Ein Landlied auf Grafenhaide

[249] Nimm mich, nimm mich, Göttin, sanfte Freude,

Ganz in Deinen Schooß!

Hier im Sitz der Lust, in Grafenhaide,

Wohnst Du kummerlos,

Hauchst in jedem Zuge

Sanfte Ruhe ein;

Drum im stillen Taubenfluge

Will ich mit entzückter Seele Dir ein Landlied weihn.[249]

Alles lacht um mich; wohin ich sehe,

Prangt mit mildem Geiz

Neu Vergnügen, und wo ich nur gehe,

Lacht ein neuer Reiz.

Seht die Aehren wallen!

Hin zum runden Hain!

Wo Naturconcerte schallen,

Und die Wipfel und die Zephyrs rauschen Lust darein.


Rings umkränzt von See und Wald und Auen,

Irrt umher mein Blick,

Immer fremde; niemals satt zu schauen,

Find' ich immer neues Glück.

O Natur! Du glänzest

Unerschöpflich reich;

Und ein Ort, den Du bekränzest,

Lacht der Kunst und des Gepränges und ist Eden gleich.


Zwar hier tanzt auf Rosen keine Phryne

Lauten Scherz mir vor,

Keine Silberflöte lockt ins Grüne

In ein Nymphenchor;

Doch die stille Freude

Flieht ins heitre Herz,

Und im muntern Hirtenkleide

Lacht sie nur auf heitern Stirnen, weit vom wilden Scherz.


Prangt, Ihr Dichter, mit erträumten Gründen,

Wo die Wollust thront!

Euer Tempe, sagt, wo ist's zu finden,

Als im Dichtermond?

Zwar ist Grafenhaide

Keine Götterflur;

Doch auf dieser Unschuldsweide

Lacht in Augen und auf Stirnen nichts als Du, Natur.


Wenn im Abendroth der Himmel schwimmet,

Wähl' ich Dich, o See!

Wenn der Silberthau auf Wiesen glimmet,

Wähl' ich Dich, Allee!

Wenn die Sonne steiget,

Suche ich den Wald;

Und wenn sich der Abend neiget,

O, so bist Du, Freundschaftshütte, mir ein Aufenthalt!
[250]

Hier als Jüngling Rosenkränze winden,

Ist ein Königreich;

Hier sein Leben neu verjüngt empfinden,

Sagt, was ist dem gleich?

Hier, wo sich Vergnügen

Nicht mit Silber zahlt,

Und wo sich mit sanften Zügen

Auf dem Antlitz der Bewohner treue Freundschaft malt.


Dies schrieb ein Fremdling, der auf Grafenhaide

Zum Ersten Livlands Landesfreude

Im Cirkel lieber Freunde fand.


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 249-251.
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