Das Saitenspiel

[32] Was singt in Euch, Ihr Saiten?

Was tönt in Eurem Schall?

Bist Du es, klagenreiche,

Geliebte Nachtigall?

Die, als sie meinem Herzen

Wehklagete so zart,

Vielleicht im letzten Seufzer

Zum Silberlaute ward.


Was spricht in Euch, Ihr Saiten?

Was singt in Eurem Schall?

Betrügst Du mich, o Liebe,

Mit süßem Widerhall?

Du Täuscherin der Herzen,

Geliebter Lippen Tand,

Bist Du vielleicht in Töne,

Du Flüchtige, verbannt?


Es spricht mit stärkrer Stimme,

Es dringet mir ans Herz

Und weckt mit Zaubergriffen

Den längst entschlafnen Schmerz.

Du bebst in mir, o Seele,

Wirst selbst ein Saitenspiel

(In welches Geistes Händen?)

Mit zitterndem Gefühl.


Es schwebet aus den Saiten,

Es lispelt mir ins Ohr;

Der Geist der Harmonieen,[32]

Der Weltgeist tritt hervor.

»Ich bin es, der die Wesen

In ihre Hülle zwang

Und sie mit Zaubereien

Der Sympathie durchdrang.


In rauher Felsenhöhle

Bin ich Dir Widerhall,

Im Ton der kleinen Kehle

Gesang der Nachtigall.

Ich bin's, der in der Klage

Dein Herz zum Mitleid rührt

Und in der Andacht Chören

Es auf zum Himmel führt.


Ich stimmete die Welten

In einen Wunderklang;

Zu Seelen flossen Seelen,

Ein ew'ger Chorgesang.

Vom zarten Ton beweget,

Durchängstet sich Dein Herz

Und fühlt der Schmerzen Freude,

Der Freude süßen Schmerz.«


Verhall', o Stimm'! Ich höre

Der ganzen Schöpfung Lied,

Das Seelen fest an Seelen,

Zu Herzen Herzen zieht.

In ein Gefühl verschlungen,

Sind wir ein ewig All,

In einen Ton verklungen,

Der Gottheit Widerhall.


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 32-33.
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