Fünftes Kapitel

[67] Aus dem Fenster zu sehen, bin ich als Kind nicht müde geworden. Alles interessirte mich, und das am meisten, was sich alle Tage wiederholte. Ich kannte in meinem fünften, sechsten Jahre jedes Haus und alle Menschen in der Straße. Da war erst ein Materialladen von Cholevius, in welchem zu unserer Belustigung der erste Commis Herr Honig hieß. Wir durften hingehen, uns dort selbst Etwas zu kaufen, wenn einer von den Eltern auf dem Wolme stand, um uns nachzusehen. Dann kam der Bäcker Herr Kuhr. Er hatte eine hübsche Tochter, die uns, wenn sie unserer habhaft werden konnte, immer küßte, und uns irgend ein Backwerk schenkte. Daneben lag unser früheres Haus. Es wohnte nun ein Bankier Borchard darin, mit einer schönen Frau. Die Leute waren kinderlos und hatten eine große Vorliebe für meine beiden Brüder. Uns ganz gegenüber wohnte ein Getreide-Makler Schulz. Er war groß und mager, trug beständig einen grauen, langen Rock, hatte eine rothe Nase und eine ganz glatte schwarze Perrücke. Die Frau, die hübsch und immer sehr elegant gekleidet war, saß schon am frühen Morgen stramm frisirt an ihrem Fenster oder auf ihrem Wolme, je nach der Jahreszeit. Sie[67] strickte und las dazu den ganzen Tag, und ihr gegenüber saß ein weißer Spitz mit blankem Halsband, der sich nicht rückte und nicht regte, außer wenn er sich hinlegte um zu schlafen, und wenn er sich gähnend beim Erwachen ausstreckte. Die Leute hatten auch keine Kinder, und weil sie also zu viel Raum im Hause hatten, wohnte im obern Gestock bei ihnen ein anderer Herr, mit Namen Peppel. Seine Fenster lagen grade denen unserer Kinderstube gegenüber, wir konnten zu ihm, er konnte zu uns hineinsehen – doch von ihm spreche ich noch ganz besonders.

Das Haus neben dem Schulze'schen hatte verschiedene Einwohner. Unten wohnte ein Zinngießer, Herr Bethge. Er war ein hübscher rüstiger Mann, der oft mit bloßer Brust und geschwärzten Händen von der Arbeit auf den Wolm hinaustrat, und hatte in seinen jungen Tagen als Gesell die Meisterin, eine kleine verwachsene Frau, geheirathet. Sie waren wohlhabende Leute, und wir haben manch Spielzeug von ihnen gekauft, manch anderes von ihnen geschenkt bekommen, wenn wir für unsere Fünfschillinge uns etwas kaufen wollten.

Mehr Reiz aber als der Zinnladen mit seinen blanken Tellern und Leuchtern, Krügen und Kannen, hatte die Familie für mich, welche die mittlere und obere Etage bewohnte. Es waren, wie wir es nannten, fromme Juden, d.h. Juden, welche noch ganz nach jüdischen Sitten und Gebräuchen lebten. Sie waren unbemittelt, waren uns verwandt, oder doch lange mit unseren Großeltern bekannt gewesen, und nahmen vielen Theil an uns.[68] Die alte, sehr kleine, sehr freundliche und äußerst saubere Hausfrau hatte meiner Mutter bei ihren Entbindungen beigestanden, besuchte uns in Krankheitsfällen und gab meiner Mutter, wenn diese in einer der Vorstuben grade am Fenster saß, ein Zeichen mit dem Kopfe oder mit der Hand, wenn wir Kinder oben in der Kinderstube am Fenster oder unten auf dem Wolme irgend etwas Gefährliches unternahmen.

Wie soll man die Kinder nur behüten! sagte meine Mutter einmal bei solchem Anlasse, als wir ihr einen heftigen Schreck verursacht hatten.

Kinder kann kein Mensch behüten, versetzte die alte Madame Japha, wenn der liebe Gott sie nicht mit seinen Engelchen bewacht.

