Johann Wolfgang Goethe

Wohlgemeinte Erwiderung

Nur allzu oft werden mir von jungen Männern deutsche Gedichte zugesendet mit dem Wunsch: ich möge sie nicht allein beurteilen, sondern auch über den eigentlichen dichterischen Beruf des Verfassers meine Gedanken eröffnen. Sosehr ich aber dieses Zutrauen anzuerkennen habe, bleibt es doch im einzelnen Falle unmöglich, das Gehörige schriftlich zu erwidern, welches mündlich auszusprechen schon schwierig genug sein würde. Im allgemeinen jedoch kommen diese Sendungen bis auf einen gewissen Grad überein, so daß ich mich entschließen mag, für die Zukunft einiges hier auszusprechen.

Die deutsche Sprache ist auf einen so hohen Grad der Ausbildung gelangt, daß einem jeden in die Hand gegeben ist, sowohl in Prosa als in Rhythmen und Reimen sich dem Gegenstande wie der Empfindung gemäß nach seinem Vermögen glücklich auszudrücken. Hieraus erfolgt nun, daß ein jeder, welcher durch Hören und Lesen sich auf einen gewissen Grad gebildet hat, wo er sich selbst gewissermaßen deutlich wird, [sich] also bald gedrängt fühlt, seine Gedanken und Urteile, sein Erkennen und Fühlen mit einer gewissen Leichtigkeit aussprechen.

Schwer, vielleicht unmöglich wird es aber dem Jüngeren, einzusehen, daß hiedurch im höhern Sinne noch wenig getan ist. Betrachtet man solche Erzeugnisse genau, so wird alles, was im Innern vorgeht, alles, was sich auf die Person selbst bezieht, mehr oder weniger gelungen sein, und manches auf einen so hohen Grad, daß es so tief als klar und so sicher als anmutig ausgesprochen ist. Alles Allgemeine, das höchste Wesen wie das Vaterland, die grenzenlose Natur so wie ihre einzelnen unschätzbaren Erscheinungen überraschen uns in einzelnen Gedichten junger Männer, woran wir den sittlichen Wert nicht verkennen dürfen und die Ausführung lobenswürdig finden müssen.[712]

Hierinne liegt aber gerade das Bedenkliche: denn viele, die auf demselben Wege gehn, werden sich zusammengesellen und eine freudige Wanderung zusammen antreten, ohne sich zu prüfen, ob nicht ihr Ziel allzu fern im Blauen liege.

Denn leider hat ein wohlwollender Beobachter gar bald zu bemerken, daß ein inneres jugendliches Behagen auf einmal abnimmt, Trauer über verschwundene Freuden, Schmachten nach dem Verlornen, Sehnsucht nach dem Ungekannten, Unerreichbaren, Mißmut, Invektiven gegen Hindernisse jeder Art, Kampf gegen Mißgunst, Neid und Verfolgung die klare Quelle trübt, und die heitere Gesellschaft vereinzelt und zerstreut sich in misanthropische Eremiten.

Wie schwer ist es daher, dem Talente jeder Art und jedes Grades begreiflich zu machen: daß die Muse das Leben zwar gern begleitet, aber es keineswegs zu leiten versteht. Wenn wir beim Eintritt in das tätige und kräftige, mitunter unerfreuliche Leben, wo wir uns alle, wie wir sind, als abhängig von einem großen Ganzen empfinden müssen, alle früheren Träume, Wünsche, Hoffnungen und die Behaglichkeiten früherer Märchen zurückfordern, da entfernt sich die Muse und sucht die Gesellschaft des heiter Entsagenden, sich leicht Wiederherstellenden auf, der jeder Jahrszeit etwas abzugewinnen weiß, der Eisbahn wie dem Rosengarten die gehörige Zeit gönnt, seine eignen Leiden beschwichtigt und um sich her recht emsig forscht, wo er irgendein Leiden zu lindern, Freude zu fördern Gelegenheit findet.

Keine Jahre trennen ihn sodann von den holden Göttinnen, die, wenn sie sich der befangenen Unschuld erfreuen, auch der umsichtigen Klugheit gerne zur Seite stehen, dort das hoffnungsvolle Werden im Keim begünstigen, hier eines Vollendeten in seiner ganzen Entwicklung sich freuen. Und so sei mir erlaubt, diese Herzensergießung mit einem Reimwort zu schließen:
[713]

Jüngling, merke dir in Zeiten,

Wo sich Geist und Sinn erhöht:

Daß die Muse zu begleiten,

Doch zu leiten nicht versteht.[714]

Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Kunsttheoretische Schriften und Übersetzungen [Band 17–22], Band 17, Berlin 1960 ff.
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