Zehn Prozent

[419] Jeden Sonnabend hat dir der Mann mit der Mütze die kleine gelbe Lohntüte gegeben und du hast dir die zwei blauen Scheine herausgenommen und noch das übrige kleine Geld gezählt, was drin war. Es langte nicht weit, denn wenn du damit nach Hause kamst, bekam die Frau das meiste, und dir blieb nicht allzu viel.

Es ist noch weniger geworden.

Jetzt fehlen ein paar Scheine. Und wenn du auf dem Nachhauseweg nachrechnest, so merkst du auf Heller und Pfennig was fehlt. Zehn Prozent.

Und während du die lange Straße mit den trüben Laternen und dem fahlen Himmel darüber heruntergehst, zur Bahn, überlegst du dir langsam, was wohl mit den Scheinen da, mit dem Geld, das man dir abgezogen hat, geschieht.

[419] Die Gelder werden wohl zusammengerechnet, die abgeknappsten Löhne von dir und deinen Kameraden, und durch irgendeine Verrechnung wird das Ganze dem Staat überwiesen. Nun hat es der Steuerfiskus. Und was macht der damit?

Er bezahlt seine Beamten. Er bezahlt seine Soldaten. Und er hat viele Beamte und Soldaten.

Nichts gegen die einzelnen Menschen, die da der Staat angestellt hat. Die haben auch Frau und Kinder und müssen leben. Und leben mitunter recht kärglich.

Aber wen bezahlt er alles davon! Er bezahlt den Fünfmilliarden-Etat des Reichswehrministeriums, er bezahlt die ungezählten Abwicklungsstellen, die Orden verleihen und auch sonst noch große Zeit spielen, er bezahlt Organisationen und Organisationen . . . Wie kommt das?

Deutschland hat einen Überfluß von sogenannten gebildeten Menschen, bei denen es zu einer wirklichen nutzbringenden Arbeit nicht langt und die deshalb darauf angewiesen sind, etwas zu tun, was so aussieht, wie wirkliche Arbeit: zu organisieren. Es ist für einen einigermaßen fixen Kerl eine Kleinigkeit, eine neue Reichsstelle ins Leben zu rufen. Wir wissen doch alle, wie das gemacht wird.

Ein Assessor hat einen Freund bei der Regierung, der Regierungsrat ist, und der bemüht sich nun, seinen Korpsbruder unterzubringen. Ganz einfach ist das nicht, aber schließlich gelingt es, nachdem man den bekannten maßgebenden Stellen klargemacht hat, es sei unbedingt nötig, eine Zentralstelle zur Erforschung der Wasserklosetts in Süd-Uruguay zu begründen. Geschieht. Krach mit dem Finanzministerium, wegen der Höhe der Beamtenzahl. Einigung: die Hälfte (genau die Hälfte zu viel). Die Bürofrage wird auf Kosten von privaten Wohnungssuchenden gelöst, und dann geht es los: Beamtenapparat, Registratur, Sekretäre, Assessoren, wissenschaftliche Hilfsarbeiter, Tippdamen, Nachtportiers und an der Spitze jener, der es alles unter sich hat.

Das bezahlt der Staat nun von deinen Steuern. Und für die sechs Stunden Büroarbeit, die zu drei Viertel der Krach mit der Konkurrenzstelle ausfüllt, werden die Leute ganz gut bezahlt.

Von deinen paar Lappen zahlt er die ›Propaganda‹. Ich weiß nicht genau, was das ist, aber jeder zweite Mensch in Deutschland macht heutzutage Propaganda. Weil die Engländer sich bei einer klugen Sache der Propaganda bedienten, glauben diese Hohlköpfe, die Propaganda genüge, und auf die kluge Sache käme es nicht an. Und nun machen sie eine Wirtschaft mit Pressestellen und Flugblättern und Heften, die kein Mensch liest, und mit Plakaten . . . Sie stehen sich ganz gut dabei. Es gibt zum Beispiel eine Zentrale für Heimatdienst; was die macht, weiß kein Mensch. Propaganda? Macht lieber eine deutsche Propaganda in Bayern.