Das ist einer von den wörtlichen Ausdrücken, die mir rührend und anmuthig aus jenen Tagen im Gedächtniß geblieben sind, so fern diese Anschauung mir jetzt auch liegt. Es gefiel mir so gut, daß die Engel über uns Wache hielten.

Herr Japha war viel zu Hause. Er hatte einen ganz kleinen grauen Bart, und immer eine weiße steifstehende Schlafmütze auf – die einzige Schlafmütze, welche ich damals kannte. Früh am Morgen stand er betend und sich dazu schaukelnd am Fenster, und ich sah ihn sich neigen und Bewegungen machen, die ich nicht verstand. Später am Tage saß er meist, aus einer Kalkpfeife rauchend und hie und da eine Prise nehmend auf demselben Platz am Fenster. Freitags Abend zündete man Lichter in der Stube an, und ich sah mehr Bewegung als sonst dort üblich war. Ich wußte, daß[69] jetzt dort Feiertag sei, daß über einer großen Stritzel, die mit einem weißen Tuch bedeckt war, jetzt ein Segen ausgesprochen wurde, aber zugesehen hatte ich das nie und darum beschäftigte es mich so sehr. Um Ostern schenkte man uns aus dem Hause Osterfladen und kleine Zuckerklümpchen, die eigens für die Osterzeit bereitet waren; zu einer andern Zeit im Jahre, im Herbste, standen während des Laubhüttenfestes Palmzweige und große Paradiesäpfel, eine Art von Cedraten, in einer bestimmten Ecke des Fensters. Die Hauptfeierlichkeit fiel aber in den Winter oder doch in den Spätherbst, wenn Regen und Schnee bereits ihr Wesen in den Straßen trieben, und die Tage, die bei uns in Preußen wesentlich kürzer sind als im mittlern Deutschland, durch die Nebel und Wolken noch mehr verkürzt erschienen. Dann tauchte mit einem Male drüben in der Stube auf dem Fensterbrett an einem Abende ein Wachslicht auf – und nun begann die Herrlichkeit, begann die Girandola meiner Kindheit. Am nächsten Abende standen und brannten zwei Lichte an dem Fenster, am dritten Abende drei, und so ging das nun, immer prächtiger und heller werdend fort, bis etwa sieben oder neun Lichte brannten, und dann die Herrlichkeit mit einemmale vorbei war. Das sei das jüdische Weihnachtsfest, sagte man uns, und wir zerbrachen uns über den Widersinn dieser Erklärung die Köpfe nicht. Denn wenn Herr Japha mit seinem Weihnachtsfeste fertig war, stand das unsere vor der Thüre, und wir vergaßen die jüdische Weihnachtszeit, um an unsere eigenen Weihnachtslichtchen zu denken.

Ich ging oftmals zu Madame Japha hinüber, das[70] heißt eigentlich zu der Tochter, die unverheirathet im Hause ihrer Eltern lebte, und mit ihrer Händearbeit die Familie unterhalten half. Sie galt für eine der geschicktesten Näherinnen der Stadt, hatte theilweise auch die Ausstattung meiner Mutter genäht, und diese sah es gern, daß ich spielend von dem guten Mädchen die erste Anleitung zu Handarbeiten empfing. Ich war sehr gern bei ihr. Denn erstens ließ sie mich immer ihr gegenüber auf dem Stuhle am Fenster, nicht wie ich es zu Hause gewöhnt war, auf einem Kinderstuhle oder Bänkchen sitzen, und ich kam mir also bei ihr viel erwachsener als zu Hause vor. Zweitens konnte ich bei ihr unser Haus und die andere Seite der Straße sehen, und drittens gab sie mir auf eine Menge Fragen Bescheid, auf welche ich zu Hause keine Antwort erhielt.

