Der Verlassene

[203] »Rosen, süße Marianna,

Marianna, süße Rosen

Reicht dir hold dein holdes Kindlein,

Treu zu schmücken deinen Frohen.

Grün verhüllt noch Knospe diese,

Andre prangen freudig offen.

Eine, eine nur gewelket,

Unter diesen vielen Rosen!« –

»Diese eine,« sprach Maria,

»Diese eine magst du loben;

Wenn die rote Hülle bleichet,

Atmet frei die Liebe oben.« –

Als nun heil'ge Luft gehauchet,

Ward die Seele fortgezogen;

Ihre und der seinen Seele,

Und das Kindlein glänzt noch holder,

Frisch im Arm der bleichen Mutter,

Die es schlummernd angesogen.

Weh, daß sie entflohen!

Und den Jüngling traf es heimlich,

Daß der Frühling ihn betrogen.

Leise sprach der hohe Jüngling:

»Schöne Augen sind verloschen,

Doch der Himmel glänzt nur heller.

Rosenschein hat sich ergossen;[203]

Könnte den dein Händchen greifen,

Dürft' ich nicht mehr irre folgen.

Keine Stunde darf ich zaudern;

Lächle, Mädchen, mir gewogen!

Marianna, unsre Mutter,

Marianna, meine Rose,

Leuchtet rot am blauen Himmel,

Wo die tiefen Augen locken,

Bis ich in Azur zerflossen.

Weh, daß sie entflohen!« –

Doch das Kindlein lachte fröhlich,

Schlug die blauen Augen offen;

Daß die Mutter wieder käme,

Mocht' es wohl im stillen hoffen.

Drum so mocht' es fröhlich lachen,

Seinen lieben Vater kosen,

Haschte nach den bunten Lüften,

Denn die Welt erschien ihm golden.

»Deine Züge sind wie ihre,

Die ich nie mehr sehen sollte;

Deine Augen sind gleich ihren,

Als ob trinken sie mich wollten,

Und du lächelst wie Maria,

Die im Lächeln mir entflohen.

Weil Maria mich verlassen,

Weiß ich nichts mehr von der Tochter.

Weh, daß sie entflohen!« –

Irrend eilt' und irrt' er weiter,

Wollte gern den Geist ermorden,

Träumte kindisch tief und tiefer,

Und vergaß, daß sie gestorben.

Leise weint' er in die Laute,

Bis zum Hauche er geworden;

Glänzend schimmert noch die Träne,

Wie im Blau der Himmelsbogen.

Glänzend blühet auch das Kind,

Wie im Licht die rote Rose.

Nach dem heiter blauen Lande

Wo die süße Mutter wohnet,

Wandte sie die jungen Blicke,

Wie die Blume nach der Sonne,

Und man hieß sie Cölestine,[204]

Weil so himmlisch blüht die Knospe,

Wie die junge Mutter blühte,

In der Liebeslust Aurora.

Weh, daß sie entflohen!


Quelle:
Friedrich von Schlegel: Dichtungen, München u.a. 1962, S. 203-205.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Der Condor / Das Haidedorf

Der Condor / Das Haidedorf

Die ersten beiden literarischen Veröffentlichungen Stifters sind noch voll romantischen Nachklanges. Im »Condor« will die Wienerin Cornelia zwei englischen Wissenschaftlern beweisen wozu Frauen fähig sind, indem sie sie auf einer Fahrt mit dem Ballon »Condor« begleitet - bedauerlicherweise wird sie dabei ohnmächtig. Über das »Haidedorf« schreibt Stifter in einem Brief an seinen Bruder: »Es war meine Mutter und mein Vater, die mir bei der Dichtung dieses Werkes vorschwebten, und alle Liebe, welche nur so treuherzig auf dem Lande, und unter armen Menschen zu finden ist..., alle diese Liebe liegt in der kleinen Erzählung.«

48 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon