Neunzehnter Brief.

(in dem vorigen eingeschlossen.)

An den Herrn Etatsrath Müller in Coppenhagen.

[156] Zelle den 23sten September Abends.


Ich will diesen Brief an Sie noch hier in Zelle anfangen, und denke daran so fortzuschreiben, bis ich nach Frankfurt komme. Heute waren wir in einem Privatconcerte, und ich habe gefunden, daß hier recht viel Musicliebhaberey herrscht. Sie wissen, daß ich schon sehr vortheilhaft von den mildern Sitten einer Stadt urtheile, in welcher man Geschmack an Tonkunst findet. Da schleiche ich gewöhnlich, wenn ich an einen fremden Ort komme, des Abends durch die Gassen und horche, ob in den Häusern gespielt und[156] gesungen wird, höre was für Melodien das gemeine Volk, welches mir begegnet, trillert oder pfeift, und wenn ich merke, daß Harmonie in einer solchen Stadt wohnt; so lege ich mich ruhig in das Bette, ohne mein Zimmer zu verschliessen.

In Hannover schien mir der Geschmack in der Music steifer als hier. Das dortige königliche Orchestre ist aber dennoch mit einigen guten Spielern besetzt, und diese werden gut besoldet. Nur hat es mich gewundert zu hören, daß die Größe des Gehalts sich nicht nach dem größern Talente, sondern nach der Anciennität richtet. Man hat mir erzählt, (ich stehe nicht für die Wahrheit der Sache) daß der Aelteste unter den Hofmusikern allzeit die stärkste Gage bekäme, wäre er auch nur ein leidlicher Bratschenspieler, da indeß der unentbehrlichere aber jüngere erste Violinist sich vielleicht nur halb so hoch steht.

Morgen reisen wir fort – Gott befohlen, Herr Etatsrath!


[157] Göttingen in der Crone, den 28sten.


Noch ein Paar Zeilen, ehe ich fortreise, denn ich bin im Begriff mich auf einige Zeit von meiner Gesellschaft zu trennen. Wir gehen zwar morgen zusammen nach Cassell; da aber die andern hohen Herrschaften sich daselbst einige Tage aufhalten werden, ich aber einen alten Freund ohnweit Herßfeld besuchen will; so fahre ich weiter, und werde erst wieder in Frankfurt zu ihnen stolzen.


Herßfeld den 30sten Mittags.


Ich bin in Hessen – Ja! meine Rippen fühlen es – Schöne Wege – Berge über Berge – fröhlige Armuth – Entvölkerung – schmutzige Wirthshäuser – schlechte Kost – langsame Postanstalten – Corruption des Landvolks, welche die Soldaten aus der Residenz bringen – liebäugelnde Mädgen – elende Music – ja! ich bin in Hessen –

Mein Postillon pfiff den ganzen Weg durch eine jämmerliche Polonaise – Ich[158] hätte toll werden mögen – Als ich mich aber mit ihm in ein Gespräch einließ, da erzählte er mir allerley seltsame Märchen; Unter andern versicherte er mich, es habe ihn ein Zigeuner fest gegen Stich und Schuß gemacht –

Muß ich nicht schon wieder auf die Pferde warten! –

Indem ich so im Zimmer umher suche, finde ich eine gedruckte Nachricht von den Geschenken, die im vorigen Jahre an das hiesige Waisenhaus eingeschickt worden sind. Da steht zum Beyspiel: es habe Einer einen Kalbsbraten geschenkt, und sich dagegen vorbehalten, man solle Gott um Gesundheit für ihn bitten –

Wie doch jedermann hier in Hessen so fehlerhaft schreibt! Hier liegt eine gedruckte Verordnung, in welcher auf einer Seite vier Fehler gegen die Rechtschreibung sind.[159]

Ich habe die von den galanten Franzosen verwüstete Stiftskirche besehen. Schade um das herrliche Gebäude! Der große Bogen des hohen Altars steht noch majestätisch, in dem edelsten Styl gebauet, mit den beyden Nebenportalen da –

Endlich kommen die Pferde – Fort von hier! –


... den 2ten October 1771 Morgens.


