Am fünfundzwanzigsten Sonntage

nach Pfingsten

[690] Ev.: Von des Obristen Töchterlein.

Er sprach: »Gehet hinweg, denn das Mägdlein ist nicht tot, sondern es schläft.« – Er ging hinein, ergriff ihre Hand, und das Mägdlein stand auf.


Weck auf was schläft, streck aus die Hand,

Du Retter Gott, Betäubung liegt

Auf meinem Geist ein bleiern Band.

Es ist nicht tot, nur schlafbesiegt,

Nur taumelnd trunken, ein Helot,

Der knirschend schlürft in Sklavennot

Den Wein, so der Tyrann ihm bot:

So niederliegt in mir, was da vom Rechten.
[690]

Ja in den schwersten Stunden doch

Blieb ein Bewußtsein mir, daß tief

Wie in des Herzens Keller noch

Verborgen mir ein Erbteil schlief,

Gleich warmer Quelle, die hinab

Versickert in der Höhle Grab

Und droben läßt den Herrscherstab;

Frost, Sturm und Schnee um ihr Besitztum fechten.


Und der Tyrann, so niederhält

Mein bestes und mein einz'ges Gut,

Nicht Trägheit ist's, noch Lust der Welt;

Es ist der kalt gebrochne Mut,

O, wie ich tausendmal gesagt,

Verstandes Fluch, der trotzig ragt

Und scharf an meinem Glauben nagt,

Weh schwer Geschenk, verfallen bösen Mächten.


Zu einer Zeit, schwarz wie die Nacht,

Zu einer Zeit, die ich erlebt,

Da war ich um mein Heil gebracht

Wie dürres Blatt am Zweige bebt.

Trostlos und ohne Hoffnung war

Unglaube wie die Sonne klar;

Mein Leben hing an einem Haar:

O, solche Stunde gönn' ich nicht den Schlechten!


Soll ich es sagen, daß die Not

Gesteigert ward durch Menschenmüh'?

Nicht weiß ich, was dem Staub gebot;

Doch unglückselig sah ich sie,

Auflachend nur in Krampfes Spott,

Frech, doch vernichtet, ohne Gott,

Unsel'ge, aber arme Rott',

Um das verzweifelnd, was sie möchten ächten.


Schwach hieß, wer ohne Zucken nicht

Ins Auge der Vernichtung sah;[691]

Doch in dem Blicke lag Gericht,

Dem Lächeln Todesschauer nah.

Warum man nicht in Ruh' mich ließ,

Im Freundschaftsmantel überdies,

Als ob der Arzt das Messer stieß?

Ich weiß es nicht, doch will ich drum nicht rechten.


So höret denn was mich geschützt

Vor gänzlichem Verlorengehn:

Daß ich Unglauben nicht benützt

Des Frevels Banner zu erhöhn;

Daß der Entschluß gewann den Raum,

Ob mir gefällt des Lebens Baum,

Zu lieben meines Gottes Traum

Und auch dem Toten Kränze noch zu flechten.


Unglaub' ist Sünde! aber mehr:

Sünd' ist Unglaube, sie allein

Mag aller Zweifel frost'gem Heer

Der stärkste Bundsgenosse sein.

O wär' ich tugendhaft: dann ließ

Nicht einsam mich die Finsternis;

Fällt doch ein Strahl in mein Verlies,

Weil ich nicht gänzlich zugesellt den Schlechten


Ein Kleinod hab' ich mir gehegt:

Da mein Bewußtsein, ob befleckt,

Doch nicht in Schnee und Eis gelegt

Und nicht in Lava sich gestreckt.

Ach, Odem noch die Liebe hat,

Die Hoffnung treibt ein grünes Blatt,

Und auch der Glaube todesmatt

Faltet die Hände, ob sie Segen brächten.


O reiche, Gnäd'ger, deine Hand

Wie du dem Mägdlein sie gereicht![692]

Zerreiß der dumpfen Träume Band,

So mächtig mir und dir so leicht!

Ja mag dein Odem drüber wehn,

Ein Strahl aus deinem Auge gehn,

Dann ist wohl da, was auferstehn

Und was fortan in deiner Schar mag fechten!


Quelle:
Annette von Droste-Hülshoff: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1973, S. 690-693.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Der Condor / Das Haidedorf

Der Condor / Das Haidedorf

Die ersten beiden literarischen Veröffentlichungen Stifters sind noch voll romantischen Nachklanges. Im »Condor« will die Wienerin Cornelia zwei englischen Wissenschaftlern beweisen wozu Frauen fähig sind, indem sie sie auf einer Fahrt mit dem Ballon »Condor« begleitet - bedauerlicherweise wird sie dabei ohnmächtig. Über das »Haidedorf« schreibt Stifter in einem Brief an seinen Bruder: »Es war meine Mutter und mein Vater, die mir bei der Dichtung dieses Werkes vorschwebten, und alle Liebe, welche nur so treuherzig auf dem Lande, und unter armen Menschen zu finden ist..., alle diese Liebe liegt in der kleinen Erzählung.«

48 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon