Am Ostermontage

[620] Ev: Von den Jüngern die nach Emmaus gingen.


Herr, eröffne mir die Schrift,

Deiner Worte Liebesmorgen,

Daß er leis im Herzen trifft,

Was gewißlich drin verborgen.

Weiß es selber nicht zu finden,

Bin doch aller Hoffnung voll,

O, die Wolken werden schwinden!

Wenn die Sonne scheinen soll.


Soll der Glaube ferne sein?

Da die Liebe nicht verloren!

Da in Nächten stiller Pein

Mir die Hoffnung neu geboren!

Du, mein Gott der Huld und Treue,

Den des Würmleins Krümmen rührt,

Hättest du umsonst die Reue

In dies starre Herz geführt!


Nein, mein Herr, das hast du nicht,

Deine Seelen sind dir teuer;

Wo nur noch ein Fünklein spricht,

Nahst du gern mit deinem Feuer.

O, ich fühl' es wohl, wie leise

Sich das neue Leben regt,

An der Gnade zarte Speise

Seine schwachen Lippen legt.


Manches ist mir wunderbar,

Manches muß mir dunkel scheinen,

Doch in deiner Liebe klar

Wird sich alles freudig einen.

War der Nebel nur des Bösen,

Was als Nacht mich zagen ließ:[620]

Wie sich meine Sünden lösen,

Tret' ich aus der Finsternis.


Herr, mit Tränen dank' ich dir

Für dein übergnädig Walten,

Daß du deinen Glauben mir

In der Sünde vorenthalten:

Ach, ich hätte wie im Grimme

Neue Frevel nur erspäht!

Bis mir des Gewissens Stimme

Von dem Sturme überweht.


Deine Gnad' ist weich und warm,

Mag der Sorgfalt nicht entbehren,

Und mein Herz war kalt und arm,

Solchen zarten Gast zu nähren,

Aber wie die Quellen springen,

Losgerissen von dem Weh,

Taucht sie sich mit milden Schwingen

In den heißen roten See.


Herr, ich habe viel geweint,

Daß ich oft wie zu zergehen,

In der Seelennot gemeint,

Und wie ist mir heut geschehen?

Daß ich gar so voll der Freuden,

Und mich keine Angst bezwingt,

Ob mir gleich das alte Leiden

Riesig an die Seele dringt.


Und bei deinem heil'gen Buch,

Was mir heute fast wie offen,

Denk' ich keinen einz'gen Fluch,

Kann nur lieben, kann nur hoffen,

Seh dich nur als Kindlein neigen,

Alles lieblich, alles lind,[621]

Deine harten Worte schweigen,

Und ich weiß nicht, wo sie sind.


Das ist nur für diesen Tag,

O, viel anders wird es kommen!

Denn zu groß ist meine Schmach,

Solche Lust kann ihr nicht frommen,

Hast nur deinen Blitz gesendet,

Daß nicht irr in meiner Pein

Ich mich wieder zugewendet

Dem verlaßnen Götzenhain.


Du unendlich süßes Glück!

Muß ich wieder dich verlieren,

Laß mir nur dein Bild zurück,

In dem Grolle mich zu rühren,

Oder, Herr, soll dieser Stunde

Überschwenglich Heil erstehn,

O! so laß des Grolles Wunde

Mir als Trauer offen gehn!


Quelle:
Annette von Droste-Hülshoff: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1973, S. 620-622.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Grabbe, Christian Dietrich

Napoleon oder Die hundert Tage. Ein Drama in fünf Aufzügen

Napoleon oder Die hundert Tage. Ein Drama in fünf Aufzügen

In die Zeit zwischen dem ersten März 1815, als Napoleon aus Elba zurückkehrt, und der Schlacht bei Waterloo am 18. Juni desselben Jahres konzentriert Grabbe das komplexe Wechselspiel zwischen Umbruch und Wiederherstellung, zwischen historischen Bedingungen und Konsequenzen. »Mit Napoleons Ende ward es mit der Welt, als wäre sie ein ausgelesenes Buch.« C.D.G.

138 Seiten, 7.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon