VII.

[99] Adam Mensch waren einige Tage in ziemlich blödem Einerlei hingegangen. Er hatte die physiologischen Nachwirkungen jener durchgenossenen Wein- und Spielnacht über sich ergehen lassen müssen. Eine unleidliche Gemüthsdepression war jetzt über ihn gekommen. Eine peinliche Schwere hatte sich seiner bemächtigt, die wie ein unaufrührbarer Bodensatz auf dem Grunde seiner Seele lag. Eine Fülle von Gedanken und Gefühlen stieg in ihm empor, aber jede Einheitlichkeit fehlte und jede Neigung, die Anläufe und Fragmente zu packen, zu vertiefen, zu erschöpfen, zu vollenden. Unheimlich scharf schaute er zeitweilig in Welt und Leben hinein, und die Nachtseiten des Daseins erschlossen sich ihm in zermalmender Klarheit. Er fühlte, wie ungeheuer weit er davon entfernt war, ein Kind der Stunde sein zu können, ein von der mechanisch-regelmäßigen Erfüllung einfacher Pflichten befriedigter Mensch. Er sehnte sich nach einer neuen Umgebung, nach neuen Verhältnissen, die ihn ganz herausforderten, die im Stande wären, ihn ganz hinzureißen. Er sehnte sich nach einem großen Schicksal, nach vollen,[100] starken, runden Gefühlen, nach einer gewaltigen Freude, einem erschütternden, entscheidenden Schmerze. Alles in ihm war weit und verworren, Nichts eng, klar umrissen. Und doch bebte er instinctiv vor einem großen Erlebniß zurück. Er wußte nicht, in welcher Gestalt er es sich vorstellen, erwarten sollte. Aber er wußte auch zugleich, daß er bei dieser nervösen Ueberreizung, bei dieser pathologischen Abhängigkeit von seinem Organismus einem bedeutenden Schicksale kaum gewachsen sein würde. Rathlos stand er vor sich, hülflos tastete er an sich herum, und schneidend äußerte sich ihm die marternde Hoffnungslosigkeit seiner Generation. Seiner Generation –? Adam sagte sich sehr klar, daß es unter seinen Altersgenossen verhältnißmäßig nur Wenige gab, die seiner Art verwandt waren. Aber diese Wenigen bedeuteten die ursprünglich geistig Bevorzugten. Ihre Kräfte fanden nur keine Sphäre, in der sie sich zwanglos bethätigen konnten. Das Sichabfinden, Sichanpassen, Sichhineinpressen oder Sichhinaufschrauben ekelte ihn an, weil es ihn unnatürlich dünkte. Ja! Er fühlte unheimlich deutlich, daß er krank, unglücklich war ... wie so Mancher, mit dem ihn das Leben in seinen Studienjahren zusammengeführt hatte. Verschiedene Mitglieder des Kreises, in welchem er damals eine Zeit lang verkehrte, hatten sich abgewandt, wie er nachher gehört, waren ein Stück zurückgegangen, waren zu Kreuze gekrochen, arbeiteten in enger Umgrenzung, mit müden Herzen. Die Schlechtesten[101] waren sie gewiß nicht, aber den Zwang, ihren Naturen bis ins Kleinste hinein treu sein zu müssen, hatten sie in einem geringerem Grade besitzen dürfen. Immerhin nach so viel Drang, so viel Bethätigungsbegehren lebte in ihnen, daß sie sich wenigstens einigermaßen mit dem begnügen konnten, was ihnen zu eigen geworden, wenn es ihnen nur gestattet war, ein klein Wenig ihrem Geiste und Wesen gemäß zu bilden und zu formen. In stillen Stunden der Sammlung ... in Augenblicken, wo Stimmung und Neigung vorhanden waren: zurückzuschauen, der gewesenen großen geistigen Tapferkeit, der stolzen Kampfgewärtigkeit und bewußten Wehrhaftigkeit zu gedenken, befiel wohl auch sie das Bewußtsein, wie vergeblich, wie formlos ihr jetziges Thun, wie schmachvoll ihre Capitulation sei ... Nun! Sie nutzten ihre Kraft ab ... und das war genug. Die Masse regiert, sagte sich Adam, und die große Schlacht wird geschlagen werden. Wir sind auf neuen Wegen zu neuen Zielen. Und doch! Wird Etwas bleiben, wenn das ... also das »Volk« losbricht? Die herrschende Generation der Zukunft entwächst dem vierten Stande. Das werden Alles sehr bornirte Leute sein, aber sie werden dafür oder darum sehr gesund, sie werden sehr nüchtern sein. Ueberreizung, unnatürliche Ueberheizung werden ihnen im Ganzen fremd sein. Blut von unserem Blut –? Geist von unserem Geist –? Dieses Blut ist faul und schwer und dick, und dieser Geist ist morsch und krank und brüchig. Verzichten wir! Leben wir[102] uns aus! Auch so wirken wir, wenn es denn einmal »gewirkt« sein muß – wirken nach natürlichen Gesetzen ... und wenn wir bloß unsere Kleider abtragen und unsere Sohlen ablaufen ... Der Schlag bedingt den Gegenschlag. Aber das soll uns kein Trost sein, soll unser etwa mahnendes »Gewissen« nicht beruhigen. Vielleicht müssen wir uns für das große Zukunftsereigniß aufsparen, unter dem die Erde in Krämpfen erbeben, in fanatischen Zuckungen sich schütteln wird. Wir sind so gut wie ausgehöhlt. Durch Leidenschaften gebrochen, denen wir uns ergeben haben, weil wir nicht wußten, wie wir besser unsere Zeit todtschlagen sollten. Wir waren rathlos geworden, weil wir erkannt, daß unsere Ideale Illusionen gewesen. Eine jede Brust hatte den Kampf gegen die Convenienz, gegen die Tradition gekämpft ... wir hatten nicht gesiegt, aber haben auch nicht verloren. Nun unterliegen wir, weil wir uns haben zu alt werden lassen, um den physiologischen Einflüssen des Alten noch entrinnen zu können. Wir prunken wohl auch ein Wenig mit unseren Schmerzen und noch mehr mit unserer Kraft: brechen, stürzen zu können, energisch sein zu können. Auch jetzt spielen wir noch Komödie. Aber wir wissen doch jetzt zugleich sehr gut, daß wir darauf verzichten mußten, unsere besten Kräfte intakt erhalten zu können, unsere intensivsten Ausstrahlungen wirken zu lassen. Wir trugen den Himmel, das ganze All in der Brust, aber wir bedürfen einer Generation, der sich die Sterne verhüllen,[103] damit sie auf Erden nicht stolpere. Wir werden von der abkühlenden Zeit früher oder später gezwungen, unseren Frieden mit der Welt zu schließen. Aber wir sind doch unterlegen. Wir haben wirken müssen, und Pflichten haben wir erfüllt, obwohl es einmal eine Zeit gegeben hat, wo wir keine Pflicht anerkennen zu dürfen geglaubt. Wir haben scheinbar gehandelt und doch immer nur gelitten. Wir waren Genies im Denken, Fühlen, Entwerfen, Träumen, Dulden. Nun werden die Talente der That kommen, weil sie kommen müssen. Eigentlich bedauern wir sie. Denn wir verstehen sie auch, sie, die für uns kein Verständniß mehr besitzen werden. Vielleicht beneiden wir sie doch ein Wenig. Denn sie athmen in einer reineren Luft, und ein gesünderes Blut rollt durch ihren Leib.

