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[299] Wohlan, ihr neunmal Weisen!

Ich fordre euch heraus!

Baut ihr von Stein und Eisen

Ein sturmgesichert Haus:

Bau ich aus Blütendüften

Und Mondschein mir ein Schloß,

Drin biete ich euch allen Trutz

Und eurem Schülertroß!


Die güldnen Sonnenstrahlen

Sind meine Lanzen scharf,

Die Blumen in den Talen

Sind all mein Schießbedarf;

Die Tannen auf den Bergen

Sind meine Wächtersleut,

Des Himmels Sterne allzumal

Mein glänzend Heer zum Streit.


Auf, meine Siegstandarte,

Die ist das Abendrot!

Auf, meine Feldherrnkarte,

Die ist das Morgenrot!

Mein Tambour ist der Donner,

Der durch die Lüfte rollt,[299]

Trompeter ist der wilde Sturm,

Der auf den Meeren grollt.


Der Oberstfeldzeugmeister

Ist meine Phantasie,

Und ihre tapfern Geister

Verließen mich noch nie;

Die unerschöpfte Kasse

Der Quellen Silberschaum,

Mein lustig kühles Lagerzelt

Des Waldes grüner Raum.


Die Wolken sind Trabanten,

Die meine Stimme ruft,

Und meine Adjutanten

Die Adler in der Luft,

Die fliegen und die spähen

Hinaus in alle Welt;

Mein leicht Gemüt ist Feldmarschall,

Das ist ein guter Held!


Ich sende dir entgegen,

O Feind! die Nachtigall,

Die bringt mit ihren Schlägen

Dich alsogleich zu Fall.

Ich lasse auf euch spielen

Mein duftiges Geschütz,

Und euer Eis zerschmelzen muß

An meinem Lanzenblitz!


Gott hat zu seinem Zeugen

Geordnet den Gesang;

Der wird nun nimmer schweigen

Die Ewigkeit entlang.[300]

In seinen Zauberwellen

Versinkt der letzte Spott;

Solange noch ein Dichter lebt,

Lebt auch der alte Gott!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 299-301.
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