Am fünften Sonntage nach Pfingsten

[645] Ev.: Vom Splitter und Balken.


»Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist, richtet nicht, so werdet ihr nicht gerichtet werden!« – »Warum siehst du aber einen Splitter in deines Bruders Auge? und des Balken, der in deinem Auge ist, wirst du nicht gewahr.«


Ein Abgrund hat sich aufgetan

Dem Auge meiner Seele;

Verdorrt steht meines Lebens Bahn,

Wie ich es mir verhehle.[645]

Doch Wahrheit alle Schleier bricht,

Weh mir, die Liebe hab' ich nicht!


Hat sich mein Herz so manches Mal

Verzweifelnd dran gehangen,

Wenn meine Sünden ohne Zahl

Gespenstig auf mich drangen:

Es ist doch wahr, und ist kein Traum,

Mein Lieben ist nur Dunst und Schaum.


Ja! soll noch Rettung dir geschehn,

Du mein unsterblich Wesen:

Mußt fest du in den Spiegel sehn,

Mußt ohne Zucken lesen

In deiner Brust die dunkle Schrift.

Viel besser Dolch als schleichend Gift!


Wem bist du reich? ist es nicht nur

Der Arme, so sich beuget?

Hast jemals freudiger Natur

Du milde dich geneiget?

Demütig nur und kummervoll

Erpreßt man dir den schnöden Zoll.


Kalt wie der Tod kannst, wehe dir,

Die Hülfe du versagen,

Wo nur ein üppig Zweiglein dir

Scheint freudig aufzuragen;

Du, den der fremde Splitter sticht,

Und siehst den eignen Balken nicht!


Freiwillig kam es dir nicht ein,

Daß, ob die Lippe schweiget,

Ob unter zarter Demut Schein

Sich mild die Rechte zeiget,

Es gibt kein süßer Hochmutsspiel

Als eigner Güte Selbstgefühl!
[646]

Freiwillig hast du nicht gefühlt,

Wie dich die Nerven zwangen,

Wenn, wie elektrisch Feuer spielt,

Die fremden Schmerzen drangen

In deines Körpers schwachen Bau,

Zu schnöder ird'scher Tränen Tau.


Greif an, es ist die höchste Zeit,

Greif an mit mut'gen Händen;

Des Richters Waage liegt bereit,

Dein Lauf wird schleunig enden!

Zeigt jeder Atemzug nicht an,

Wie kurz gemessen deine Bahn?


Wie elend ich nur bin und schwach,

Nie hab' ich es empfunden,

Als da die letzte Stütze brach

In diesen schweren Stunden.

Doch einen gibt es, einen doch,

Der eine kann mich retten noch.


So laß, du aller Sünden Damm,

Du treuster Freund von allen,

Mich nicht als modermorschen Stamm

So unversehends fallen!

O flöße einen Tropfen Saft

In meine Adern, höchste Kraft!


Daß nur zu den Lebend'gen ich

Darf ganz zuletzt mich stellen,

Nur eben zu den Toten mich

Verzweifelnd nicht gesellen,

Ein Tropfen für die Adern leer!

Du bist ja aller Gnaden Meer!
[647]

Quelle:
Annette von Droste-Hülshoff: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1973, S. 645-648.
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