|
[308] Heut reiße dich, o Seele! los
Von deiner Sklavenbürde!
Fleuch auf, Unsterbliche! sei groß,
Und singe deine Würde,
Voll Majestät, wie Orgelton,
Erhaben, wie Isais Sohn,
Und hoch, wie Adler fliegen.
Sie, die in unerflogner Höh'
Die Cherubsflügel schwinget,
Und tief ins Unermeßliche
Mit edler Kühnheit dringet,
Die immer steigt, und niemals ruht,
Die Seele, diese Gottesgluth
Soll einst verlöschen können?
Ein Geist, der sich in Tiefen senkt
Und in die Höhen fähret,
Ein Wesen, das den Schöpfer denkt,
Ein Wille, der ihn ehret,
Ein Herz, das sich in Wahrheit übt,
Und dich, Unendlicher! dich liebt,
Das soll der Tod zerstören? –
Soll denn dein Hauchen, Jehovah,
So leicht, wie Wind, verwehen?
So hat umsonst der Golgatha
Des Mittlers Blut gesehen?[308]
So wallt vergeblich Gottes Geist,
Der Kraft und Heiligung verheißt,
Auf uns im Bade nieder?
So ist kein flammendes Gericht
Für Sünder, die Ihn hassen?
So sollen seine Donner nicht
Des Sünders Scheitel fassen?
So lebt der Thor im Ueberfluß?
Und Weisheit soll, wie Lazarus,
In Bettlerslumpen sterben?
Entreiße dich, verzagter Geist,
Dem bangen Todesschauer!
Selbst deine Zweifelsucht beweist
Der Seele ew'ge Dauer;
Und jeder Kummer, der dich quält,
Und jedes Glücke, das dir fehlt,
Spricht laut von deinem Adel.
Soll Gott, der jedes Wesen schafft,
Der Schöpfung Ruhm zu mehren,
Die Geister, seine beste Kraft,
Sein Meisterstück, zerstören?
Zwar fallen dich die Zweifel an:
Gott ist es, der zerstören kann!
Doch will er dich zerstören?
Du Gott der Wahrheit! nur dein Wort
Kann bange Zweifel heben.
Ich traue dir! es sollen dort
Die Seelen ewig leben.
Dort soll die Tugend glücklich sein,
Und Laster schluckt die Hölle ein –
So glaubt der Christ, und schweiget.
Drum reiße dich, o Seele! los
Von deiner Sklavenbürde.
Fleuch auf, Unsterbliche! sei groß
Und fühle deine Würde![309]
Es ist ein Gott und ein Gericht,
Drum sinke meine Seele nicht
Zum Staub der Erden nieder.
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte
|
Buchempfehlung
Ohnerachtet Schande und Laster an ihnen selber verächtlich / findet man doch sehr viel Menschen von so gar ungebundener Unarth / daß sie denenselben offenbar obliegen / und sich deren als einer sonderbahre Tugend rühmen: Wer seinem Nächsten durch List etwas abzwacken kan / den preisen sie / als einen listig-klugen Menschen / und dahero ist der unverschämte Diebstahl / überlistige und lose Räncke / ja gar Meuchelmord und andere grobe Laster im solchem Uberfluß eingerissen / daß man nicht Gefängnüsse genug vor solche Leute haben mag.
310 Seiten, 17.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.
434 Seiten, 19.80 Euro