Ich habe seit vorgestern manche vergnügte Stunde bey meinem alten Freunde zugebracht. Er hat den letzten Krieg mitgemacht, und darinn den Ruhm eines herzhaften, redlichen Mannes erworben. Da ihn der Fürst nicht so für seine Dienste belohnte, als er es erwarten konnte; so nahm er seinen Abschied, lebt nun auf seinem Eigenthume, wo er von jedermann geliebt ist, und würkt so viel Gutes als er kann. Er ist von gar milder, edler Gemüthsart, ein warmer Freund aller redlichen Menschen, gastfreundschaftlich, (wie[160] es denn überhaupt der hessische Adel ist) wohlthätig und dienstfertig. Er hat kürzlich ein kleines liebes Weib, die Tochter aus einer benachbarten Familie, geheyrathet, mit welcher er herzlich lebt. Sie ist so edel und gut als er, und hat, obgleich ganz auf dem Lande erzogen, einen sehr cultivirten, feinen Verstand. Beyde lesen fleißig zusammen die besten neuern Schriften, und bringen so ihr Leben heiter und nützlich für sich und Andre hin – Es thut mir wehe, daß ich mich von diesen guten Menschen trennen muß –


Hungen den 4ten Abends.


Ich habe glücklicherweise einen angenehmen Reisegefährten, den sächsischen Major von Sterkfeld gefunden, der mit mir bis Frankfurt gehn wird. Wir sitzen hier im Wirthshause, und erzählen uns allerley. Jetzt da er eben ein Paar Briefe schreiben muß, will auch ich, bis unser Abendessen kömmt, ein wenig mit Ihnen plaudern.[161]

Ich habe ohnehin nichts zu lesen bey mir. Der Wirth, den ich bath mir ein Buch zu leyhen, brachte mir einige gottselige Gedanken bey Hinrichtung eines Räubers. Es war nemlich die Bekehrungsgeschichte eines Delinquenten. Herr Walther Schandy meint, es sey im Grunde einerley, wie ein Schurke stürbe, und er hat wohl nicht Unrecht. Ich halte auch nicht auf Bekehrungen von der Art, wenn das Messer an der Kehle sitzt. Thaten können nur durch Thaten ersetzt werden, und Eine Stunde kann nicht das erwiesene Unrecht von vierzig Jahren vergüten. Das wäre eine schöne Gerechtigkeit und ein herrlicher, bequemer Schlupfwinkel für den Bösewicht. Wenn mein Sohn auf Universitäten will; so muß er auf Schulen fleißig gewesen seyn. Ich lasse es gelten, daß er aufrichtigst bedaure, seine Zeit schlecht angewendet zu haben, aber was hilft mir das? Er ist zu keinem höhern Unterrichte qualificiert, und kann, so sehr ich ihn auch liebe und beklage, doch ohnmöglich[162] verlangen, daß ich ihn Philosophie lehre, wenn er noch nicht lesen kann.

Weil wir eben von Schulen reden; so muß ich Ihnen doch etwas erzählen, das mir der Major von Sterkfeld beschrieben hat. In der Reichsstadt ... herrscht bekanntlich wenig Sorge für die Erziehung der Jugend. Lustbarkeiten und Gewinnsucht lassen den Eltern nicht so viel Zeit übrig, um daran zu denken. Die ansehnlichste Schule hält ein gewisser Herr Eyermann. In derselben werden dreyhundert Knaben zusammengearbeitet. Gern nähme der liebe Mann auch tausend auf, wenn es möglich wäre, sie in das Zimmer zu stopfen, denn dies Zimmer ist so klein, daß die Kinder ihre Arme kaum von dem Leibe bringen können. Bey dem Eintritte muß ein jeder seinen Hut hergeben, welcher mit den übrigen zu einer großen Pyramide aufgethürmt wird. Diese Pyramide wirft der Herr Präceptor, nach Endigung der Stunde, mit dem Fuße um, und dann[163] stürzen alle Knaben über den Haufen her, und suchen ihr Eigenthum heraus, wobey es nicht selten Stöße und Schläge giebt. Die entsetzlichen Ausdünstungen der also eingepropften Kinder machen denn fast in jeder Stunde den Einen oder Andern ohnmächtig; Er wird sodann in die Höhe gehoben, und wandert aus einer Hand in die andre bis zu der Thür, wo er, weil er nicht zu seinen Hut hat kommen können, mit dem Angstschweisse auf der Stirn, im bloßen Kopfe sich der Luft aussetzen muß. Auch verliehrt jeder Junge, der vier Wochen diese Mördergrube besucht, seine gesunde Farbe. Eine Mutter, welche einen vernünftigen Mann um Rath fragte, ob sie ihre Söhne zu den Herrn Eyermann schicken sollte, und von ihm erfuhr, wie es dort hergeht, entschloß sich die Probe mit einem weniger geliebten Kinde zu machen. Wenn dieses seine rothen Backen verlöhre, meinte sie, dann wollte sie die übrigen nicht hingehen lassen.[164]

