzeugung, als ob du Gott und als ob du mich vor dir sähest, daß Gott im Himmel und ich in der Welt bin. – Ich reise in die Nachbarschaft, es ist abvotirt, daß ich in Königsberg studire. – Sterb' ich! – sterb' ich – o Benjamin! o Benjamin! sag ihr, daß ich als ihr Mann gestorben! – daß ich ihr entgegenkommen werde mit einem erweiterten Arm, o Benjamin, wenn ich sterbe!

Benjamin. Denke nicht an den Tod!

Ich. Du weißt, vor vielen Jahren, da ich krank war, setzt' ich dich zu meinem Erben ein, du solltest nach meinem Tode den Alexander, ohne Abzug, so wie ich ihn hatte, erben! Das Spiel hat aufgehört. Ich vermache dir Minen! Minen! – ich vermache sie dem lieben Gott, der erquicke sie, wenn sie mühselig und beladen ist. – Das ist mein letztes Gebet, mein letzter Seufzer!


Wir umarmten uns.


Benjamin. Die Liebe wird dich im Studiren stören.

Ich. Recht, Bruder! sie wird's, und ich werde kein so großer kunsterfahrner Gelehrter werden; allein ein herzlicher werd' ich seyn, ich werd' aus jedem Buche lieben lernen. Die Liebe schläfert Triebe ein, allein sie weckt auch Triebe auf! – Weiß Gott, wie's[69] zugeht; allein wer nicht liebt, sieht durchs Glas, durchs Fenster; wer liebt, steht mit eignen Augen! durch und durch mit Leib und Seele!

Benjamin. Gott helfe dir! ich weiß nicht, wie ich einfädeln und das Nadelöhr finden werde, da ich dich nur lieben gesehen und gehört habe – und du, du sollst predigen lernen?

Ich. Das ist bei der Liebe leichter als schneidern. Sieh, Benjamin, heutzutag ist unsere Liebe mehr geistig geworden, und Geist mit Geist kommt in die Verwandtschaft. Sorge nicht für mich, Bruder, sorge nur für Mine! – Sag ihr alles, alles, und bitte sie, daß sie mir treulich ein Tagebuch halte und Auszüge hievon alle Vierteljahre übersende. Es bleibt bei der Anordnung, es bleibt ganz dabei! Ein Brief von meiner Mine wird mir ihr Widerschein seyn. Grüße sie tausend-, tausend-, tausendmal!

Ich schäme mich, das weiß Gott! es niederzuschreiben, Benjamin gefragt zu haben, ob er Geld brauche? Seine Antwort war Nein, und ein solches Nein, daß ich kein Wort mehr daran wagen durfte.

Warum trägst du denn Geld in der Tasche los? fuhr er fort. Das weiß ich selbst nicht, war meine Antwort. – Es war dieses ein Gebrauch, den ich an Kindesstatt angenommen hatte, und noch trag' ich mein alltägliches Geld, wie ein großer König den Tabak, in der Tasche. Ich hab' es in der Folge gefunden, daß sich das Geld so sehr an den Beutel gewöhnt, daß es nicht heraus will, wenn gleich Menschen da sind, die es zu fordern befugt sind. Das Geld ist kein seidenes Netz, kein Schlößchen werth; wer erst loswinden und aufschließen muß, findet gemeinhin die nämliche Schwierigkeit beim Herzen.

Ich klagte mich bei Benjamin an, daß ich, weil er das Schlagen gewohnt gewesen, ihn nicht zu unserm Vertrauten in Vorschlag gebracht hätte. – Ich verwies ihm alles, was ihm in[70] der Geschichte vom Hühnerei und Judenjungen zu verweisen war, und nun fing ich an: Ersteige Berge und schaudre nicht vor Thälern! Sey Mann, sey Minens Bruder und der meinige! Ich habe dir nicht zugetraut, was ich heut in dir gefunden.

Hiemit weiht' ich ihn zu unserm dritten Blatte ein, das bei jeder ehrlichen Liebe vor der Hochzeit seyn muß, sobald die Sache nicht eins, zwei, drei zu Ende ist.

Ich. Denk an Gott, an Mine und an deinen Bruder!

Benjamin. Ich werd', ich werd', ich werd' an Gott denken, an Mine und an dich!

Wir gaben uns die Hand und sahen gen Himmel.

Benjamin brach auf und ich gab ihm noch einen heißen Kuß für Minen mit. – Benjamin ritt, ohne Abschied von seinem Vater zu nehmen, davon.

Da ich ins Zimmer trat, wo die Gesellschaft war, fiel mir die Angst des alten Herrn in alle fünf Sinne. Er schlich sich an mich und brannte zu wissen, ob Benjamin schon weg wäre? – Obgleich sein so unbändiger Stolz, welcher dieses Angstfeuer angesteckt hatte, eine so schleunige Löschung nicht verdiente, so konnt' ich's doch nicht über mein Herz bringen, den Herrn Candidaten so lichterloh brennen zu sehen. Er war der Vater meiner Mine. – Er konnte wahrlich das Gesicht nicht so verziehen, wenn ihn das Zipperlein plagte und er dem Nicolaus Hermann leiblich ähnlich war, als jetzt, da er befürchtete, sein Sohn würd' ihn verdunkeln. Eben darum hatt' er auch den Benjamin aus dieser Gegend so weit entfernt. Wie dieß seine Schwester, nachdem Benjamin vollends der Vertraute unserer heiligen Liebe geworden, bedauerte, wie sehr ichs zu bedauern fand, darf ich nicht bemerken, da es sich, wie vieles in dieser Geschichte, von selbst versteht.

Um mir Zaum und Gebiß in den Mund zu legen, sprach er gestern, wie meine Leser es sich erinnern werden, von seinem Sohn[71] als von einem angehenden Präpositus. Wie sehr ward sein Stolz bestraft! – Ich konnt', um aufrichtig zu seyn, mich des Lächelns nicht enthalten, da ich sah, wie der Herr Candidat mit seiner gestrigen falschen Münze angehalten ward, die ihm auf der Stelle confiscirt wurde. – Heute hätt' ich überlaut lachen müssen, allein ich konnt' es nicht, weit eher hätt' ich mich ärgern können.

Ich sah und hörte den Herrn v. G. unwillig, ohne zu wissen, was ihn unwillig gemacht; endlich erfuhr ich, daß es darum wäre, weil der Herr Candidat Hermann mein Schlafgesell gewesen. Feuer und Wasser, Schuld und Unschuld, hört' ich ihn sagen!

Er ordnete an, daß ich die letzte Nacht durchaus mit seinem Sohne schlafen sollte; auch Gottfried, der unser Begleiter war, mußt' in dieß Zimmer. Dieß Zimmer, sagt' er, heißt Königsberg, und ihr müßt so thun, liebe Reisende, als ob ihr schon an Ort und Stelle wäret. Die Frau v. G. hatte verschiedene Einwendungen wider diese Anordnung; indessen kam sie nicht zum Wort, und die Einrichtung des Herrn v. G. ward ganz pünktlich befolgt.

Gottfried brachte mir, sobald wir nur in Königsberg, oder in unserm Schlafgemach waren, von meiner Mutter viele Grüße und einen zweigliedrigen Segen; auch versicherte er mich hoch und theuer, daß er un möglich von hinnen ziehen können, ohne der Frau Pastorin, der Mutter seines zweiten Herrn, aufzuwarten. – Es kam mir vor, daß Gottfried sehr geweint hatte, und wie konnte dieß fehlen, da er von den Ermahnungen einer Pastorin kam? Eine schriftliche Instruction schien er so wenig als der Conversus zu haben, allein man sah dem ehrlichen Gottfried einen geheimen Auftrag an. Ich war inzwischen viel zu sehr ein Sohn meines Vaters, um deßfalls mit Gottfried eine Untersuchung anzustellen. – Mein Reisegefährte und ich gingen zu Bett, als wenn wir wirklich schon unsern Stab in ein fremdes Land gesetzt hätten.[72] Wie gefällt's dir hier? fing er an. Wie in Curland, erwiedert' ich, es ist überall Gottes Erdboden.

Schon mehr als ein- und zweimal ist auf den vorigen Blättern an Königsberg gedacht, auch hab' ich bemerkt, wie dieses der Ort unserer Bestimmung war, welches beide Väter abvotirt hatten; indessen war es nur ein Interlocut, die Definitivsentenz sollte nachfolgen – wenn wir unsern Vätern von unserm akademischen Leben zu Königsberg in Preußen einen getreuen Bericht würden eingesandt haben.

Es war unter der vorigen Regierung auf der Königsberg'schen Akademie auch Alexander und Darius gespielt und ein grausam lächerlicher Streit zwischen Pietisten und Orthodoxen geführt worden. Nicht bloß Theologen, sondern auch Juristen und Mediciner hatten sich werben lassen. – Es waren Presbyterianer und englische Kirche, Pilatus und Herodes, Whigs und Tories. – Dieß veranlaßte überhaupt ein kurzweiliges Gespräch über den Pietismus und Inpietisums, und hiebei ward eines curländischen Theologen Bedenken vom Pietismo in drei Abschnitten betrachtet, mit einer Vorrede von Erdmann Neumeister. Hamburg, bei Philipp Hertel, im Jahre 1737, zum Grunde gelegt. Dieser curländische Theologus oder Bedenker soll Pastor Johann Wilhelm Weinmann seliger gewesen seyn. Er hat in Fragen und Antworten die Pietisten angegriffen, indem er nämlich selbst fragte und selbst antwortete, und so, wie's oft sehr klüglich in dergleichen Fällen zu geschehen pflegt, so war auch hier die Antwort eher als die Frage fertig.

Die sechsundsiebenzigste Antwort auf die sechsundsiebenzigste Frage des ersten Abschnitts ließ den Herrn v. G. und meinen Vater herzlich lachen.


Frage.

Hat sich denn der Pietismus auch in Curland einnisten wollen?


[73] Antwort.

(Ich lass' einen großen Theil dieser Antwort unangeführt, damit meine Leser desto besser das Ende fühlen mögen.) – – de externis tantum, non autem de occultis, judieat ecclesia.

Als ob, sagte mein Vater.

Ja wohl, antwortete Herr v. G.

Eine Stelle aus der Vorrede des mehr besagten Grundtextes wider die Pietisten, wo der Vorredner Neumeister noch am säuberlichsten mit dem Knaben Absalon verfährt.

»Doch auch ihre (der Pietisten) Tugenden will ich nicht verschweigen. Es preist sich an ihnen die Gottseligkeit, wenn sie nämlich aus ihr ein Gewerbe machen. Die Liebe zu Gottes Wort und geistlichen Büchern, denn sie lassen eine unzählige Menge Bibeln, Arnds wahres Christenthum und andere Schriften drucken, ihren Gewinnst damit zu treiben. Die Liebe gegen den Nächsten, ihn von den Beschwerden des Seinigen zu befreien und sich selbst damit zu belustigen. Die brüderliche Liebe gegen ihre heiligen Schwestern. Die Selbstverläugnung, da sie sich verläugnen lassen, wenn sie von ihren Schuldnern gemahnt werden. Die Kreuzigung des Fleisches, sonderlich bei gebratenen Hasen, die in Form eines Kreuzes in der Schüssel liegen. Die Mäßigkeit beim ungarischen Wein. Die Keuschheit auf dem Krankenbette. Die Freigebigkeit, sie andern zu empfehlen. Die Gutthätigkeit für ihren Bauch. Die Genügsamkeit, wenn alles bei ihnen überläuft. Die Dienstfertigkeit, ehrliche Männer aus Amt und Dienst zu bringen. Die Demuth, zu knien, wo es nicht nöthig ist. Die Vorsichtigkeit, ihre Bosheit nicht an den Tag zu bringen. Die Geduld, wenn es mit ihren Tücken nicht recht fort will. Die Beständigkeit in ihrer Heuchelei. Die Einträchtigkeit, da sie alle eines Sinnes sind, diejenigen, die nicht von ihnen sind, zu verleumden,[74] zu schänden, zu verfolgen. Der Gehorsam, den sie ihren eigenen Lüsten leisten.«

Es war allerliebst anzusehen, wie sich Herr v. G. und mein Vater bei dieser Verlesung geberdeten.

Als ob, sagte mein Vater. Ja wohl, antwortete Herr v. G. Es ward bei dieser Gelegenheit eine Geschichte folgenden Inhalts eingeschaltet.

Eine Person weiblichen Geschlechts, die ihrer gesegneten Umstände wegen Gewissensschmerzen empfand, und eben darum in den andächtigen Erquickungsstunden nach Trost liebäugelte, weil sie Pein in dieser Flamme litt, hörte in diesen pietistischen Zusammenkünften ohne End' und Ziel vom verkehrten Herzen reden. Sie kam nieder, und siehe da! ein Kind mit einem verkehrten Herzen.

Es hat dieses Kind (nach dem Bericht des Candidaten, der diese verkehrte Herzensgeschichte von Universitäten mitgebracht) nur drei Tage gelebt. Seine Mutter folgt' ihm, und zwar ebenfalls nach drei Tagen, von diesem Todestage an gerechnet. Sie verbat indessen sorgfältig im letzten Willen alle Besichtigung nach ihrem Tode, um nicht durch ihr eigenes noch ein verkehrtes Herz mehr ans Tageslicht zu bringen.

Herr v. G. erzählte diese interimistische Geschichte. Ich konnte, fuhr er fort, dem Candidaten nicht besser antworten, als durch eine gleichmäßige Geschichte von einem Jagdhunde, der sich die Beine abgelaufen hätt' und ein Dachs geworden wäre.

Und um dem Herrn Candidaten mit dieser Herzensgeschichte keinen Heller schuldig zu bleiben, fügt' ich noch vom Paradiesgärtlein den Umstand hinzu, daß dieß Werkchen oft und viel in Feuersgefahr gewesen; allein es verbrannte nicht nur selbst nicht, schrie ich, sondern es besprach auch das Feuer; es war ebenso gut als ein halb Dutzend Feuerhaken und ein Dutzend Schlangenspritzen,[75] und ist also dieß Paradiesgärtlein das wohlfeilste Recept wider Feuersgefahr. Probatum est – –

Der curländische Bedenker nimmt sich die Freiheit, im ersten Abschnitt seines katechetischen Unterrichts eine historische Erzählung vorauszusenden, was für Unruhe der Pietismus in der evangelischen Kirche von Anfang bis zur jetzigen Zeit erweckt, und da sind viele Höfe, Städte und Flecken, wo diese Krankheit gewüthet und nicht der Kinder in der Wiege verschont. Auf dieser Reise kommt er glücklich und wohlbehalten nach Königsberg und ruft ach und wehe!

Was würd' er aber jetzt rufen? sagte Herr v. G.

Der Herzenscandidat hatte versichert, der jetzige König von Preußen hätte das ganze alte Testament durch dem Codicem Fridericianum abgeschafft und das neue Testament durch eine Instruction verkürzt.

Als ob, sagte mein Vater.

Ja wohl, sagte Herr v. G.

Und das war das letztemal, daß ich als ob und ja wohl von ihnen hörte.

Die Gewohnheit der Pietisten, wo sie stehen oder liegen oder sitzen, die Hände zu kreuzen und laut zu beten, brachte den Herrn v. G. und meinen Vater aufs Gebet.

Man kann wohl, sagt' er, wie Diogenes, überall essen, allein nicht überall beten.

Warum? erwiederte mein Vater. Ist Gott nicht überall?

Herr v. G. Wenn Sie mir so kommen, Freund, so komm' ich Ihnen so. Zugegeben, Gott ist überall, allein wir sollen an Gott glauben; durchs Gebet thun wir mehr, wir reden ihn an. – Thun Sie das gegen irgend jemand, von dem Sie nur glauben, daß er da ist?

Pastor. Gott ist nicht irgend jemand.

Herr v. G. Wenn Sie reden, müssen Sie sehen – nicht?

[76] Pastor. Der Blinde spricht, ohne zu sehen, und sind wir mehr in diesem Verhältniß?

Herr v. G. Der Blinde greift mit der Hand, eh' er spricht, und das ist ihm anstatt des Sehens.

Pastor. Und ist Gott nicht handgreiflich – ist er fern von uns, leben, weben und sind wir nicht in ihm?

Herr v. G. Gott ist ein Geist und nicht so handgreiflich, als dem Blinden der Jemand, den er zur Rede stellt. Das Sehen ist von der Anrede unzertrennlich. Wer uns nicht ansieht, wenn er mit uns spricht, was sagen wir von dem? Um Ihnen mein Glaubensbekenntniß auf einmal abzulegen: wenn ich mit jemand reden soll, muß ich ihn leibhaftig sehen; an Gott glaub' ich, und ich kann ihn also nicht anreden.

Pastor. Wir beten, um Gott und an Gott desto fester zu glauben. – Glaube und Gebet sind sich so nahe verwandt.

Herr v. G. Lieber Pastor! man nennt oft den einen Seher, der ohne zu sehen sich einbildet, daß er sehe. Das sind Sie, mit Ihrer Erlaubniß, über diese Lehre. Dem Glauben ist das Wünschen angemessen. Wünschen kann ich also, beten aber nicht!

Pastor. Wünschen Sie sich nicht, was Sie von oben herab beten, was Sie von Gott bitten?

Herr v. G. Recht, Pastor! allein ein Wunsch ist nicht ein Gebet. Lassen Sie uns ins gemeine Leben gehen. Wenn ich in Gesellschaft sage, ich wünsche herzlich, daß Gott meiner Schwester helfe; wer findet dieß nicht wohlanständig, wer nicht brüderlich? Sie wissen doch, meine arme Schwester kann sich nicht nach dem Wochenbette erholen. Ich fürchte, ich fürchte! – Das Söhnlein christlicher Eltern ist vorausgegangen und die Mutter wird ihm folgen!

Pastor. Eine würdige Frau.

[77] Herr v. G. Ein gutes Weib, gelt! Wenn ich, sagte ich, wünsche von meinem ganzen Herzen, daß Gott meiner Schwester helfe: Sie würden mit wünschen, Pastor.

Pastor. Von Herzen – der liebe Gott helf' ihr!

Herr v. G. Wenn ich aber in einer großen Gesellschaft die Hände falte und wie aus der Pistole anfange: lieber Gott! du hilfst, wenn nichts mehr helfen kann; ich bitte dich, hilf meiner Schwester, der armen Kranken, die dir schon ihren Sohn geopfert hat. Sie liegt da in deiner Gewalt! Ich wette, es steht alles auf oder – oder – oder –

Pastor. Woher und warum? Vielleicht, weil wir nicht gern mit dem lieben Gott in Gesellschaft sind? Weil wir, wenn ich so sagen soll, manchmal unter uns seyn wollen? Ei in der Kirche?

Herr v. G. Das nämliche, Pastor! Euer einer kann zwar für meine Schwester beten, aber sollte ich's in meinem Kirchenstuhl? – Pastor, das nämliche! auf ein Haar das nämliche! Es geschieht zuweilen, daß einer von der Gesellschaft in Privathäusern sich auf einmal gerade stellt, ein Paar Handschuh anlegt und allerseits anfängt, wie es bei meinem Schwager v. W. nichts neues ist; allein wie ist Ihnen dabei? – Wenn aber dieser Redner feierlich eben hereintritt und seine Rede fein züchtig anhebt? – Man schämt sich, wenn man eben ein Glas in der Hand hat, man stellt es unvermerkt an einen entlegenen Ort des Zimmers, sobald man allerseits hört, man sieht den geputzten Redner, wenn man ihn auch noch so gut kennt, für einen Fremden an und hat nicht das Herz sich geradehin, sondern ehrfurchtsvoll an ihn zu wenden. Dem Vater geht's so mit dem eheleiblichen Sohn. Der Sohn wird Vater, der Vater Sohn, wenn der Sohn redet und der Vater hört. Man sieht den Saal als eine Kirche an und den Sohn auf der Kanzel. Der Redner hat's vollbracht, allein man[78] trägt noch Bedenken, sogleich ein Glas Wein mit ihm zu versuchen. Man ist im Handgriff, den Hut vors Gesicht zu halten, womit man in unserer Zeit den Anblick eines heiligen Orts bezeichnet.

Pastor. Also nur Anstand ins Zimmer gebracht, nur heilige Hände, und Sie können für Ihre würdige Schwester beten, die Sie ein gutes Weib zu nennen beliebten.

Herr v. G. Pastor! wenn ich ganz rein heraus sagen soll, daß Euch das öffentliche Gebet kleidet, fließt aus dem frommen Vorurtheil, daß Ihr in Gottes Dienst seyd. – Man glaubt, Ihr seht Gott den Herrn, wenn Ihr die Augen verdreht, Ihr seht ihn, wie man sieht. – So lange wir aber Gott nicht sehen, wie man sieht, sollten wir mehr als wünschen.

Pastor. Redet man im Eifer nicht mit sich selbst?

Herr v. G. Mit sich selbst zwar –

Pastor. Auch mit andern – sogar mit leblosen Dingen.

Herr v. G. Im Eifer, oder in Redefiguren?

Pastor. Auch in Entzückung, in Verlegenheit. Christus verschließt daher das Gebet ins Kämmerlein, weil uns da niemand hört. Die Idee ist sehr natürlich, daß, wenn uns kein Mensch hört, Gott uns höre. – Dein Vater, der ins Verborgene sieht, spricht Christus, wird sich öffentlich an dir offenbaren. Das Gebet bringt uns den Glauben, daß Gott sey, fast bis zum Schauen. Das Gebet ist der Spiegel, durch welchen wir am dunkeln Ort Gott sehen! – Ihn sehen! – Wenn aber kommt das Vollkommene, wird das Stückwerk aufhören. Wenn mein Gebet eintrifft, ist's mir so, als war ich entzückt bis zum Unaussprechlichen. – Es ist die Probe, daß mein Glaube an Gott richtig gerechnet und die wahre Summe herausgebracht. Christus, der Herr, kam unserer Schwachheit zu Hülfe. Auch was ohne unser Gebet geschehen wäre, wenn es auf unser Gebet geschieht, hilft unserer Schwachheit auf. – Kurz, das Gebet setzt den Menschen mit Gott[79] in Verbindung! – Wer erzählt nicht gern, was er gesehen und gehört hat und was geschehen ist? Wie viel hört, sieht man und läßt geschehen, bloß um es erzählen zu können? Und wer hat nicht wenigstens etwas (mancher hat viel), so er vor seinem vertrautesten Freunde, seinem Weibe, seinem Kinde verbirgt?


(Der Herr v. G. lächelte, ich aber dachte an das Land, wo man früher, als in Curland, Spargel ißt, den Wein bei der Quelle hat und lange Manschetten trägt, ich dachte an den Melchisedech und –)


Mit sich selbst kann man nur kurz sprechen. Das vor sich muß noch kürzer im gemeinen Leben, als nach den Regeln auf dem Theater seyn. Eigentlich sollte es nur in Schreien, in Aufwallungen, in Sylben bestehen.

Herr v. G. Gott weiß alles, warum Zeitverlust?

Pastor. Ist es Zeitverlust, sich mit Gott bekannt machen, mit ihm umgehen, mit ihm reden?

Herr v. G. Ohne daß er antworte?

Pastor. O, er antwortet! Laut schallt es in der Seele! laut –

Herr v. G. Solch ein Hörer hört aber, was tausend andere nicht hören. Er ist mit dem Seher von einerlei Art.

Pastor. Die Erfüllung unseres Gebets –

Herr v. G. Die ohn' unser Gebet gekommen wäre. – Ich habe auf meinen Gütern einen alten Kerl, der, wenn er für seinen Fritzen betet, ihn dem lieben Gott auf ein Haar beschreibt. Segne meinen Sohn, den Friedrich Emanuel, Goldschmied in Mitau, nahe bei der Kirche, oben im Stübchen zur rechten Hand. – Freund, so ist all unser Gebet! Wir sagen dem lieben Gott, was er besser weiß; wir sagen ihm alle, daß unser Sohn ein Goldschmied in Mitau sey, daß er Friedrich Emanuel heiße, nahe bei der Kirche oben im Stübchen zur rechten Hand wohnhaft. Mein ehrlicher Franz macht's besser! Der kauft sich ein Gebetbuch,[80] das er in seinen Kasten verschließt, und wenn er des Abends schläfrig ist, klopft er dreimal an den Kasten und sagt Amen! »Wie das, Franz?« Ich denke, sagte er, es ist dem lieben Gott eins, wo er es herausnimmt, ob aus dem Kästchen oder aus dem Herzen, wenn nur das Amen dabei ist. – Lieber Pastor, Gott bedarf unseres Gebets nicht.

Pastor. Aber wir bedürfen des Gebets, wir! Wir sollen alles mit Danksagung empfahen, wir sollen nicht vergessen, daß alles von Gott komme!

Herr v. G. Er ist der Herr Himmels und der Erden! Könige wollen Bitte und Dank! Gott der Herr –

Pastor. Gebet und Dank von anderer Art! Unser Lallen, unser Verstummen ist ihm mehr als ein studirtes Geplärr! Solch Gebet und Dank, als wir Gott widmen, verstehen Könige und Fürsten nicht. – Es ist mir unausstehlich, wenn meine Amtsbrüder sich pharisäisch ein langes Gebet concipiren und es sich zehn-und mehrmal in ihrer Studirstube vorsumsen, als ob der liebe Gott in ihrer Studirstube nicht wäre, und als ob sie ihn bloß in der Kirche auf einen Panegyrikus eingeladen hätten. Christus, der uns eine Vollmacht zu beten gab, und es uns in seinem Namen zu thun nachließ, will, daß wir als Kinder zum Vater treten. – Hier liegt die ganze Lehre vom Gebet. – Hochtrabende Gebete mit allen göttlichen Titeln! studirte Gebete! wie sehr dieser Idee entgegen! – Der Mann betet auf der Kanzel so vortrefflich, heißt mit andern Worten: der Mann ist ein falscher Spieler!

Herr v. G. Ist's aber nicht kindlicher, sich in Gottes Willen ergeben und ihm alles anheim zu stellen?

Pastor. Das ist Gebet. Das Vater unser ist bis auf die bescheidene Bitte: Brod auf heute, Ergebung in den göttlichen Willen. – Es ist ein heidnischer, allein ein überdachter, großer[81] Vorschlag, »wenn ein anderer betet, daß er seinen Sohn nicht verlieren möge, so bitte du, daß du dich nicht weigern oder fürchten mögest, ihn zu verlieren.« – Der Christ braucht nicht von Heiden zu lernen. Sein Herr und Meister lehrt es ihn. Wer so stark ist, daß er nicht Worte braucht, bete mit der Seele, Geist zu Geist! Schwerlich wird jemand, der von Jugend auf sagen gelernt: Abba, mein Vater! sich ohne Worte behelfen. – Ein Wort, ein Wort, sagt man, ein Mann, ein Mann; allein Lebens- und Sterbens wegen schreibt man's doch auf. – Was dieß Schriftliche beim Menschen ist, das ist das Gebet bei Gott, es geschehe, wie die Theologen sagen, mit dem Herzen allein, oder mit Herz, mit Hand und Mund!

