An Lischen

[445] Schwäbisches Bauerlied.


Liebes Lischen, laß mich doch

Nur ein wenig klagen!

Eile nicht, ich habe noch

Vieles dir zu sagen.


Seit der Ernte bin ich dir

Täglich nachgeschlichen;

Aber listig bist du mir

Immer ausgewichen.


Sieh, ich bin dir gut, und du

Hältst mich immer schlechter;

Ja, ich werde noch darzu

Allen zum Gelächter.


Weißt du noch? Am Erntetanz

Sprangest du so munter;

Und da fiel der Blumenkranz

Dir vom Kopf herunter.


Husch! da griff ich eilend zu,

Dachte voll Entzücken,

Für die Mühe würdest du

Dankbarlich mir nicken.


Losgegangen war ein Band;

Das ergriff ich sachte,

Bis ich's langsam mit der Hand

Auf die Seite brachte.


Holla! dacht' ich, meinem Hut

Soll es trefflich stehen;

Doch du hattest gar zu gut,

Was ich that, gesehen.


Das ist schön! so fingst du an,

Willst du mich bestehlen?

Seht den feinen Dieb! Er kann

Seinen Raub nicht hehlen.[446]


Feuerroth ward mein Gesicht;

Wie vom Blitz geschlagen

Stand ich da, und konnte nicht

Eine Silbe sagen.


Alle Bauern stellten sich

Um mich her, und machten

Mich zu Schanden; nannten mich

Einen Dieb – und lachten.


Lischen, sieh, das war nicht fein,

Meiner so zu lachen,

Und mich vor dem ganzen Reih'n

Zum Gespött zu machen.


Sage, hast du denn bei dir

Solche Lust empfunden,

Als die hellen Zähren mir

In den Augen stunden?


Sieh, ich bin dir doch so gut,

Sei mir's auch ein bischen!

Mehr noch, als mein eigen Blut,

Lieb' ich dich, mein Lischen.

Quelle:
Christian Friedrich Daniel Schubart: Gedichte. Leipzig [o.J.], S. 445-447.
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