Danklied am drey und sechzigsten Geburtstage nach langwieriger Krankheit

[138] Mein Schöpfer, mein Erhalter,

Du kanntest, eh' du Menschen schufst,

Mich und mein sinkend Alter,

Hilfst meiner Schwachheit auf und rufst

Allmächtig mich vom Grabe,

Als ob ich wieder neu

Mit deiner Lebensgabe

Ans Licht geboren sey.
[138]

Du giebst zum Ewigheile

Zum Ewigwohlseyn giebst du mir

Noch längre Lebensweile,

Daß meine Seele sich zu dir

Erheben soll hiernieden

Wo sie am Staube hing,

Und ganz von dir geschieden

Verworrne Wege ging.


Sie grub zum Freudetrinken

Sich selber Brünnlein süß und lieb,

Zur Rechten und zur Linken,

Vergaß dich Urquell, trank und blieb

Stets durstig, und erkennet

Mit ungelöschter Gier,

Daß sie nur sehnt und brennet,

Du Lebensborn nach dir.


Sie kehret voll Schaam und Reue

Vom langen Irrsaal um, und dankt

Dir deine Vatertreue,

Die nimmer müdet, nimmer wankt;

Dich preißt sie, der dem Sünder

Zeit umzukehren giebt,

Und, weil er irrt, nicht minder

Ihn in der Irre liebt.
[139]

Du liebtest meine Seele,

Eh' du der Erde Grund gelegt;

Du giebst sie nicht der Höhle,

Worein man ihre Hülle trägt;

Der Odem deines Mundes

Belebte dies Gebein,

Kraft meines Hoffnunggrundes

Kömmt wieder Leben drein.


Aus meiner Asche fähret

Ein Körper, leicht wie reine Luft,

Zu dir empor gekehret,

Wenn deine Stimme Todten ruft.

Mich kleidest du mit Schimmer,

Ich selber werd es seyn,

Ich will Dich sehn und immer

Mich deiner Liebe freun!
[140]

Quelle:
Anna Louisa Karsch: Gedichte von Anna Louisa Karschin, geb. Dürbach. Berlin 1792, S. 138-141.
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Gedichte: Ausgabe 1792

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