Zweites Selbstgespräch

[411] Wer bin ich? Alles erwacht in mir! mein Geist! –

Höhen – Tiefen! – ich schaudre! – die nur Gott durchmißt! –

Dunkel liegt mein Grund! – Leidenschaft durchfleußt

Ihn unendlich und braust! – braust! – Geist, Du bist

Eine Welt, ein All, ein Gott, Ich! –

Mensch fühl' ich mich, und beten vor mir an?

Nein! aufrecht stehn und denken will ich mich!

Du jeder mein Gedank, des stärksten Selbsttriebs Blut

Und jede Nerv sei Kraft und jede Ader Gluth,

Daß ich mich fühlen, fassen, lenken kann!


Es schläft in mir! Im Schooß des Chaos schläft

Welche Gedankenwelt!

Um einen Punkt dehnt ein unendlich Feld

Sich in der Ferne Schatten. Es schläft

Um mein Jetzt die Asche von Vergangen,

In ihr der Keim der ganzen Künftigkeit.

Wie keimt im Todtenkrug die Asche von Vergangen

Zum Keim der Künftigkeit!


Wolkenhoch erwach' ich am Segel, und unter mir

Ruht ein Ocean! doch in den hohlen Tiefen

Donnert herauf Neptun. So steigen hier

Gedanken empor; es rauscht das Feld in mir

Von Todten, die sich ins Leben riefen.
[411]

O, spräch' ich: »Sei!« und meine ganze Welt

Erstünde mir, dem Gott, so! welche Millionen!

Der Zoll der ganzen Schöpfung, tief versenkt

Ins Meer der Nacht! So ruht das Gold, umschränkt

Von Acherons, von Cerbers rings umbellt,

Da Alpen, Klüfte, Plutons auf ihm thronen!

So ruhn im Meere Schätze Millionen,

Der Raub der Indiens, im Schiffbruch, ach! ertränkt!

So schlummert unter Eis und Schneesthronen

Des Frühlings bunte Blumenwelt!

Wer ruft Dich, Frühlingswind, der mich von Banden

Enteist! O welche Sonne gebiert

Aus mir ein Tempe und weckt ein hohes Aehrenheer,

Wie Riesen aus Jason's Saat entstanden!

Entwälzt kein Hercules die Felsen mir und entführt

Der Hölle mein Gold! Wer spricht zum Meer:

»Gieb Deine Todten her!«

Und kann ich selbst nicht, selbst mir Hercul sein?

Er, der den Cerber speiend, die Allmachtskeule

Gefaßt, im Löwenschmuck

Voll Hyderblut erschien und Ruh und Säule

Und Kampf Olympens nachließ; denn es trug

Den Pappel-, Oel- und Lorbeer-Neugekrönten

Die Wolke himmelwärts,

Und dunkler Götterblitz im Auge des Verhöhnten

Nahm Junons ganzes Herz

Und Pindar's Geist, der seinen Spuren

Voll Trotz sich, Adler, nachschwang! –

Wie Shakespeare, der aus Wildnißfluren

Im Räubersbart zu Göttern drang;

Denn er grub ins Menschenherz, zur Höllengluth

Erschüttert, Simson, seine Tempelsäulen,

Er, fast sein Schöpfer. Und sein Schöpferstab

Spricht hier ein Feenreich, dort Wildnisse, die heulen.

Das war er! und Mensch! – Mensch? und ich knie' vor Dir!

Ich knie'! Ja, weinen will ich Blut

Mir, nicht Dir! – und schwören mir,

Nicht Shakespeare, ich zu sein. Fallt ab,

Fesseln der Feigheit, ab!


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 411-412.
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