Lied der Liebe

[112] (Zweite Fassung)


Engelfreuden ahndend, wallen

Wir hinaus auf Gottes Flur,

Daß von Jubel widerhallen

Höhn und Tiefen der Natur.

Heute soll kein Auge trübe,

Sorge nicht hienieden sein,

Jedes Wesen soll der Liebe

Frei und froh, wie wir, sich weihn!


Singt den Jubel, Schwestern, Brüder,

Fest geschlungen, Hand in Hand!

Hand in Hand das Lied der Lieder,

Selig an der Liebe Band!

Steigt hinauf am Rebenhügel,

Blickt hinab ins Schattental!

Überall der Liebe Flügel,

Hold und herrlich überall!


Liebe lehrt das Lüftchen kosen

Mit den Blumen auf der Au,

Lockt zu jungen Frühlingsrosen

Aus der Wolke Morgentau,

Liebe ziehet Well an Welle

Freundlich murmelnd näher hin,

Leitet aus der Kluft die Quelle

Sanft hinab ins Wiesengrün.
[113]

Berge knüpft mit ehrner Kette

Liebe an das Firmament,

Donner ruft sie an die Stätte,

Wo der Sand die Pflanze brennt.

Um die hehre Sonne leitet

Sie die treuen Sterne her,

Folgsam ihrem Winke gleitet

Jeder Strom ins weite Meer.


Liebe wallt durch Ozeane,

Durch der dürren Wüste Sand,

Blutet an der Schlachtenfahne,

Steigt hinab ins Totenland!

Liebe trümmert Felsen nieder,

Zaubert Paradiese hin,

Schaffet Erd und Himmel wieder –

Göttlich, wie im Anbeginn.


Liebe schwingt den Seraphsflügel,

Wo der Gott der Götter thront,

Lohnt die Trän am Felsenhügel,

Wann der Richter einst belohnt,

Wann die Königsstühle trümmern,

Hin ist jede Scheidewand,

Biedre Herzen heller schimmern,

Reiner, denn der Krone Tand.


Laßt die Scheidestunde schlagen,

Laßt des Würgers Flügel wehn!

Brüder, drüben wird es tagen!

Schwestern, dort ist Wiedersehn![114]

Jauchzt dem heiligsten der Triebe,

Den der Gott der Götter gab,

Brüder, Schwestern, jauchzt der Liebe,

Sie besieget Zeit und Grab!

Quelle:
Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. 6 Bände, Band 1, Stuttgart 1946, S. 112-115.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Diderot, Denis

Die Nonne. Sittenroman aus dem 18. Jahrhundert

Die Nonne. Sittenroman aus dem 18. Jahrhundert

Im Jahre 1758 kämpft die Nonne Marguerite Delamarre in einem aufsehenerregenden Prozeß um die Aufhebung ihres Gelübdes. Diderot und sein Freund Friedrich Melchior Grimm sind von dem Vorgang fasziniert und fingieren einen Brief der vermeintlich geflohenen Nonne an ihren gemeinsamen Freund, den Marquis de Croismare, in dem sie ihn um Hilfe bittet. Aus dem makaberen Scherz entsteht 1760 Diderots Roman "La religieuse", den er zu Lebzeiten allerdings nicht veröffentlicht. Erst nach einer 1792 anonym erschienenen Übersetzung ins Deutsche erscheint 1796 der Text im französischen Original, zwölf Jahre nach Diderots Tod. Die zeitgenössische Rezeption war erwartungsgemäß turbulent. Noch in Meyers Konversations-Lexikon von 1906 wird der "Naturalismus" des Romans als "empörend" empfunden. Die Aufführung der weitgehend werkgetreuen Verfilmung von 1966 wurde zunächst verboten.

106 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon