Zur silbernen Hochzeit

[211] Aus einem Festzuge


Gott Amor


Wieder führ ich heut den Zug

Wie beim ersten Feste;

Amor bleibt die Hauptperson

In der Zahl der Gäste.


In mein Antlitz bringt die Zeit

Fältchen nicht noch Falte;

Doch wie jung ich immer bin,

Bin ich doch der Alte.


[211] Zwei Kinder


Erstes


Wir sind zwei Kinder hier vom Haus

Und folgen mit Bedachte

Dem kleinen Gotte, der Mama

So unendlich glücklich machte.


Zweites


Ja, lachet nur! Wir kommen auch

In seinen Rosentempel.

Die ältste Schwester hat schon gezeigt,

Die Kinder nehmen Exempel.


Ein Bettelkind


Zürnt mir nicht, verehrte Frau,

Daß auch ich Euch gratuliere!

Armut ist ein schlechter Gast,

Furchtsam tret ich in die Türe.


Draußen stand ich, und ich sah

Alle Fenster hell erleuchtet;

Und ich dachte, wie so oft

Ihr mir milde Gabe reichtet.


Gönnt nur einen Augenblick,

Mich an Eurem Glück zu weiden!

Schwester weint zu Haus nach Brot –

Ach, wir haben wenig Freuden.


Der Bettelvogt

Zum Jubilar


Verzeihen Sie, Herr Bürgermeister!

So sehr man seine Pflichten kennt,

Das Bettelvolk wird immer dreister,

Sosehr man vigiliert und rennt.
[212]

Soeben sah ich solchen Rangen

Verdächtig schleichen an den Treppen;

Wenn es vergönnt, ihn einzufangen,

Werd ich ihn sacht zu Loche schleppen.


Der Narr


Der Narr macht seine Reverenz,

Der gute derbe Geselle!

Ihr hörtet wohl von weitem schon

Das Rauschen seiner Schelle.


Als alter Hausfreund bin ich ja

Notwendig bei dem Feste;

Denn hörtet ihr die Klapper nicht,

Euch fehlte doch das Beste.


Ein tücht'ger Kerl hat seinen Sparrn!

Das ist unwiderleglich;

Und hat das Haus nicht seinen Narrn,

So wird es öd und kläglich.


Hier war ich manchen guten Tag

Gastfreundlich aufgenommen;

Heil diesem vielbeglückten Haus,

Wo auch der Narr willkommen!


Quelle:
Theodor Storm: Sämtliche Werke in vier Bänden. Band 1, Berlin und Weimar 41978, S. 211-213.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte (Ausgabe 1885)
Gedichte
Laß mich ruhn in deinem Arm: Die schönsten Liebesgedichte. Ausgewählt von Hark Bohm (Lyrik)
Gedichte (insel taschenbuch)
Die schönsten Liebesgedichte (insel taschenbuch)
Gesammelte Werke: Gedichte, Märchen und Spukgeschichten, Novellen

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Das neue Lied und andere Erzählungen 1905-1909

Das neue Lied und andere Erzählungen 1905-1909

Die Sängerin Marie Ladenbauer erblindet nach einer Krankheit. Ihr Freund Karl Breiteneder scheitert mit dem Versuch einer Wiederannäherung nach ihrem ersten öffentlichen Auftritt seit der Erblindung. »Das neue Lied« und vier weitere Erzählungen aus den Jahren 1905 bis 1911. »Geschichte eines Genies«, »Der Tod des Junggesellen«, »Der tote Gabriel«, und »Das Tagebuch der Redegonda«.

48 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon