[172] Dem Herren der Erdkreiß zusteht.
Gleich wie ein Hirsch mit schneller Flucht
Ein frisches Quell im Walde sucht
Und embsig läufft nach kühlen Bächen;
So ist auch meine Seel', o Gott,
Sie dürstet nach dir in der Noth
Und sehnet sich, dich anzusprechen.
Sie stirbt für Durst und wündscht zu sein
Umb ihren Gott; er ists allein
Durch den ihr Trauren wird benommen.
Ach, soll ich dann nicht bald hin gehn
Und ihm für seinen Augen stehn,
Will nicht der schöne Tag schier kommen?
[172]
Ich weine durch die gantze Nacht
Und wann der Tag sich zu uns macht
So sind mein Morgenbrod die Threnen;
Dieweil man allzeit zu mir spricht:
Wo ist dein Gott? nun kömpt er nicht,
Nach dem du dich so pflegst zu sehnen.
Mein Hertze springt im Leib' entzwey,
Wann ich bedencke, wie ich sey
In meines Gottes Hauß getretten
Und wie ich voller Freudigkeit
Umbringt vom Volcke für der Zeit
Geopffert habe mit Gebeten.
Doch sorge nicht, wirff alles hin,
O meine Seel', und hoff' auff ihn:
Warumb wilst du solch Leidt erweisen?
Er lebet noch und wird sich bald
Erzeigen als dein Auffenthalt,
Und du wirst ihn in Kürtzen preisen.
Mein Geist ist gantz bestürtzt in sich,
Weil ich, mein Gott, gedenck' an dich
Und muß verjagt ins Elendt gehen,
Hier wo man jenseit den Jordan
Den Misarsberg auff wüster Bahn,
Und Hermons Hübel siehet stehen.
Doch wann ein schwartzer Abgrund schon
Den andern rufft, daß auch darvon
Nichts unerschüttert bleibt auff Erden,
Wann gleich der tieffen Schleusen Schaum
So hoch schlägt, daß die Felsen kaum
Für ihm erblicket mögen werden,
Wann alle deine Ströme sich
Erhüben und bedeckten mich
Mit ihrem Sturm und rauen Wellen,
So würde doch mein Athem hier,
Mein Geist der würde für und für
Auff dich nur seine Hoffnung stellen.
Ich weiß, daß deine Gütigkeit
Sich liesse sehn bey Tagezeit,
Daß ich befreyt von andern Dingen
Mit Ruh hernachmals auff die Nacht
Von deiner Güt' und grossen Macht,
O höchster Vatter, köndte singen.
Mein Felß, auff den ich gantz gebaut,
O Gott, dem meine Seele traut,
Will ich mit Eyfer zu ihm sagen:
Gedenckst du dann an mich jetzt nicht?
Gestehst du, daß mein Hertze bricht,
In dem die Feinde mich so plagen?
Es scheint ein scharffes Schwerd zu seyn
Und dringet mir durch Marck und Bein,
Wann ich die grosse Schmach muß hören,
Daß mich der Feind in meiner Noth
Noch höhnt und spricht: Wo ist dein Gott,
Den du so heilig pflegst zu ehren?
Doch sorge nicht; wirff alles hin,
O meine Seel', und hoff' auff ihn;
Warumb wilst du solch Leidt erweisen?
Er lebet noch und wird sich bald
Erzeigen als dein Auffenthalt,
Und du wirst ihn mit Freuden preisen.
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