Silvesterabend

[474] Am letzten Tage des Jahres

Da dacht' ich wie mancher tot,

Den ich bei seinem Beginne

Noch lustig gesehn und rot,

Wie mancher am Sargesbaume

Und wie vielleicht auch der meine

Zur Stunde schon sei gefällt.


Wer wird dann meiner gedenken

Wenn ich gestorben bin?

Wohl wird man Tränen mir weihen,

Doch diese sind bald dahin!

Wohl wird man Lieder mir singen,

Doch diese verweht die Zeit!

Vielleicht einen Stein mir setzen,

Den bald der Winter verschneit!
[474]

Und wenn die Flocke zerronnen

Und kehrt der Nachtigallschlag,

Dann blieb nur die heilige Messe

An meinem Gedächtnistag,

Nur auf zerrissenem Blatte

Ein Lied von flüchtigem Stift,

Und mir zu Häupten die Decke

Mit mooszerfressener Schrift.


Wohl hab' ich viele Bekannte

Die gern mir öffnen ihr Haus,

Doch wenn die Türe geschlossen,

Dann schaut man nimmer hinaus,

Dann haben sie einen andern

An meiner Stelle erwählt,

Der ihnen singt meine Lieder

Und meine Geschichten erzählt.


Wohl hab' ich ehrliche Freunde,

Die geht es schon härter an;

Doch wenn die Kette zerrissen,

Man flickt sie so gut man kann;

Zwei Tage blieben sie düster,

– Sie meinten es ernst und treu –

Und gingen dann in die Oper

Am dritten Tage aufs neu.


Ich habe liebe Verwandte

Die trugen im Herzen das Leid,

Allein wie dürfte verkümmern

Ein Leben so vielen geweiht?

Die haben sich eben bezwungen,

Für andere Pflichten geschont,

Doch schweben meine Züge

Zuweilen noch über den Mond.


Ich habe Brüder und Schwestern,

Da ging ins Leben der Stich,[475]

Da sind viel Tränen geflossen

Und viele Seufzer um mich;

O, hätten sie einsam gestanden,

Ich lebte in ewigem Licht!

Nun haben sie meines vergessen

Um ihres Kindes Gesicht.


Ich hab', ich hab' eine Mutter,

Der kehr' ich im Traum bei Nacht

Die kann das Auge nicht schließen,

Bis mein sie betend gedacht;

Die sieht mich in jedem Grabe,

Die hört mich im Rauschen des Hains –

O, vergessen kann eine Mutter

Von zwanzig Kindern nicht eins!


Quelle:
Annette von Droste-Hülshoff: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1973, S. 474-476.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Lohenstein, Daniel Casper von

Agrippina. Trauerspiel

Agrippina. Trauerspiel

Im Kampf um die Macht in Rom ist jedes Mittel recht: Intrige, Betrug und Inzest. Schließlich läßt Nero seine Mutter Agrippina erschlagen und ihren zuckenden Körper mit Messern durchbohren. Neben Epicharis ist Agrippina das zweite Nero-Drama Daniel Casper von Lohensteins.

142 Seiten, 7.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon