[Es ging verirrt im Walde]

[131] Es ging verirrt im Walde

Ein Königstöchterlein

Laut weint sie, daß es schallte

Tief in den Wald hinein.


An meiner Krone blinken,

Schmaragd und auch Rubin,

Um einmal nur zu trinken,

Gäb' ich sie gerne hin.


Da schwebt zu ihrem Haupte

Ein edler Falke bald,

Der ihr die Krone raubte

Und tiefer flog zum Wald.


Sie folgt ihm, hoch in Lüften

Trägt er die Krone hell

Bis wo in dunklen Klüften

Erbraust ein kühler Quell.


O Falke Luftgeselle

Nimm hin die Krone mein,

So kühl als diese Quelle

Mag keine Krone sein.


Es braust so wonnig unten

Tief in der Felsen Schoß,

Von Schatten still umwunden,

Ruht sie auf weichem Moos,


Die Locken aufgewunden

Die zarten Glieder bloß,

Erkühlt sie sich da unten

Tief in der Felsen Schoß.


Sie ließ sich an den Zweigen

Hinab ins kühle Bad,

Bald will sie rückwärts steigen,

Doch zeiget sich kein Pfad,[132]


Sie streckt wohl nach den Zweigen,

Mit Macht die Arme hin,

Doch keiner will sich neigen,

Zur Königstochter hin.


Wer kann heraus mich heben,

Weint da die holde Magd,

Gern wollte ich ihm geben,

Mein Ringlein von Schmaragd,


Wie sie die Hände ringet

Das schöne Ringelein

Ihr von dem Finger springet,

Tief in den Quell hinein.


Sie sucht und findt in Klippen

Ein Horn von Gold so rein,

Und setzt es an die Lippen,

Es schallt zum Wald hinein.


Die Felsen laut erklingen,

Und laut von Stein zu Stein

Die muntern Töne springen,

Ums Königstöchterlein.


Die Zweige sich auch neigen

Der edle Falke wiegt,

Sich fröhlich auf den Zweigen

Die er hinunter biegt.


Dann hört sie Worte schallen,

Wer bläst auf meinem Horn,

Das gestern mir gefallen

Hinab zum Felsenborn.


Wer hütet mich vor Schande,

Weint laut das Töchterlein,

Wer giebt mir die Gewande,

Wer schützt die Ehre mein,[133]


Mich liebte einst ein Knabe

Der Züchten wohl verstand,

O daß ich ihn nicht habe,

Er gäb' mir mein Gewand.


Die Augen zugebunden,

Der Knabe vor ihr stand

Der Knabe ist gefunden

Er reicht ihr das Gewand.


Verloren ist die Krone,

Und auch das Fingerlein,

Ohn' Ringlein und ohn' Krone,

Muß sie das Kleinod sein.


Da ruhte der Geselle

Wohl bald in ihrem Schoß,

Im Herzen ward's ihm helle

O mach die Binde los.


In ihr Gewand geschwinde

Hüllt sich das holde Kind,

Dann löst sie ihm die Binde,

Läßt nicht die Liebe blind.


Da schallt es in den Buchen

Da hallt es am Gestein,

Der König kommt zu suchen,

Das Königstöchterlein.


Nun rege deine Hände,

Spricht da das Töchterlein,

Wenn uns der König fände

Müßt' es gestorben sein.


Der Falke nahm die Krone,

Der Quell das Fingerlein,

Der Jäger nimmt zum Lohne

Das Königstöchterlein.[134]


Es nahm der Jagdgeselle

Sein Horn und sein Geschoß

Und trug die Jungfrau schnelle

Zum hohen Felsenschloß.


Auf Felsen hoch ich wohne,

Der Falke und die Braut

Am Turme hängt die Krone

Sein Nest hineingebaut.


Quelle:
Clemens Brentano: Werke. Band 1, München [1963–1968], S. 131-135.
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