Die Herrlichkeit der Schöpfung

[43] Eine Phantasie


Vorüber war der Sturm, der Donner Rollen

Das hallende Gebirg hinein verschollen,

Geflohn die Dunkelheit;

In junger Schöne lächelten die Himmel wieder

Auf ihre Schwester, Gottes Erde, nieder

Voll Zärtlichkeit.

Es lagen lustig da die Auen und die Tale,

Aus Maigewölken von der Sonnen Strahle

Holdselig angelacht:

Die Ströme schimmerten, die Büsch und Wäldchen alle

Bewegten freudig sich im tauigen Kristalle,

In funkelndlichter Pracht.

Und sieh! da hebt von Berg zu Berg sich prächtig ausgespannt

Ein Regenbogen übers Land. –


In dieser Ansicht schwamm vom Brocken oben

Mein Auge trunken, als ich aufgehoben

Mich plötzlich fühlte... Heilig heilge Lüfte kamen,

Umwebten zärtlich mich, indessen über mir,

Stolztragend übers All den Ewigen daher,

Die innre Himmel majestätisch schwammen.


Und itzt trieb ein Wind

Fort die Wolken, mich auf ihrem Zuge,

Unter mir wichen im Fluge

Schimmernde Königesstädte zurück,

Schnell wie ein Blick

Länderbeschattende Berge zurück,

Und das schönste Gemisch von blühenden Feldern,[43]

Goldenen Saaten und grünenden Wäldern,

Himmel und Erde im lachenden Glanz

Wiegten sich um mich im sanftesten Tanz.


Da schweb ich nun in den saphirnen Höhen

Bald überm unabsehlich weiten Meer;

Bald seh ich unter mir ein langes Klippenheer,

Itzt grausenvolle Felsenwüsten stehen,

Und dort den Frühling mir entgegenwehen;

Und hier die Lichteskönigin,

Auf rosichtgoldnen Wolken hingetragen,

Zu ihrer Himmelsruhe ziehn.


O welch Gesicht! Mein Lied! wie könntest du es sagen,

Was dieses Auge trank vom weltumwandelnden Wagen?

Der Schöpfung ganze Pracht, die Herrlichkeit,

Die in dem Einsamen der dunkeln Ewigkeit

Der Allerhöchste ausgedacht

Und sich zur Augenlust, und euch, o Menschen!

Zur Wohnung hat gemacht,

Lag vor mir da!... Und welche Melodien

Dringen herauf? welch unaussprechlicher Klang

Schlägt mein entzücktes Ohr?... Der große Lobgesang

Tönt auf der Laute der Natur!... In Harmonien

Wie einen süßen Tod verloren, preist

Den Herrn des Alls mein Geist!


Quelle:
Friedrich Schiller: Sämtliche Werke, Band 1, München 31962, S. 43-44.
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