Der Morgengang

[515] Ein hoher Berg, vom Morgen angeglüht,

Der hell und froh herauf im Osten sprüht;

Ein Wandrer kühn, der dort zum Gipfel strebt,

Von Fels zu Fels im raschen Fluge schwebt.

Was willst du, Faust, auf diesen Bergeszinnen?

Den Nebeln und den Zweifeln dort entrinnen?

Des Abgrunds Nebel werden nach dir schleichen,

Auch dort dir Zweifel an die Stirne streichen.

O freue dich am hellen Sonnenglanze,

Freu dich an seinem Kind, der stillen Pflanze,

Der Alpenlerche, die sich einsam schwingt,

Am Schneegebirg, das durch den Himmel dringt!

Laß Bergeslüfte froh dein Herz durchschauern

Und sie verwehn dein ungerechtes Trauern;

Laß nicht den Flammenwunsch im Herzen lodern,

Der Schöpfung ihr Geheimnis abzufordern;

O wolle nicht mit Gott zusammenfallen,

Solang dein Los auf Erden ist zu wallen.

Das Land der Sehnsucht ist die Erde nur;

Was Gott dir liebend in die Seele schwur,

Empfängst du erst im Lande der Verheißung,

Nach deiner Hülle fröhlicher Zerreißung! –

Umsonst, umsonst! Die ungestümen Fragen

Ihn ohne Rast von Fels zu Felsen jagen.

Viel Pflanzen hat er schon entpflückt dem Grund

Und, kaum besehn, geworfen in den Schlund;

Viel Steine schon hat dringend aufgerafft,

Am Fels zerschmettert seine Leidenschaft,

Und manch Insekt zerknickt des Forschers Hand,

Weils ihm von seiner Schöpfung nichts gestand.

Nun bleibt er stehn und lauscht dem Glockenklang

Vom Tal herauf, und fernem Kirchensang,

Der Glockenruf – die Lieder – mit den Winden[515]

Dem Ohr des Wandrers schwellen und verschwinden;

Und wechselnd horcht er auf der Töne Flucht

Und spricht hinab in eine tiefe Schlucht:

»Wie wird mir nun zu Mut mit einem Mal!

Wie faßt mich plötzlich ungekannte Qual!

Ich fühls: des Glaubens letzter Faden reißt,

Anweht mein Herz ein kalter, finstrer Geist.

O, daß die Töne, die vom Tal sich schwingen,

Mich wie ein Aufschrei bittrer Not durchdringen!

Da unten Wandrer durch die Wüste ziehn

Und jetzt im Notgezelt, dem Kirchlein, knien,

Und die Verlaßnen rufen sehnsuchtsvoll

Dem Führer, daß er endlich kommen soll.

Ob eure Sehnsucht betet, fluchet, weint,

Der Führer nirgends, nirgends euch erscheint!«

Und weiter, höher, steiler treibt die Hast,

Der Unmut fort der Berge trüben Gast,

Auf Klippen, wo den Pfad die Furcht verschlingt,

Wohin verzweifelnd nur die Gemse springt.

Schon kann der Klang vom Tal ihn nicht erreichen;

Doch fernher tönts von dumpfen Donnerstreichen.

Zu Füßen jetzt dem ungestümen Frager

Erbraust ein sturmversammelt Wolkenlager,

Und wilder stets das Wetter blitzt und kracht;

Er ruft hinab frohlockend in die Nacht:

»Die Wetterwolken hab ich übersprungen,

Daß sie vergebens mir zu Füßen klaffen,

Nach mir ausstreckend ihre Feuerzungen:

So will ich mich der Geistesnacht entraffen!«

Da plötzlich wankt und weicht von seinem Tritt

Ein Stein und reißt ihn jach zum Abgrund mit;

Doch faßt ihn rettend eine starke Hand

Und stellt ihn ruhig auf den Felsenrand;

Ein finstrer Jäger blickt ins Aug ihm stumm

Und schwindet um das Felseneck hinum.

Quelle:
Nikolaus Lenau: Sämtliche Werke und Briefe. Band 1, Leipzig und Frankfurt a.M. 1970, S. 515-516.
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