Neujahrswunsch auf dem Münster

[201] 1776.


Schau hinab, o Gott, auf deine Erde,

Sieh der Menschen ängstliches Gewühl.

Ach da gibt's, du weißt's ja, viel Beschwerde.

Und des Stoffs zu Thränen gibt es viel.


Christen gibt es, die sich scheun zu sagen,

Daß sie Christus, daß sie Gottes sind;

Weise gibt es, die die Thoren tragen,

Und mit ihren Seufzern spielt der Wind;


Tugendhafte, die den Strom der Laster

Fürchterlich vorüberziehen sehn,

Auf dem Strome segelt ein verhaßter

Wütherich, taub für der Menschen Flehn;


Greise, die mit dünnen weißen Haaren,

Mit des Fluches schrecklichem Gewicht

Ach hinunter in die Grube fahren,

Denn ihr Enkel ist ein Bösewicht!


Unschuld, die am Todeshügel jammert,

Wo der Vater, wo die Mutter ruht;

Wie sie da das Todtenkreuz umklammert,

Wie sie ächzt: Ach, rettet euer Blut![201]


Denn sie scheucht der Lüstling, der zum Raube

Im Gebeinhaus tückisch sich verbirgt:

Wie der Geier, der die fromme Taube

Selbst auf Tempelzinnen niederwürgt.


Patrioten, die am Eichenstamme

Mit gesenktem, trübem Blicke stehn:

Ach, sie sehn mit unterdrückter Flamme

Deutsche Sitt' und Freiheit untergehn.


Jünglinge, beim dumpfen Traurgeläute

Langsam schreitend zu der schwarzen Gruft,

Um die schönste, edelste der Bräute

Jammert ihre Klage in die Luft.


Vater! alle diese Menschen unten

Müssen sterben – deine Engel nicht!

Sterben – ach mit heißen offnen Wunden,

Zittern vor Verwesung und Gericht.


Schöpfer! Vater, ach erbarm dich ihrer,

Sieh dies Wimmeln deiner Kinder an;

Alle brauchen Hülfe; sei ihr Führer

Auf des Lebens dornenvoller Bahn.


Sieh, auf dieses Thurmes luft'gen Höhen

Bitt' ich dich mit hochgehobner Hand:

Wie die Eiche tiefgewurzelt stehen

Laß mein Vaterland, mein Vaterland,


Unsern Kaiser! Laß die Fürsten leben,

Dir nachahmend, ohne blut'gen Zwist;

Aber laß sie vor dem Donner beben:

Daß du Richter aller Fürsten bist.


Reiß dem Heuchler in der Wahrheit Lichte

Seine schwarze Larve vom Gesicht,

Aber ist die Larve vom Gesichte,

So beschäme, nur verdamm' ihn nicht.[202]


Wenn der Wald, wenn Felsen wiederschallen,

Frevler, deinen Greul und deinen Spott;

O so tönen dieses Tempels Hallen:

»Eine feste Burg ist unser Gott!«


Gib uns Dichter, die von Tugend glühen,

Die, wie Klopstock, von der Ewigkeit

Kühn den lichtgewebten Vorhang ziehen,

Und von deutscher Biederherzigkeit.


Dient das rasche Feuer kühner Jugend,

Dient die Himmelsflamme, das Genie

Nicht der Wahrheit, nicht der Schönheit, Tugend;

So verlösch' es! so vertilge sie!


Stärk den Müden, der des Lebens Plagen,

Seine Lasten duldet friedsam still;

Donner sollen den Tyrannen schlagen,

Der des Schweißes Frucht ihm rauben will!


Gib dem Mangel Speise, Trank und Hülle,

Gib dem Armen – ach mir bricht das Herz –

Gib dem Armen von des Reichen Fülle,

Lindre du des müden Pilgers Schmerz.


O dann wölbt sich ruhig einst der Hügel

Meines Grabes über mir: o Glück!

Laß ich doch, beweht von Gottes Flügel,

Dich, du liebes Vaterland, zurück.

Quelle:
Christian Friedrich Daniel Schubart: Gedichte. Leipzig [o.J.], S. 201-203.
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