1.

[352] Anna steht in sich versunken,

Blicket in den See hinein,

Weidet, eigner Schönheit trunken,

Sich an ihrem Widerschein.


Sie beginnt hinab zu reden:

Wunderholde Jungfrau, sprich,

Schönstes Bild im Lande Schweden,

Bin ich du? und bist du ich?


Nein, o nein, ich glaub es nimmer,

Wenn es auch die Welt mir schwört,

Daß so heller Rosenschimmer

Meinen Wangen angehört.


Dieser Mund, ist er der meine,

Den dies süße Lächeln bricht?

Seh ich doch, wie auch der deine

Fragend mir entgegenspricht.


Liebes Wasser, sag, erzähle,

Hast mein Auge du gemalt?

Oder ist des Himmels Seele,

Was dein Spiegel widerstrahlt?


Anna neigt vom grünen Strande

Sich in ihres Bildes Näh,

Streift vom Busen die Gewande,

Läßt ihn leuchten in den See.


Nach dem Bilde niederhangend,

Starrt sie zweifelnd und beglückt,[352]

Und das Bild, ihr nachverlangend,

Starrt bewundernd und entzückt.


Fragt das Bild, im Wasser schwebend:

Anna, hab ich dich erreicht?

Fragt das Mädchen, freudig bebend:

Bin ich schöner noch vielleicht?


In den seligen Gebärden,

Die das Bild ihr abgelauscht,

Sieht sich Anna schöner werden,

Und die Jungfrau steht berauscht.


»Wenn so schön ich immer bliebe!

Muß dies Bild denn auch vergehn?«

Ruft sie, eitler Eigenliebe,

Horch! die Winde sausend wehn!


Rauschend wird ihr Bild zertrümmert

Im empörten Wellenschaum;

Und das Mädchen sieht bekümmert

Sich darin vergehn wie Traum.


Und im Walde knarrt es knickend,

Und am Ufer schwankt das Rohr,

Aus den Weiden, freundlich nickend,

Huscht ein altes Weib hervor.


Alte spricht, und weint verstohlen:

»Wie dein Bild im Wind zerfuhr,

Würden deine Kinder holen

Deiner Schönheit letzte Spur.


Denn die Schönheit ihrer Mutter

Ist der Kinder liebster Fraß,

Ist der Kinder feinstes Futter;

Schöne Jungfrau, merk dir das![353]


Wag es nur und kehre wieder

Nach dem ersten Wochenweh,

Komm und spiegle deine Glieder

Dann im peinlich klaren See.


Komm und schau dann mit Entsetzen

Deine Brüste, junges Blut,

Gleich gezognen Fischernetzen

Zitternd schwimmen in der Flut.


O dann frage deinen Schatten:

Wangen, seid ihr mein, so bleich?

Augen mein, ihr hohlen, matten?

Weinen wirst du in den Teich.


Kommt ein Mann, um dich zu freien,

Eile du zu mir geschwind:

Und ich will den Leib dir feien,

Daß du nie empfängst ein Kind.«


Anna spricht mit dunklen Schauern:

»Wenn du mir zu helfen meinst,

Daß die Schönheit mir mag dauern,

Mütterlein, so komm ich einst.«

Quelle:
Nikolaus Lenau: Sämtliche Werke und Briefe. Band 1, Leipzig und Frankfurt a.M. 1970, S. 352-354.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte
Faust: Ein Gedicht
Gedichte
Die schönsten Gedichte
Gedichte (insel taschenbuch)
Die schönsten Liebesgedichte (insel taschenbuch)

Buchempfehlung

Meyer, Conrad Ferdinand

Gedichte. Ausgabe 1892

Gedichte. Ausgabe 1892

Während seine Prosa längst eigenständig ist, findet C.F. Meyers lyrisches Werk erst mit dieser späten Ausgabe zu seinem eigentümlichen Stil, der den deutschen Symbolismus einleitet.

200 Seiten, 9.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon