[107] Heute deiner zu gedenken,
Deren Grab die Nacht betaut,
Nahen wir mit Weihgeschenken
Und gedämpftem Klagelaut![107]
Warum war dir's nicht gegeben,
Mutig deinen Tag zu leben?
Chor:
Warum schwandst du vor dem Ziel,
Allerlieblichstes Gespiel?
Braune, schwermutvolle Augen,
Öffnet euch ein letztes Mal!
Laßt aus euren Tiefen saugen
Mich noch einen süßen Strahl!
O wie hatt ich euch so gerne,
Traute, träumerische Sterne –
Chor:
Sanften Schlummer, gute Ruh!
Tu die Augen wieder zu.
Wie das Schüttern zarter Saiten
Schlichen sich in jedes Herz
Deine stillen Lieblichkeiten,
Deiner Züge leiser Schmerz!
Feuchte Waldesschatten lagen
Über dir in Lenzestagen –
Chor:
Schwermut, Königin der Nacht,
Hat ihr Mägdlein umgebracht.
Wie ein Reh dem Wald entronnen,
Das ein üppig Tal entdeckt,
Nahtest schüchtern du dem Bronnen,
Bebst, vom eignen Bild erschreckt!
Ängstlich, wo sich Wege teilen,
Seh ich zweifeln dich und weilen –
Chor:
Ohne Glauben an das Glück,
Flohst ins Dunkel du zurück!
Zeigte jung ein arger Spiegel
Dir den Wurm in jeder Frucht?
Schwebte nahen Todes Flügel
Über dir mit Eifersucht?
Nie hat dich ein Arm umschlossen,[108]
Liebe hast du nie genossen –
Chor:
In der Sel'gen keuschen Hain
Tratest unvermählt du ein.
Willig stiegest du die Stufen
Nieder in dein frühes Grab,
Wandtest dich, von uns gerufen,
Lächelnd um – und stiegst hinab!
Mit gelassener Gebärde
Schiedest du vom Grün der Erde –
Chor:
Ließest du das süße Licht,
Doch vergessen bist du nicht!
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte (Ausgabe 1892)
|
Buchempfehlung
Erst 1987 belegte eine in Amsterdam gefundene Handschrift Klingemann als Autor dieses vielbeachteten und hochgeschätzten Textes. In sechzehn Nachtwachen erlebt »Kreuzgang«, der als Findelkind in einem solchen gefunden und seither so genannt wird, die »absolute Verworrenheit« der Menschen und erkennt: »Eins ist nur möglich: entweder stehen die Menschen verkehrt, oder ich. Wenn die Stimmenmehrheit hier entscheiden soll, so bin ich rein verloren.«
94 Seiten, 5.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.
456 Seiten, 16.80 Euro