[420] Was der Staat alles von deinen zehn Prozent bezahlt! Er bezahlt den Bundesstaatunfug. Diese entsetzliche Sucht aller deutschen politischen Skatbrüder, selber, selber, selber Regierungsmänner zu spielen, ohne es je zu sein. Es gibt zum Beispiel einen preußischen Gesandten in Dresden. Da sitzt nun der arme Mann unter diesem unzivilisierten Indianerstamm der Sachsen, mitten in Feindesland, und vertritt die Interessen seines lieben Heimatstaates. Auf seinem Palais flattert stolz die preußische Fahne, und ob er nachts die Tore der Gesandtschaft verrammelt, weiß ich nicht. Ist das nicht eine ganz nutzlose, unfruchtbare, leere Arbeit, die der Mann leistet? (Nebenbei heißt dieser Legationsclown von Berger und war früher einmal Staatskommissar der öffentlichen Ordnung, die jetzt sein Gesinnungsgenosse Weismann, spielend in des Wortes wahrster Bedeutung, hütet.) Das ist zum Beispiel so ein typischer Fall der Unterbringung: der Mann mußte damals nach dem Kapp-Putsch entfernt werden – aber nur von seinem damaligen Posten. Berger vergeht nicht.

Was der Staat alles so von deinen Steuern bezahlt! Auf jeden Kommunisten in Deutschland kommen rund zwei Generalmajore, vier Pferde, ein Maschinengewehr, 19 Oberleutnants und 82 altgediente Unteroffiziere, die treu auf dem auswechselbaren Boden der Regierung stehen. Von den vielen Wehren zu schweigen, den Flurschützen, den Selbstschutzwehren, den Stranddetachements – was ist das alles?

Das ist die ausgezeichnete Organisation einer im Kriege schwer blamierten Minderheit, die die alten Formen und damit den alten Geist zu wahren versucht. Es ist ihr gelungen. Es ist ihr so gelungen, daß diese alten Offizierkorps, diese neuen Verbände und all das Geschmeiß bewaffneter Militaristen heute so groß dasteht wie je und das mit finanzieller Unterstützung der Regierung. Von deinen Steuergroschen.

Das Finanzministerium hat jetzt die Vollmacht erhalten, Kommissionen zur Prüfung der Notwendigkeit von Amtsstellen auszuschicken. Seeckt wird lachen, Geßler wird stramm stehen und die Finanzkommissionen werden mit hangendem Hosenboden abziehen. Wer regiert bei uns? Der Soldat.


Du zerbrichst dir deinen Kopf, wie du statt wie sonst mit 900 Mark nur mit 810 M. auskommen sollst. Mutter ringt die Hände: Anton braucht neue Stiefel, und Ernas Hemden gehen nun aber wirklich nicht mehr. Früher bist du regelmäßig ins Theater gegangen und du erinnerst dich noch sehr genau, daß du anfingst, dir ein paar gute wissenschaftliche Bücher hinzustellen. Es war gar nicht so teuer . . . Dann kam die große Zeit. –

Und keiner, der sie heraufbeschworen hat, und keiner, der in vier Jahren das Maul so voll genommen hatte von der schweren Verantwortung,[421] die er trüge – keiner von denen ist beschädigt zurückgekehrt. Dem Greis in Amerongen haben sie sein Geld über die Grenze geschoben, Ludendorff verdient so viel wie ein Kinoschauspieler, Tirpitz weilt im Hochgebirge zur Jagd, Karlchen Helfferich läßt in einem bequemen Lederfauteuil des Reichstags die Sonne durch seine abstehenden Ohren scheinen – sie leben alle, alle noch! Wer ist geschädigt, ruiniert, zerfranst, heruntergebracht, kaputtgeschlagen?

Du.

Und du hast nur einen Wunsch, nur einen. Deine Lust zum Steuerzahlen wächst täglich. Mit offenen Händen bringst du dem Staat das Deine dar, deinen Lohn als Abzahlung für fremde Sünden. Aber größer als deine Freude an diesem Staatswesen ist dein Wunsch:

Einmal denen da alles zu vergelten, was sie angerichtet haben. An dir und am Lande. Alles? Es genügen dir und uns zehn Prozent.


  • · Ignaz Wrobel
    Freiheit, 06.10.1920.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 2, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 419-422.
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