Diese Gedanken und Betrachtungen, diese mehr oder weniger gültigen und richtigen Bruchstücksresultate waren zu dieser Frist auf- und niedergestiegen in Adam. Ungeläufig konnten sie ihm allerdings kaum sein. Er hatte sie, zumeist schon in seiner kleinen Schrift »Das Proletariat des Geistes,« an der er ab und zu einige Seiten schrieb, ausgesprochen.

Merkwürdig, wie wenig er sich eigentlich mit Lydia und Hedwig beschäftigte. Er warf sich diese Gleichgültigkeit, diese Kälte selbst vor. Aber es gelang ihm doch nicht, über sie hinauszukommen. Oefter fiel ihm wohl dieses oder jenes Moment ein, das sich neulich bei dem Souper zwischen Lydia und[104] ihm abgespielt, das sich bei seinem letzten Zusammentreffen mit Hedwig ereignet – aber er mußte im Grunde mehr souverän darüber lächeln, als daß ihm diese Erinnerung ein gewisses Behagen bereitete. Unmittelbar mit den Weibern in Berührung gebracht; durch eine zugespitzte, überdies vielleicht noch etwas außergewöhnliche Situation angeregt, konnte er leicht aufflammen, leicht aus sich herausgehen, seine Natur in ihrer eigenwilligen Art sich äußern lassen. Aber für sich haften, für sich garantiren konnte er nicht. Sobald er aus dem Zwange der besonderen Stunde wieder herausgetretreten, und sobald die nächsten Nachwirkungen vorüber, kehrte er unwillkürlich wieder sehr intim zu sich zurück, lebte er sich sehr nachdrücklich wieder in seine eigene Welt hinein. Er dachte und sprach ja schon in einem Jargon, der ganz schließlich nur ihm selber verständlich war, er gebrauchte Ausdrücke, Bilder, Gedankenverbindungen, operirte mit Anschauungen, die an innerer Bedeutung und selbständigem Curswerth entschieden verlieren mußten, wenn sie zu der glatten, abgetragenen, abgeschabten Sprache der Außenwelt in Beziehung gebracht würden.

Eines Abends hatte sich Adam von einer stilleren, flüssigeren Stimmung in Beschlag nehmen lassen. Stunden eines klaren, kräftigen Denkens waren vorhergegangen. Eine gewisse, nicht gerade ganz triviale Zukunftshoffnung war in seiner Seele emporgewachsen. Und wenn es wahr ist, hatte sich Adam schließlich gesagt, daß es ein Wesensmoment des[105] »Modernen« ist, sich zuerst in gewaltigen, äußeren Fortschritten, in Errungenschaften mehr technischer Natur, darzustellen, so wird zweifellos dieser Zeit wieder einmal eine Zeit der Verinnerlichung folgen. Das Pathologische und Psychopathische unserer Tage wird sich in der Zukunft zum normal Psychischen umwachsen. Man wird eine große Fülle von Vorurtheilen und veralteten Anschauungen zusammenschlagen, wenn die Erkenntnisse der Psychophysik erst Gemeingut größerer Massen geworden sind. Die »Mystik« ist eines Tages vielleicht eine ganz gerechtfertigte Wissenschaft. Denken und Thun, Urtheil und Handlung werden im Geiste einer humaneren Auffassung der Dinge, einer toleranteren Anschauung der Welt und ihrer Verhältnisse ausgeübt werden. Nüchterner vielleicht wird diese Menschheit der Zukunft sein, aber wohl auch maßvoller, aber wohl auch – »gerechter«. Der blutige »Kampf ums Dasein«, dieses Ringen um Leben und Tod unserer Tage, wird gemildert und gesänftigt werden. Erkennen, Ergründen psychischer Gesetze: das ist die Hauptaufgabe der modernen Forschung. Das Neue ist dabei, sich seine Formen zu schaffen, sich sein Nest zu bauen. Wüthende, satanische Stürme werden an diesem Neste noch herumzausen. Aber alle Stürme wird es überdauern. Und einmal wird die Zeit gekommen sein, wo sich das Neue heimisch fühlt in seiner Umgebung. Nicht mehr nach »Wahrheit,« nur noch nach Wahrheiten wird die Menschheit ihre Columbusfahrten unternehmen.[106]

Adam kannte sich viel zu gut, als daß er nicht hätte wissen sollen, daß diese Stimmung sehr bald wieder abgeflossen sein wurde. Er spintisirte da vom Allgemeinen aus ins Allgemeine hinein und dachte kaum daran, sich der Theilnahme an jener wissenschaftlichen Pionirarbeit noch fähig zu erachten. Aber es war seine Art, derartige leichtere, lebhaftere Stimmungen zu irgend einer kleinen, spontanen »That« zu benutzen. Und so kam ihm jetzt der Gedanke, durch einen gleichsam improvisirten, kühn hingeworfenen Brief einmal unmittelbar an Lydia heranzutreten. Wollte er damit das Gedeihen seiner ... Zukunftsernte fördern? War es ihm Bedürfniß, irgendwelche Hoffnungen und Erwartungen auf seine Beziehungen zu Lydia zu setzen? Wollte er bewußt diese Beziehungen pflegen, um eines Tages Vortheile, die sie brächten ... etwa brächten, einheimsen zu können? Diese psychologische Selbstinquisition belästigte ihn schon wieder ein Wenig und fädelte seinen verknoteten Drang auseinander. Und doch fand er sich plötzlich vor seinem Schreibtische sitzen und sich einen mit discretem Moschusparfum getränkten Briefbogen zurechtlegen. Und Adam faselte in seiner, in kühn-coupirtem Stil sich ausgerenkt vergliedernden Epistel so viel zerfahrenes Zeug zusammen, daß es ihn nachher, als er es noch einmal überflog, viel zu geschmacklos dünkte, als daß noch ein Witz dabei herauskäme, wenn es nicht an seine Adresse abgeschickt würde. –

Quelle:
Hermann Conradi: Adam Mensch. Leipzig [1889], S. 99-107.
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