Von ihr erfuhr ich, daß wir Juden wären, und daß man mir dieses zu Hause verschweige, weil die andern Leute die Juden nicht leiden könnten. Von ihr erfuhr ich auch die Namen und die Bedeutung und die Ceremonien der jüdischen Feiertage. Sie zeigte mir eine kleine blecherne Kapsel an ihrer Stubenthüre und sagte, darin wären die zehn Gebote, und die seien dort angehängt, damit man sie immer vor Augen und im Herzen habe. Dann ließ sie mich ein Gewebe von blau und weißer Wolle sehen, das ihr Vater auf dem Körper trug, und das auch die zehn Gebote bedeuten sollte. Sie zeigte mir einen Gebetmantel und ein langes weißes Hemde, das sie den Kittel nannte, und erzählte mir, das ziehe ihr Vater an dem größten Feiertage, an dem Tage der langen Nacht in der Synagoge an, wenn der liebe[71] Gott sich mit den Menschen wieder für ein Jahr versöhne, und wenn ihr Vater sterbe, werde er in diesem Hemde begraben werden.

Als ich zu Hause von diesen Dingen zu sprechen anfing, verwehrte man es mir nicht eigentlich, aber man ließ mich doch nicht recht damit aufkommen. Und als ich dann dringlich wurde, erhielt ich den Bescheid, daß ich solche Sachen noch nicht verstehen könne, ich würde das später einmal Alles erfahren. Auf die ganz bestimmt gethane Frage: »sind wir wohl Juden?« – versetzte mein Vater: Du bist unser Kind, und weiter geht Dich nichts an!

Damit war äußerlich die Angelegenheit abgethan, aber innerlich beschäftigte sie mich um so mehr, und die Juden und ihre Feiertage und Gebräuche wurden mir unheimlich und mystisch, anziehend und widerwärtig zugleich. Daß wir Juden wären, und daß es schlimm sei, ein Jude zu sein, darüber war ich aber mit fünf, sechs Jahren, noch ehe ich in die Schule gebracht wurde, vollkommen im Klaren. So hübsch wir in unsern seidenen Pelzchen auch angezogen waren, und so gut unsere stattliche Kinderfrau uns auch spazieren führte, so erlebten wir es doch manchmal, daß ganz zerlumpte, schmutzige Kinder uns im Tone eines Schimpfes: Jud'! nachriefen, und die Kinderfrau sagte dann immer, daran sei nur ich mit meinem schwarzen Haare schuld.

Ich weiß nicht, weshalb ich zu Hause von solchen Ereignissen auf der Straße nie etwas erzählte. In den Kindern ist das Bewußtsein oft so umnebelt und so unvollständig, und doch die Einsicht, welche sie zum Handeln[72] oder zum Unterlassen von manchen Dingen antreibt, so weit über ihr bewußtes Verständniß hinaus, daß sie oft klüger handeln als sie wirklich sind. Man möchte sagen, sie handeln aus einem Instinkte, der sie mehr und mehr verläßt, je nachdem das Bewußtsein in ihnen lebendig wird.

Ich ging aber von da ab nur noch lieber zu Mamsell Japha hinüber. Alles was die Familie besaß: ein jüdisches Gebetbuch, ein altes silbernes Balsambüchschen, wurden für mich Gegenstände von Bedeutung, von Werth, und wie unsere Kupferstiche mir die Gesammtheit der Kunst ersetzten und bedeuteten, so repräsentirte die gute Familie Japha mir in meiner Kindheit das religiöse und mystische Element. Stundenlang konnte ich mit einem zu säumenden Staubtuch bei Mamsell Japha sitzen, und fragen und fragen. Ich hatte sie lieb, denn sie war die erste Vertraute meines Lebens, die erste Person, mit der ich ein Geheimniß theilte. Wenn sie dann meiner Fragen müde wurde und stille saß, oder gar mit ihrer schwachen Stimme Lieder bei der Arbeit sang, die meist sehr sentimental waren, und unter welchen das Lied: »Hier ruhst Du Karl, hier werd' ich ruhn, mit Dir in einem Grabe!« mich zu Thränen rühren konnte, so oft ich es auch gehört hatte, denn alle Drehorgeln spielten es damals – dann begann ein andres Vergnügen und zwar ein wunderliches Vergnügen für mich: ich betrachtete sie. – Und sie war so unschön, die gute Seele! Ihr Gesicht war von Blatternarben entstellt, ihre Nase platt, ihr Mund groß, und dazu war in der Blatternkrankheit oder durch sonst einen Zufall eines ihrer Ohrläppchen in zwei Theile gespalten. Ich fand diese[73] an sich höchst geringe Verunstaltung ganz schrecklich. Ich dachte immer, ich würde froh sein, wenn sie nur dieses Ohrläppchen nicht hätte, aber ich konnte mitunter kein Auge davon abwenden, und stierte sie dann dumm und ungeschickt an, bis sie die großen Locken, welche man damals trug und Brill-Locken nannte, so weit herunterzog, daß sie mir den Anblick ihres Ohrs benahmen.