Mit dem Unterrichte geht es in dieser Schule folgendergestalt zu: Er lehrt die Knaben, wie Papagaien, Dinge auswendig lernen, womit sie bey ihren Eltern, zur Ehre des gelehrten Unterrichters paradieren, aber wobey sie nichts denken können. Diese Kenntnisse werden ihnen vermittelst einer großen Peitsche beygebracht, welche Herr Eyermann so zu dirigieren weiß, daß er jeden auch noch so entfernten Schüler auf den rechten Fleck trifft. Die Belohnungen aber bestehen in Anweisungen an die Eltern, zum Beyspiel: dem Knaben Georg N.N. für seinen bezeigten Fleiß heute vier gute Groschen zu bezahlen. So wird dann das ganze Ressort zu edler Anstrengung – Furcht und Gewinnsucht; die Peitsche und das Geld – Wie gefällt Ihnen das Bild dieses Philanthropins?

Nun muß ich Ihnen aber auch eine lustige Geschichte liefern, die der Major selbst mit angesehen hat. An dem Hofe zu ... speiseten[165] ein Paar Officiere, welche in der Nachbarschaft auf dem Lande in Quartier liegen. Sie aßen ihre gute Portion von allem was ihnen angebothen wurde, hatten aber nicht das Herz, etwas zu trinken zu fordern. Nach der Tafel wurde lauhwarmes Wasser zum Mundausspülen herumgegeben, und nun glaubten die guten Männer, welchen diese Gewohnheit unbekannt war, das Wasser austrinken zu müssen. Sie schluckten es also nieder, wurden elend, mußten sich augenblicklich entfernen, und alles von sich geben. Sie sagten hernach: man habe sie sehr gut bewirthet; Nur die Gewohnheit keinen Wein sondern warmes Wasser zu trinken, könne ihr Magen nicht ausstehen –

Da kömmt unser Abendbrod! Ich bin froh, daß doch hier kein Franzwein herrscht. Sonderbar! In ganz Niedersachsen wird fast lauter Franzwein getrunken, ein Wein, der, so wie er da ist, gar nicht wächst. In Bremen sind die Brauhäuser, worinn er vor[166] aller Menschen Augen gemacht wird. Jedermann weiß das, und doch trinkt man dies elende erhitzende Zeug und die Pollicey leidet es.

Nun wollen wir speisen. Das Zimmer, darinn wir sitzen, ist ganz hübsch. An den Wänden hängen Monumente fürstlicher Heldenthaten. Es sind Bilder von Hirschen und Rehen, darunter immer geschrieben steht: »den 20sten ... haben Ihre Hochfürstl. Durchl. diesen ansehnlichen edlen Hirsch Nro. I. geschossen« u.s.f. – Gute Nacht! –


Frankfurt am Mayn, im Gasthofe zum

römischen Kaiser, den 5ten October.


Ich komme eben an, und finde einen Brief von Meyer, darinn er mir meldet, sie würden morgen hier eintreffen – Die Post geht ab; es ist über fünf Uhr – He! Keller! Licht – Leben Sie wohl, ehrlicher guter Freund!


Weckel.[167]

Quelle:
Knigge, Adolph Freiherr von: Der Roman meines Lebens, in Briefen herausgegeben. 4 Teile, Teil 4, Riga 1781–1783, S. 156-168.
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