Herr v. G. Gott ist ein Geist, und die ihn anbeten, müssen es in Geist und in Wahrheit.

Pastor. Luther sagt von der Taufe: Wasser thut's freilich nicht. – Worte thun es auch beim Gebet freilich nicht. Das Gebet selbst, was ist's ohne Handlungen, ohne gute Gesinnungen? Gehe hin und versöhne dich mit deinem Bruder, und dann komm und bete, empfinde das innere Bewußtseyn dieser guten That, und dieses Bewußtseyn opfere Gott dafür, dank ihm! Warum sollten wir aber auch von einer so theuern Gabe, als die Sprache ist, Gott nicht die Erstlinge opfern? Es gibt ein gewisses herzliches, kindliches Denken, das durchaus in Worte ausbricht. – Wir sind und bleiben Menschen! das weiß der liebe Gott, der Engel kennt und Menschen kennt. – Er erlaubt uns gern, ein Wörtchen mitzureden, wenn sich unser Geist zu seinem Schöpfer, dem Geiste der Geister, emporschwingt. – Ich habe einen Stummen gekannt, der alle Morgen und alle Abend an den lieben Gott schrieb.

Herr v. G. Pastor, da wollt' ich drauf wetten, das hat der liebe Gott recht gern gesehen.

[82] Pastor. Weil eine kindliche Einfalt darin ist.

Herr v. G. Jeder wird seines Glaubens leben! Vielleicht sollten wir nichts mehr als das Vater unser beten, wenigstens ist es das allervollkommenste Gebet, wie ihr Herren selbst sagt. Warum sollt' ich etwas, das weniger vollkommen ist, vorziehen?

Pastor. Das nicht; wer kann aber das Vater unser so oft beten und mit Andacht? – So wie man Linien mit Bleifeder zieht, damit die Kinder gerade schreiben, so Christus mit dem Vater unser. Ich spare das Vater unser, bin darauf geizig und thue mir ordentlich damit was zu gut. – Alle Kubache haben mehr Schaden als Nutzen gestiftet. Der gemeine Mann wird durchs Gebet aus dem Herzen klug, er lernt sich fassen, und wenn wir Volksgebete sammeln könnten, Herzensgebete guter Menschen, ich sage, wenn wir's könnten – wie vortrefflich würde diese laute e Milch schmecken, wie wohl uns bekommen! – Ein solch naives Buch wäre noch nicht in der Welt. – Es könnte nur bloß vom Himmel fallen – um menschlich zu reden. Gott müßt' es aus sei nem himmlischen Archiv herausgeben. Es wäre das beste Lehrbuch für Priester und Leviten, die vor Gelehrsamkeit nicht zu Gott kommen können. – In Wahrheit, man kann von den meisten Gelehrten sagen, daß vor Rauch nicht Feuer zu sehen ist!

Meine Wünsche werden indessen Wünsche bleiben, weil Herzensgebete durchaus ins Kämmerlein zu Hause gehören.

Es fielen außer diesem piissimo desiderio noch mancherlei pia desideria vor. Es ward stückweise von Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung gehandelt – wovon ich aber für jetzt nachzuhandeln bedenklich finde.
[83]

Quelle:
Theodor Gottlieb von Hippel: Lebensläufe nach aufsteigender Linie nebst Beilagen A, B, C. 3 Teile, Teil 2, Leipzig 1859, S. 1-84.
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