Diese Lust an dem, was ihn quält, bleibt dem Menschen auf geistigem Gebiete oft bis in sein spätes Alter, aber es ist immer etwas Ungesundes darin, und ich bin froh, daß ich sie in der Kindheit an so geringen Dingen abgebüßt habe, als meine Phantasie überhaupt noch selbstquälerisch war. Ich glaube, mehr unnöthige Angst als ich hat sich nicht leicht ein Kind geschaffen. Die Furcht vor einzelnen Eindrücken, wie vor dem Krähen eines Hahnes oder vor lauten Trompetenklängen, die mich in den ersten Lebensjahren ganz außer mich brachten, hatte mein Vater mir dadurch abgestumpft, daß er absichtlich Hähne im Hofe hielt, und mich immer selbst auf die Wachtparade brachte. Es war eine homöopathische Kur, die vielleicht nicht überall zu empfehlen ist, die bei mir aber ganz gut anschlug, denn jene Empfindlichkeit hörte sehr bald auf.

Indeß sie war auch eine Kleinigkeit neben den Schrecken, mit denen meine Phantasie mich ängstigte. Gespensterfurcht habe ich in früher Kindheit nicht gekannt, aber wenn man mich Abends zu Bett gelegt hatte, sah ich immerfort Gestalten vor Augen: Riesen, Städte, Vögel, Zwerge, bekannte Menschen, Bilder, die unablässig wechselten, unablässig in einander flossen, sich neu gestalteten, wieder verschwanden, deren Hast sich steigerte,[74] je mehr ich mich davor zu fürchten begann. Ich rief dann die Kinderfrau, weinte, hielt sie an der Hand fest, bat, sie solle mir etwas erzählen, ich wolle das nicht mehr sehen. Aber was sie mir auch erzählte, es schwamm gleich Alles wieder in meine Bilder hinüber, und ich ließ dann mit Weinen und Bitten nicht eher nach, bis sie hinabging mir die Eltern zu holen, denen es auch immer gelang mich zur Ruhe zu bringen. Eine Spur dieses unfreiwilligen Bildersehens vor dem Einschlafen ist mir durch mein ganzes Leben geblieben. Nur daß es jetzt selten kommt, etwa wenn ich krank bin, oder wenn ich mich einmal mit Arbeit besonders angestrengt habe, und daß es jetzt meinem Willen doch meist gelingt, Herr darüber zu werden, indem ich die Gedanken mit Gewalt auf einen Gegenstand hinwende. Es muß dieses Bildersehen aber wohl bei Vielen vorkommen. Der berühmte Physiologe Johannes Müller bezeichnet es als Plasticität der Phantasie im lichten und im dunklen Sehfelde, die er selbst besaß, und hat seine Empfindungsweise dabei besonders geschildert. Genau so, wie er es schildert, habe ich es an mir erfahren, nur daß ich nicht im Stande war, die Bilder willkürlich zu erzeugen, sondern daß ich ihrem Erscheinen in meiner Kindheit willenlos erlag, und daß ich auch jetzt, wenn irgend ein Zufall mir solch ein Bild vor dem Einschlafen wach gerufen hat, nicht die volle Freiheit habe, die Reihe der ihm folgenden Bilder selbstständig zu bestimmen. Sie haben für mich auch heute noch das Verschwimmende von dissolving views, und nur ihr Aufhören liegt meist in meiner Macht.

