Am Christihimmelfahrtstage

[631] Er war ihr eigen dreiunddreißig Jahr',

Die Zeit ist hin, ist hin!

Wie ist sie doch nun alles Glanzes bar

Die öde Erd', auf der ich atm' und bin!

Warum durft' ich nicht leben, als sein Hauch

Die Luft versüßte, als sein reines Aug'

Gesegnet jedes Kraut und jeden Stein?

Warum nicht mich? warum nicht mich allein?

O Herr! du hättest mich gesegnet auch!
[631]

Dir nachgeschlichen wär' ich überall,

Und hätte ganz von fern,

Verborgen von Gebüsches grünem Wall,

Geheim betrachtet meinen liebsten Herrn.

Zu Martha hätt' ich bittend mich gewandt

Um einen kleinen Dienst für meine Hand:

Vielleicht den Herd zu schüren dir zum Mahl,

Zum Quell zu gehn, zu lüften dir den Saal –

Du hättest meine Liebe wohl erkannt.


Und draußen in des Volkes dichtem Schwarm

Hätt' ich versteckt gelauscht,

Und deine Worte, lebensreich und warm,

So gern um jede andre Lust getauscht;

Mit Magdalena hätt' ich wollen knien,

Auch meine Träne hätte sollen glühn

Auf deinem Fuß, vielleicht dann, ach vielleicht

Wohl hätte mich dein selig Wort erreicht:

»Geh hin, auch deine Sünden sind verziehn!«


Umsonst! und zwei Jahrtausende nun fast

Sind ihrem Schlusse' nah,

Seitdem die Erde ihren süßen Gast

Zuletzt getragen in Bethania.

Schon längst sind deine Martyrer erhöht,

Und lange Unkraut hat der Feind gesät,

Gespalten längst ist deiner Kirche Reich

Und trauernd hängt der mühbeladne Zweig

An deinem Baume, doch die Wurzel steht.


Geboren bin ich in bedrängter Zeit;

Nach langer Glaubensrast

Hat nun verschollner Frevel sich erneut;

Wir tragen eine fast vergeßne Last,

Und wieder deine Opfer stehn geweiht.

Ach, ist nicht Lieben seliger im Leid?

Bist du nicht näher, wenn die Trauer weint,[632]

Wo drei in deinem Namen sind vereint,

Als Tausenden im Schmuck und Feierkleid?


's ist sichtbar, wie die Glaubcnsflamme reich

Empor im Sturme schlägt,

Wie mancher, der zuvor Nachtwandlern gleich,

Jetzt frisch und kräftig seine Glieder regt.

Gesundet sind die Kranken, wer da lag

Und träumte, ward vom Stundenschlage wach;

Was sonst zerstreut, verflattert in der Welt,

Das hat um deine Fahne sich gestellt

Und jeder alte, zähe Firnis brach.


Was will ich mehr? ist es vergönnt dem Knecht

Die Gabe seines Herrn

Zu meistern? was du tust, das sei ihm recht!

Und ist dein Lieben auch ein Flammenstern,

Willst läutern du durch Glut, wie den Asbest,

Dein Eigentum von fauler Flecken Pest:

Wir sehen deine Hand und sind getrost,

Ob über uns die Wetterwolke tost,

Wir sehen deine Hand und stehen fest.


Quelle:
Annette von Droste-Hülshoff: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1973, S. 631-633.
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