Die Riesendame der Oktoberwiese

[323] Die Zeltwand spaltete sich weit,

Und eine ungeheure Glocke wuchtete

Herein. »Emmy, das größte Wunder unsrer Zeit!«

Dort, wo der Hängerock am Halse buchtete,

Dort bot sich triefenden Quartanerlüsten

Die Lavamasse von alpinen Brüsten,

Die majestätisch auseinanderfloß.

»Emmy, der weibliche Koloß.«

Hilflose Vorderschinken hingen

Herunter, die in Würstchen übergingen.

Und als sie langsam wendete: – Oho! –

Da zeigte sich der Vollbegriff Popo

In schweren erzgegoßnen Wolkenmassen.

»Nicht anfassen!«

Und flüchtig unter hochgerafften Segeln
[323]

Die Riesendame der Oktoberwiese

[324] Sah man der Oberschenkel Säulenpracht.

Da war es aus. Da wurde gell gelacht.

Ich wußte jeden Witz zu überflegeln,

Und jeder Beifall stärkte meinen Schwung.

Die Dicke schwieg. Ich gab die Vorstellung.


Besonders lachten selbst recht runde Leute.

Ich wartete, bis sich das Volk zerstreute.


Nacht war es worden. Emmy ließ sich dort,

Wo sie gestanden, dumpf zum Nachtmahl nieder.

Sie schlang mit Gier, doch regte kaum die Glieder.

»Sag, Emmy, würdest du ein gutes Wort,

Das keinen Witz und keine Neugier hat,

Von einem, der dich tief betrauert, hören?«

Sie sah nicht auf. Sie nickte kurz und matt:

»Nur zu! Beim Essen kann mich gar nichts stören.«


»Emmy! Du armes Wunderwerk der Zeit!

Du trittst dich selbst mit ordinären Reden,

Mit eingelerntem hohlen Vortrag breit.

Du läßt die schlimme Masse deines Fettes

Von jedem Buben, jeder Dirne kneten.

Man kann den Scherz vom Umfang deines Bettes,

Der Badewanne bis zum Ekel spinnen.

Und so tat ich. Und konnte nicht von hinnen.

Ich dachte mich beschämt in dich hinein.

Es müßte doch in dir, in deinem Leben

Sich irgendwo das Schmerzgefühl ergeben:

Ein Dasein lang nicht Mensch noch Tier zu sein.«

Hier hielt ich inne, dachte zaghaft nach.

Bis ein Geräusch am Eingang unterbrach.


Es nahte sich mit wohlgebornen Schritten

Der Elefant vom Nachbarzelt

Und sagte: »Emmy, schwerste Frau der Welt,

Darf ich um einen kleinen Beischlaf bitten?«


Diskret entweichend konnte ich noch hören:

»Nur zu! Beim Essen kann mich gar nichts stören.«

Quelle:
Joachim Ringelnatz: Das Gesamtwerk in sieben Bänden. Band 1: Gedichte, Zürich 1994, S. 323-325.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Allerdings
Allerdings
Allerdings: Gedichte

Buchempfehlung

Anonym

Schau-Platz der Betrieger. Entworffen in vielen List- und Lustigen Welt-Händeln

Schau-Platz der Betrieger. Entworffen in vielen List- und Lustigen Welt-Händeln

Ohnerachtet Schande und Laster an ihnen selber verächtlich / findet man doch sehr viel Menschen von so gar ungebundener Unarth / daß sie denenselben offenbar obliegen / und sich deren als einer sonderbahre Tugend rühmen: Wer seinem Nächsten durch List etwas abzwacken kan / den preisen sie / als einen listig-klugen Menschen / und dahero ist der unverschämte Diebstahl / überlistige und lose Räncke / ja gar Meuchelmord und andere grobe Laster im solchem Uberfluß eingerissen / daß man nicht Gefängnüsse genug vor solche Leute haben mag.

310 Seiten, 17.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon