Belehrendes Gleichniß

[261] Wie wir, wenn wir gebohren werden,

Den gantzen Zustand unsrer Erden

Schon sattsam zugerichtet finden;

So werden wir, wenn wir erblassen,

Sie in demselben Zustand lassen:

Die Welt wird nicht einmahl gewahr, daß wir verschwinden.

Wie hoch, wie nöthig wir uns schätzen;

So finden sich, an unsrer Stelle,

(Recht wie im Wasser eine Welle,

Mit neuer Kraft, sich hebt und steigt,

So bald die erste sich zum Untergange neigt)

Doch immer neue gnug, die unsern Platz ersetzen.


Wenn wir nun alles lassen müssen,

Warum sind wir denn nicht geflissen,

Den kurtzen Durchgang einzurichten,

Im fröhlichen Gebrauch der Sinnen, nach den Pflichten,

Die der, so alles schuf, wenn man es nur bedenckt,

Uns in die Seelen engesenckt?


Ob wir nun, da wir also handeln,

Hier, wie wir wandeln sollten, wandeln,

Da wir den Wunder-Bau der Welt so wenig schätzen,

Darüber will ich dich jetzt selbst zum Richter setzen.


Wenn einst ein grosser Herr, zu seiner Ehre,

Hätt' einen Pallast aufgeführt,

Und daß derselbige mit aller Pracht geziert,

Und Wunder-schön von ihm geschmücket wäre,

Und er erlaubet' etwan Zween,

Des Pallasts Herrlichkeit zu sehen;[262]

Der eine nun bewunderte die Pracht,

Vergnügte sich, er säh' bald vorwärts, bald zurück,

Es gäb', auf jeden Schritt, sein aufgeräumter Blick

Mit frohen Minen zu verstehn,

Wie er die Weisheit und die Macht

Des Herrn, der alles Wunder-schön

Geordnet und erbaut, nicht oft gnug zu erwegen,

Nicht gnug zu schätzen, zu verehren,

Noch zu erhöhen wüst': Der andere hingegen

Säh' immer unter sich; Pracht, Ordnung, Glantz und Schein

Mit allem Reiz, nähm' seinen Blick nicht ein,

Als den er bloß allein

Beschäfftigt', um ein wenig Sand,

Der auf dem Boden gläntzt, zu suchen, und die Hand,

Ihn aufzuheben, auszustrecken,

Und ihn bey Kleinigkeiten einzustecken,

Ob es ihm gleich nicht unbekannt,

Daß man, beym Ausgang, ihm von dieser seiner Bürde

Nicht das geringste lassen würde:

Sprich du nun selber, wessen Weise,

Den schönen Pallast durchzugehn,

Gereicht von beyden doch am meisten dem zum Preise,

Der ihn so herrlich auferbauet?


Auf denn, ihr Sterblichen, die ihr hier Wand'rer seyd,

Erweget, was ihr thut! besinnet euch! beschauet,

Auf eurer Wanderschaft, mit Lust, die Herrlichkeit

Des Pallasts dieser Welt! Lasst Sand und Erde liegen,

Und sucht das Würdigste, die Seele, zu vergnügen.


Quelle:
Barthold Heinrich Brockes: Auszug der vornehmsten Gedichte aus dem Irdischen Vergnügen in Gott. Stuttgart 1965, S. 261-263.
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