Es war in jener Zeit meiner ersten Kindheit, in den[75] Jahren achtzehnhundert und sechszehn und siebzehn, daß Frau von Krüdner ihr Wesen in Deutschland trieb, und die Unterhaltung über den von ihr prophezeiten Weltuntergang war damals ebenso im Gange, wie vor einem Jahre das Gespräch über den Zusammenstoß der Erde mit dem Kometen. Dazu muß in jener Epoche irgendwo die Pest sehr stark gewüthet haben, denn die Vorstellungen, daß die Pest kommen und wir Alle sterben, oder die Welt untergehen und wir so Alle unsern baldigen Tod finden würden, waren sehr zeitig in meinen Kopf gekommen und flößten mir ein unbeschreibliches Entsetzen ein. Wo ich eines Menschen habhaft werden konnte, auf dessen Lust zu antworten ich irgend rechnen durfte, fragte ich nach dem Weltuntergange und nach der Pest. Kein Eifersüchtiger sucht mehr die Bestätigung seines Unglücks zu erspähen, als ich mir die Gewißheit zu schaffen strebte, daß wir Alle umkommen würden; und hatte ich heute darüber geweint, daß ich sterben müsse, so jammerte ich morgen darüber, daß die Eltern sterben und ich dann allein bleiben würde.

Meine Eltern hatten große Geduld mit mir. Die Mutter saß oft stundenlang an meinem Bette, mich zu beschwichtigen, der Vater redete mir mit Ernst zu, so weit ich mit meinen sechs Jahren für Vernunftgründe zugänglich war. Half dann Nichts, so schalt er mich und gab mir bisweilen, was jedoch nie aus Heftigkeit, sondern aus voller Ueberlegung geschah, ein Paar Schläge, welche in diesen Fällen bei Kindern ebenso wirksam sind, als irgend ein ableitendes Blasenpflaster. Ich hörte im Schreck über die Schläge zu sprechen auf, und das war[76] die Hauptsache, denn Kinder überreizen sich oft mit ihren eigenen Reden. Die Schläge gaben meinen Gedanken eine natürliche Richtung; ich fing vor Schmerz zu weinen an und weinte mich so still in den Schlaf.

Waren aber die Eltern, wenn ein solcher Anfall über mich kam, nicht zu erreichen, so ging es mir allerdings nach meinen Begriffen noch weit schlimmer. Der Kinderfrau, welcher ein sehr altkluges, sehr ernsthaftes und dabei ihr oftmals unbegreifliches Kind eben keine angenehme Pflegebefohlene sein konnte, war es unerträglich, wenn meine Phantastik ihr die letzte stille Abendstunde verdarb, auf welche sie sich den Tag über vertröstet haben mochte, oder wenn ich sie gar hinderte, sich niederzulegen, weil ich sie bei der Hand an meinem Bette festhielt. Sie fuhr mich dann sehr heftig an, deckte mich fest zu, weil ich manchmal vor Angst bald kalt bald heiß war, und sagte drohend nach dem uns gegenüber liegenden Hause des Herrn Schulz hinweisend: »warte nur! der Herr Peppel kommt!«

Das Entsetzen, welches diese Worte mir und gelegentlich auch meinen Geschwistern einflößten, vermag ich so wenig zu beschreiben, als ich jetzt zu begreifen vermag, wie und weshalb der gute Herr Peppel uns dasselbe erregen konnte. Es gehört für mich zu den räthselhaften Erscheinungen in der Phantastik der Kinder, denn Nichts, auch nicht das Geringste bot einen Anlaß dar, den Mann furchtbar für uns zu machen.

Er konnte zwischen dreißig und vierzig Jahre alt sein, war Commis in einem Kaufmannshause und hatte ein stilles, durchaus freundliches Gesicht. Am Tage war[77] er, mit Ausnahme des Sonntags, wenig in seiner Wohnung. Morgens band er vor einem Spiegel an seinem Fenster sein weißes Halstuch um und kämmte sein Haar; Mittags, wenn er eine Weile nach Hause kam, las er am Fenster, und Abends waren seine Rouleaux herunter. Niemand aus unserm Hause kannte ihn persönlich, wir Kinder hatten nie mit ihm gesprochen, nie das geringste Böse von ihm gehört, und ich weiß nicht, wie die Kinderfrau darauf gekommen ist, ihn zum Schreckbild für uns zu wählen, wenn es nicht etwa der Umstand sein mochte, daß er von allen in unserer Nähe wohnenden Personen allein für uns Kinder eine Art unbekannter Größe war. Die Thatsache steht fest, daß wir eine Seelenangst vor Herrn Peppel hatten, und daß die bloße Nennung seines Namens, die bloße Drohung, er werde kommen, mir den kalten Schweiß auf die Stirne trieb, und mir noch fürchterlicher war, als die Vorstellungen von Pest und Tod und Weltuntergang, welche sonst mein Herz beängstigten.

Ich zweifle nicht, daß es eine große Anzahl von Kindern giebt, deren Phantasie sich solche Schreckbilder schafft, denn es wiederholt sich in jedem einzelnen Menschen die Entwickelungsgeschichte der Menschheit, wenn der Fortschritt der Gesammtheit auch für den Einzelnen die verschiedenen Stufen und Uebergangsepochen weniger bemerklich gemacht, und in ihrem Verlaufe auf die kürzeste Zeit herabgedrückt hat. Es war als müßte ich immer etwas haben, was mir Angst einflößte, dem gegenüber ich meine Ohnmacht empfand, und ich zog meine Schreckbilder niemals aus einer gespenstigen Welt herbei, sondern aus den Dingen, die mir aus der Wirklichkeit[78] entgegen traten. Mit Ausnahme der ganz thörichten Angst vor unserm Nachbar beruhten meine Befürchtungen immer auf einer an und für sich wirklich schreckhaften Sache, und hatten also einen vernünftigen Boden. Aber wie das ganz kleine Kind nach dem Monde langt, weil ihm der Begriff der Entfernung und der Maßstab für dieselbe fehlen, so konnte ich nicht ermessen, wie nahe oder wie fern die Dinge mir waren, welche mir Furcht machten, und meine Phantasie vernichtete zu meinem Schaden alle Trennungen durch Raum und Zeit.

Ob mit wirklichen Erklärungen in solchen Fällen Etwas zu machen ist, möchte ich bezweifeln. Es nützt nichts, wenn man dem Kinde sagt: das Land, in dem die Pest ist, oder das Land, in welchem die Erde gebebt hat, ist sehr weit von hier. Nähe und Ferne sind ihm keine deutlichen Vorstellungen. Es fragt sofort: aber warum kommt das Unglück nicht auch hieher? Was man ihm dafür zum Troste geben kann, sind Erfahrungssätze und die auf diese Erfahrungssätze gebauten Schlüsse, die dem Kinde nichts bedeuten können, und die ihre Wirkung augenblicklich verlieren, wenn die Augen der Eltern, aus denen es seine beste Beruhigung sucht, nicht mehr über ihm leuchten.

Es bleiben also in der Regel nur zwei Hilfsmittel übrig, die Beschäftigung der Phantasie mit heitern Bildern und mit fremden Personen, d.h. die Dichtung, namentlich das Mährchen – und eine Disciplinirung des unregelmäßig spekulirenden Verstandes durch den Unterricht. Und diese beiden Ableiter wurden mir denn auch geboten.[79]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 1, Berlin 1871, S. 67-80.
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