Neunundzwanzigster Gesang

[401] Wie wenn sich beide Kinder der Latona,

Von Widder und von Wage überdeckt,

Zugleich umgürten mit dem Horizonte,

Wie lange dann, von wo im Gleichgewicht

Zenith sie hält, es währt, bis jenen Gürtel,

Die Hemisphäre wechselnd, beide lassen,

So lange schwieg, in ihrem Antlitz Lächeln,

Beatrix, nach dem Punkte unverwandt

Hinschauend, der mein Auge überwunden.[401]

Dann hub sie an: Auch ohne dich zu fragen,

Was du begehrest, red' ich; denn ich sah es

Dort, wo das Ziel von jedem wo und wann ist.

Nicht um vermehrtes Gut sich zu erwerben

(Das wär' unmöglich), nur daß ausgestrahlt

Sein Glanz imstande sei, »ich bin« zu sagen,

Entfaltet' er in seiner Ewigkeit

Nach eigner Wahl und außer Zeit und Schranken

In neuen Lieben seine ew'ge Liebe.

Auch ruhte bis dahin er nicht wie müßig;

Denn Gottes Geist ging, über den Gewässern

Zu schweben, weder vorher aus, noch nachher.

Rein und verbunden traten Form und Stoff

Ins makellose Dasein, wie drei Pfeile

Ein Bogen, der drei Sehnen hat, entsendet.

Und wie in Glas, in Bernstein und Kristalle

Also ein Strahl glänzt, daß von seinem Kommen

Bis zum Durchleuchten keine Zeit vergeht,

So strahlte jene dreigestalte Wirkung

Von ihrem Herrn ununterscheidbar aus,

So daß kein Anfang sich erkennen ließ.

Den Wesen eingeprägt bei der Erschaffung

Ward ihre Ordnung, und die erste Stelle

Erhielten die der reinen Tätigkeit.

Zu unterst kam der bloße Stoff zu stehn;

Inmitten einet Stoff und Tätigkeit

Ein solches Band, daß nie sich's wieder löset.

Wohl schrieb Hieronymus euch von den Engeln,

Daß sie geschaffen sei'n so manch Jahrhundert

Eh' noch die andre Welt in's Dasein trat;

Allein die Wahrheit ward auf manchen Seiten

Geschrieben von des heil'gen Geistes Schreibern,

Und merkst du wohl auf, wirst du's selbst erkennen.

Auch kann es die Vernunft zum Teil begreifen;

Denn, daß solang unwirksam die Beweger

Gewesen seien, kann sie nicht gestatten.

[402] Wo diese Lieben, wann und wie erkoren

Sie wurden, weißt du nun, so daß drei Flammen

Von deinem Wunsche ihre Löschung fanden.

Nicht könnte zählend man so schnell bis zwanzig

Gelangen, als ein Teil von diesen Engeln

Aufwühlte eurer Elemente Grund.

Die andren blieben, und mit solcher Lust

Begannen sie die Kunst, die du hier wahrnimmst,

Daß nimmer sie von ihrem Kreisen lassen.

Es war die maledeite Hoffahrt dessen,

Den du bedrückt gesehn von allen Lasten

Der ganzen Welt, der Anfang dieses Falles.

Die hier du siehst beschieden sich in Demut,

Daß, was sie sei'n nur von der Güte stamme,

Die zum Erkennen also sie befähigt.

Drum wurde durch die Gnade, die erleuchtet,

Und ihr Verdienst gesteigert ihre Einsicht,

So daß ihr Wille völlig nun und fest ist.

Nicht zweifeln sollst du, sondern sicher glauben,

Daß, jenachdem der Wille sich ihr öffnet,

Verdienstlich ist, die Gnade anzunehmen.

Hast du nun meine Worte wohl erwogen,

So kannst du über diese Ratsgemeinde

Auch ohne Hilfe reichlich weiter denken.

Doch weil auf Erden man in euren Schulen

Von der Natur der Engel lehrt, sie eigne

Sich zum Verstehn, zum Wollen und Erinnern,

So will ich weiterreden, daß du rein

Die Wahrheit siehst, die man durch Mißverständnis

Dort unten arg verwirrt in dieser Lehre.

Es wandten diese Wesen, seit begnadigt

Sie durch das Antlitz Gottes wurden, nimmer

Von ihm, dem nichts verborgen bleibt, den Blick.

Drum wird ihr Sehn durch neue Gegenstände

Nie abgelenkt, und weil sie nichts zerstreuet,

Bedürfen sie auch nicht erst des Erinnerns.[403]

Drum träumen drunten wachend, die für richtig

Die Lehre halten, und die sie bestreiten,

Doch liegt im letzten größre Schuld und Schande.

Ihr geht nicht eines Weg's, wenn ihr auf Erden

Philosophiert, so sehr verlockt die Liebe

Zum Scheine, und der Wunsch zu scheinen euch.

Und dennoch wird das hier mit mindrem Zorne

Geduldet, als wenn ihr die Gottesschrift

Hintansetzt, oder ihren Sinn verdreht.

Man glaubt bei euch nicht, wie viel Blut es kostet

Sie zu verbreiten, und wie wohlgefällig

Ist, wer in Demut ihrem Wort sich fügt.

Hervortun will sich jeder, drum ersinnt er

Erfindungen, die dann er in der Predigt

Erörtert, doch vom Evangelium schweigt.

Der eine sagt, daß sich beim Leiden Christi

Der Mond zurückgewandt und vor die Sonne

Gestellt, so daß der Erd' ihr Licht er barg.

Ein andrer, daß ihr Licht von selbst erlosch,

Weshalb die Finsternis, sowie den Juden,

Sich auch den Spaniern und den Indern zeigte.

Nicht soviel Lapi's trifft man, soviel Bindi's

In Florenz, als im Jahr dergleichen Fabeln

Von Kanzeln da und dort verkündet werden.

Die unerfahrnen Schäflein aber kehren

Mit Wind gefuttert von der Weid', und wenig

Hilft ihnen, daß sie nicht gesehn den Schaden.

Nicht sagte Christus zu den ersten Jüngern:

Geht hin und predigt Narretei der Welt;

Den rechten Grundbau gab er ihrer Predigt.

Und diese tönte so aus ihren Wangen,

Daß in dem Kampf, den Glauben zu entzünden,

Ihr Schild und Speer das Evangelium war.

Jetzt predigt man mit Späßen und Geschichtchen,

Und, wird nur gut gelacht, schwillt die Kapuze

Dem Pfaffen, und nichts weiteres begehrt man.[404]

Doch nistet in dem Kragen solch ein Vogel,

Daß, wenn's die Leute sähen, so erkennten

Sie, was der Ablaß wert sei, dem sie trauen.

Es wuchs auf Erden also diese Torheit,

Daß, ohne eines Zeugnisses Beweis,

Das Volk zu jeglicher Verheißung liefe.

Mit derlei mästet Sankt Anton das Schwein

Und andre, die noch schlimmre Schweine sind,

Indem mit ungeprägtem Geld sie zahlen.

Doch weil wir um nicht wenig abgeschweift sind,

So richte auf den graden Weg die Augen,

Damit die Straße mit der Zeit sich kürze.

So hoch läuft in die Zahlen die Natur

Der Engel, daß kein sterblicher Gedanke,

Noch Menschensprache sich soweit verstiege.

Erwägst du recht was Daniel uns verkündet,

So siehst du wohl, daß die bestimmte Zahl

Sich hinter seinen Tausenden verbirgt.

Das erste Licht, das alle ausstrahlt, nehmen

Sie in so mannigfacher Weise auf,

Als Lichter sind, mit denen es sich einet.

Weil das Ergriffensein nun dem Erkennen

Entspricht, so fühlen sie der Liebe Süße

Verschiedenartig, heißer oder lauer.

Sieh denn die Höhe, die Freigebigkeit

Der ew'gen Kraft, die, ob so viele Spiegel

Sie sich erschuf, darin sie sich verteilet,

Doch in sich selber eins bleibt, wie zuvor. –

Quelle:
Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. Berlin [1916], S. 401-405.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Göttliche Komödie
Die Göttliche Komödie
La Commedia / Die göttliche Komödie: I. Inferno / Hölle Italienisch/Deutsch
Inferno: Die göttliche Komödie
Die Göttliche Komödie
Die Göttliche Komödie (insel taschenbuch)

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Der Waldbrunnen / Der Kuß von Sentze

Der Waldbrunnen / Der Kuß von Sentze

Der Waldbrunnen »Ich habe zu zwei verschiedenen Malen ein Menschenbild gesehen, von dem ich jedes Mal glaubte, es sei das schönste, was es auf Erden gibt«, beginnt der Erzähler. Das erste Male war es seine Frau, beim zweiten Mal ein hübsches 17-jähriges Romamädchen auf einer Reise. Dann kommt aber alles ganz anders. Der Kuß von Sentze Rupert empfindet die ihm von seinem Vater als Frau vorgeschlagene Hiltiburg als kalt und hochmütig und verweigert die Eheschließung. Am Vorabend seines darauffolgenden Abschieds in den Krieg küsst ihn in der Dunkelheit eine Unbekannte, die er nicht vergessen kann. Wer ist die Schöne? Wird er sie wiedersehen?

58 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon